Stephan Vogel

Dyskalkulie


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      Eine weitere Methode, die für die Zahlenforschung sehr interessante Resultate erbrachte (Cohen Kadosh et al. 2007), ist jene der transkraniellen Magnetstimulation (TMS). Hier werden mit Hilfe eines starken Magnetfeldes bestimmte (vorher mittels struktureller MRT individuell definierte) Hirnregionen stimuliert, was dazu führt, dass diese temporär „außer Gefecht“ gesetzt werden bzw. funktionell stillgelegt werden. Dies erlaubt es den Forschern, die Funktionsfähigkeit des restlichen Gehirns im Hinblick auf die interessierenden Fragestellungen zu erfassen.

      Abb. 1.9: Neuronale Korrelate der Zahlenverarbeitung und des Rechnens (modifiziert nach Dehaene / Cohen 1995)

      Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels beschrieben, betonen schon die frühen klinisch-neurologischen Fallberichte einen Zusammenhang zwischen erworbenen Rechenstörungen und linken posterioren (hinteren) Hirnregionen (z. B. Henschen 1919; Lewandowsky / Stadelmann 1908). Unter Verwendung bildgebender Verfahren wie der fMRT konnte man diese relativ grobe Lokalisation von Rechenleistung zu posterioren Hirnregionen noch verfeinern. In der aktuellen numerischen Kognitionsliteratur herrscht Übereinstimmung dahingehend, dass gute Rechenleistungen von der Intaktheit des Parietallappens abhängen (Überblick bei Kaufmann / Nuerk 2007 und Vogel / Ansari 2012).

      anatomisch-funktionelles Rechenmodell

      Das wohl einflussreichste anatomisch-funktionelle Rechenmodell ist dasjenige von Dehaene und Cohen (1995), das auf dem ebenfalls von Dehaene erstmals im Jahre 1992 postulierten rein funktionellen Triple-Code-Modell beruht (s. Abb. 1.2). Basierend auf einer Vielzahl von Patientenstudien und den ersten Ergebnissen der bildgebenden Verfahren macht das anatomisch-funktionelle Rechenmodell folgende Vorhersagen hinsichtlich der Lokalisation der im Triple-Code spezifizierten Module (s. Abb. 1.9):

      (a) Das neuronale Korrelat der analogen Größenrepräsentation ist der intraparietale Sulcus (IPS) (mit Sitz im Parietallappen);

      (b) die verbal-phonologische Zahlenform bzw. die diesem Modul zugeordneten Funktionen wie Zählen und arithmetischer Faktenabruf werden durch Hirnregionen moduliert, die auch für Sprachfunktionen wichtig sind (nämlich die sogenannte perisylvische Furche), und zudem von subkortikalen Hirnregionen wie den Basalganglien;

      (c) die visuell-arabische Zahlenform und die diesem Modul zuordbaren Funktionen wie schriftliches Rechnen werden unterstützt durch okzipitale Hirnregionen (das sind Regionen im Hinterhauptslappen; überlappende Hirnareale sind auch beim Lesen von Wörtern und Buchstaben relevant und demgemäß als „visuelles Wortformareal“ bekannt).

      Weiterhin postuliert dieses Modell, dass komplexe Rechenleistungen zusätzlich von der Intaktheit frontaler Hirnregionen (Stirnhirn) abhängen, weil diese oft hohe Anforderungen an das dort lokalisierte Arbeitsgedächtnis stellen (Dehaene / Cohen 1995). Das Arbeitsgedächtnis ist besonders bei mehrstufigen Aufgabenlösungen relevant, die das kurzfristige Erinnern von Zwischenergebnissen (während man simultan andere Bearbeitungsschritte ausführt) oder das Überwachen einer Lösungsprozedur (Monitoring) erfordern (Baddeley 1986; 2000).

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      parietale Netzwerke

      Im Hinblick auf die semantische (analoge) Größenrepräsentation nehmen Dehaene und Mitarbeiter (2003) eine weitere Differenzierung vor und postulieren die Existenz von „drei parietalen Netzwerken“, die in benachbarten und teils überlappenden Regionen des IPS lokalisiert sind (s. Abb. 1.10). Gemäß den Autoren ist das neuronale Korrelat der Mengenverarbeitung im engeren Sinn das horizontale Segment des IPS (HIPS); die räumliche Orientierung auf dem mentalen Zahlenstrahl wird durch den posterioren superioren Parietallappen (PSPL) moduliert; und verbal-phonologisches rechnerisches Wissen wie beispielsweise die Repräsentation von überlerntem und automatisiertem Faktenwissen ist im Gyrus angularis anzusiedeln (s. Abb. 1.10). Während letzteres Modul nur in der linken Hirnhälfte vorfindbar ist (da verbale Verarbeitungsmechanismen gewöhnlich linkshemisphärisch organisiert sind), sind die beiden ersteren von Dehaene und Kollegen (2003) postulierten parietalen Netzwerke in beiden Hirnhälften angelegt.

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      Cohen Kadosh und Mitarbeiter (2007) berichten, dass gute Rechner nach Applikation von TMS (transkranieller Magnetstimulation, die dazu führt, dass die entsprechende Hirnregion vorübergehend dysfunktional bzw. stillgelegt ist) im IPS Defizite hinsichtlich der automatischen Aktivierung der Zahlengröße zeigten. Die Autoren verwendeten die weiter oben beschriebene physische Stroop-Aufgabe (s. Abschnitt 1.5.1) bei der die Probanden zwei Zahlen hinsichtlich ihrer Schriftgröße vergleichen sollen. Vor TMS-Applikation konnten die Probanden bei physisch und numerisch kongruenten Zahlenpaaren (z. B. 8 3) schneller die physisch größere Zahl auswählen als bei numerisch neutralen Zahlenpaaren (z. B. 8 8), d. h. sie aktivierten die aufgabenirrelevante numerische Größe der Zahlen automatisch. Unmittelbar nach TMS-Applikation konnten dieselben Personen diesen Zahlen-Größen-Interferenzeffekt allerdings nicht mehr generieren. Cohen Kadosh und Kollegen (2007) interpretieren diese Ergebnisse dahingehend, dass die Stilllegung des IPS dazu führt, dass die Probanden keinen Zugriff mehr auf die numerisch-semantische Größenrepräsentation haben oder andersherum, dass ein dysfunktionaler IPS Probleme in der Zahlenverarbeitung evozieren kann.

      ATOM-Hypothese

      Hervorzuheben ist, dass der Parietallappen nicht ausschließlich für die Zahlenverarbeitung und das Rechnen zuständig ist. Vielmehr handelt es sich hier um eine wichtige Hirnregion für viele nichtnumerische Funktionen wie räumliche Fähigkeiten, Aufmerksamkeit etc. (Hubbard et al. 2005; Simon et al. 2002). Im Jahre 2003 erschien eine sehr einflussreiche Arbeit von Vincent Walsh, in der der Autor die ATOM-Hypothese („A theory of magnitude“) formuliert. Diese Hypothese besagt, dass der Parietallappen nicht zahlenspezifisch ist, sondern dass Zahlenverarbeitung nur ein Aspekt einer umfassenderen Größenrepräsentation im Parietallappen ist, die zusätzlich zur numerischen Größe auch räumliche und zeitliche Größe inkludiert. Seit Walshs Publikation gibt es nun etliche empirische Befunde, die für die Gültigkeit der ATOM-Hypothese sprechen. Dazu gehört auch die in Abschnitt 1.5.1 „Semantische (Zahlen-)Größenrepräsentation und die Metapher des mentalen Zahlenstrahls“ dargestellte Arbeit von Cohen Kadosh und Mitarbeitern (2005): Sie zeigt, dass der Distanzeffekt nicht nur beim Zahlenvergleich, sondern auch beim Vergleich physischer (räumlicher) Größen sowie beim Vergleich von Helligkeiten (Luminosität ist ebenfalls eine physikalische Größe) zutage tritt (s. a. Abb. 1.6).

      Ergebnisse bei Kindern

      Die bisher vorliegenden Ergebnisse von bildgebenden Studien bei Kindern sind spärlich und kontrovers, was teilweise durch methodische Unterschiede im Untersuchungsdesign erklärbar ist (Kaufmann / Nuerk 2007). Während einige Arbeitsgruppen vergleichbare Aktivierungen bei Kindern und Erwachsenen beim Lösen von numerischen oder rechnerischen Aufgaben berichten (Cantlon et al. 2006; Kucian et al. 2005; Temple / Posner 1998), zeigen andere Studien, dass die Stärke der zahlenspezifischen Aktivierungen im Parietallappen mit dem Alter zunimmt (also bei Kindern weniger ausgeprägt ist als bei Erwachsenen; Ansari et al. 2005; Ansari / Dhital 2006; Holloway / Ansari 2010; Kaufmann et al. 2006; Vogel et al. 2015). Des Weiteren belegen etliche Befunde eine linkshemisphärische Spezialisierung im Entwicklungsverlauf, besonders für die Repräsentation von Zahlensymbolen wie arabischen Zahlen (Bugden et al. 2012; Emerson / Canton 2014; Vogel et al. 2015). So konnten etwa