Stephan Vogel

Dyskalkulie


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Zahlenrepräsentationen und deren Interaktion mit der räumlichen Kognition geleistet.

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      Abb. 1.7: Der SNARC-Effekt (modifiziert nach Nuerk et al. 2005)

      Dehaene und Mitarbeiter (1990) postulieren, dass mehrstellige Zahlen als numerische Einheit, also holistisch verarbeitet werden. Gegen diese Annahme sprechen allerdings aktuelle empirische Befunde, die belegen, dass die einzelnen Ziffern in einer mehrstelligen Zahl separat verarbeitet werden. Nuerk und Mitautoren (2001) konnten zeigen, dass gesunde Probanden beim Größenvergleich zweistelliger Zahlen schneller waren, wenn sowohl die Einer- als auch Zehnerstellen zum gleichen Entscheidungsprozess führten. Beim Zahlenpaar 58 versus 32 ist dies der Fall, da sowohl die Einer (8 vs. 5) als auch die Zehner (5 vs. 3) jedes Mal bei derselben Zahl numerisch größer sind und die Größenvergleiche der Zehner und der Einer somit in die gleiche Richtung gehen, also miteinander kompatibel sind. Hatten die Probanden jedoch zu entscheiden, welche Zahl beim Zahlenpaar 85 versus 37 größer ist, so waren die Bearbeitungszeiten wesentlich langsamer und die Fehlerraten höher, da bei diesem Zahlenpaar die Größenentscheidung der Einer und Zehner in unterschiedliche Richtungen gehen (Zehner: 8 > 3; Einer: 5 < 7) und somit inkompatibel sind. Nuerk und Kollegen (2001) prägen für diesen Reaktionszeiteffekt den Begriff „Kompatibilitätseffekt“ und interpretieren die Ergebnisse als Beleg für die separate Verarbeitung mehrstelliger arabischer Zahlen (s. Abb. 1.5b). Wenn zweistellige Zahlen tatsächlich holistisch verarbeitet werden (wie von Dehaene et al. 1990 postuliert), dann sollten die Reaktionszeiten unabhängig von der Kongruenz der Einer- und Zehnerstellen sein. Dies ist jedoch nicht der Fall.

      Der Kompatibilitätseffekt konnte sowohl für deutsch- als auch für englischsprachige Stichproben gezeigt werden, d. h. er ist unabhängig von der Irregularität der zweistelligen Zahlwörter im Deutschen. Zudem tritt er sowohl bei arabischen Zahlen als auch bei Zahlwörtern auf und ist also unabhängig vom Zahlenformat (Nuerk / Willmes 2005).

      Basisnumerische Verarbeitung ist automatisch und oft nicht intentional

      Zahlen-Größen-Interferenz

      numerischer Stroop

      Generell fällt es geübten Rechnern schwer, den mit der entsprechenden arabischen Zahl assoziierten numerischen Wert zu unterdrücken. Zahlreiche experimentelle Untersuchungen zeigen, dass der numerische Wert einer Zahl auch dann automatisch aktiviert wird, wenn er für die Lösung einer Aufgabe irrelevant oder sogar hinderlich ist. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Probanden die Schriftgröße zweier (einstelliger) Zahlen beurteilen sollen und die Aufgabe darin besteht, die physisch größere Zahl mittels Tastendruck auszuwählen. Die Entscheidung ist schwieriger (reflektiert in längeren Reaktionszeiten und höherer Fehleranzahl), wenn die zwei präsentierten Ziffern hinsichtlich ihrer numerischen und physischen Größe inkongruent sind (6 3). Die Entscheidungsfindung ist demgegenüber leichter (ersichtlich aus schnelleren Bearbeitungszeiten und geringeren Fehlerraten), wenn die zu vergleichenden Zahlenpaare hinsichtlich ihrer numerischen und physischen Größe kongruent sind (6 3) oder wenn die beiden Zahlen hinsichtlich ihres numerischen Wertes neutral sind (3 3). Diese Aufgabe ist auch als Zahlen-Größen-Interferenzaufgabe bzw. numerische Stroop-Aufgabe bekannt.

      Größenkongruenzeffekt

      Der entsprechende Reaktionszeiteffekt (schnellere Bearbeitungszeit bei kongruenten oder neutralen relativ zu inkongruenten Zahlenpaaren) wird dementsprechend Größenkongruenzeffekt genannt.

      Zusammenfassung

      Die Metapher des mentalen Zahlenstrahls besagt, dass die mentalen Repräsentationen von Zahlen und Mengen analog und räumlich (von links nach rechts) orientiert sind. Befunde zu Distanzeffekt und SNARC-Effekt unterstützen die Annahme der räumlichen Orientierung der Zahlen am mentalen Zahlenstrahl. Der Kompatibilitätseffekt zeigt, dass der Zugriff auf die semantische Größenrepräsentation bzw. Numerosität bei zweistelligen Zahlen nicht holistisch erfolgt, sondern separat für die Einer und Zehner. Die Aktivierung der Numerosität kann auch automatisch erfolgen: Beim physischen Zahlenvergleich kann die aufgabenirrelevante numerische Größe zu Interferenzeffekten führen.

      1.5.2 Rechenfertigkeiten

      assoziative Netzwerke

      Wie bereits erwähnt, versteht man unter arithmetischen Fakten einfache Rechnungen mit einstelligen Operanden (z. B. 4 + 2; 4 – 2; 4 x 2). Arithmetisches Faktenwissen wird direkt aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen. Es herrscht weitgehend Übereinstimmung, dass die arithmetischen Fakten in Form von assoziativen Netzwerken organisiert sind (Ashcraft 1995). Dabei wird ein arithmetisches Problem (3 x 5) durch wiederholte Präsentation bzw. wiederholtes Üben mit der entsprechenden Antwort (15) assoziativ verknüpft. Über die Erwerbsprozesse und Schwierigkeiten beim Enkodieren oder Abruf arithmetischer Fakten wird in den Kapiteln 2 und 3 ausführlicher berichtet. An dieser Stelle soll die Organisation des Faktenwissens bei Erwachsenen erläutert werden. Besonders hervorzuheben ist, dass auch Erwachsene ohne Rechenstörung eine Vielzahl von Strategien beim Lösen einfacher arithmetischer Multiplikations- und Additionsfakten anwenden und bei weitem nicht alle als arithmetische Fakten gespeichert haben (z. B. LeFevre et al. 1996).

      Multiplikationsfakten

      Die klassische Form des numerischen Faktenwissens ist das kleine Einmaleins. McCloskey (1992) postuliert hier drei verschiedene Arten von Multiplikationsfakten.

      (1) Regelbasierte Fakten, das sind Aufgaben, die eine 0 oder eine 1 beinhalten. Bei dieser Aufgabenart muss man nur eine Aufgabe verstanden haben, um alle Aufgaben dieser Art zu lösen. Wenn ich weiß, dass „3 x 0 = 0“ ist, dann kann ich diese Regel (nämlich n x 0 = 0 bzw. n x 1 = n) auf alle anderen Aufgaben anwenden, die eine 0 bzw. eine 1 beinhalten.

      (2) Sogenannte „ties“, das sind alle Multiplikationen, bei denen die beiden Operanden identisch sind (z. B. 3 x 3; 9 x 9). Empirische Befunde zeigen, dass diese Fakten besonders gut abgespeichert und besonders schnell abrufbar sind (s. McCloskey 1992; LeFevre et al. 1996).

      (3) Bei allen übrigen Multiplikationsfakten muss jede einzelne Rechnung assoziativ erlernt und abgerufen werden.

      Tafelsuchmodell

      Das sogenannte Tafelsuchmodell ist eine grafische Darstellung dieser assoziativen Netzwerkmodelle, anhand derer die mentale Organisation der arithmetischen Fakten sowie bestimmte Reaktionszeitphänomene und Fehlertypen beim Faktenabruf veranschaulicht werden können (Ashcraft 1995; s. Abb. 1.8).

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