ermöglicht den Zahlenvergleich, wobei numerisch weiter entfernte Zahlen (z. B. 2 vs. 6) leichter zu unterscheiden sind als numerisch benachbarte Zahlen (z. B. 2 vs. 3). Die Vorstellung der räumlichen Anordnung von Zahlen auf einer Linie basiert auf zwei wiederholt replizierten Befunden zur Verarbeitung von Zahlen, nämlich dem Distanzeffekt einerseits und dem SNARC-Effekt („spatial numerical association of response codes“ bzw. auf gut deutsch: räumlich-numerische Assoziation des Antwortcodes) andererseits.
Distanzeffekt
Der Distanzeffekt kann berechnet werden, wenn ein Proband möglichst schnell entscheiden soll, welche von zwei gleichzeitig präsentierten Zahlen die größere ist. Dabei zeigt sich, dass die Reaktionszeit systematisch sinkt, je größer die numerische Distanz zwischen den beiden Zahlen ist. Es besteht also ein negativer Zusammenhang zwischen Reaktionszeit und numerischer Distanz der zu vergleichenden Zahlen (s. Abb. 1.4a). Anders formuliert: Probanden klassifizieren numerisch benachbarte Zahlen (2 vs. 3) langsamer als numerisch weiter voneinander entfernte (2 vs. 8; Moyer / Landauer 1967). Wie aus Abbildung 1.4b ersichtlich, gilt dies auch für zweistellige Zahlen. Ein von Henik und Tzelgov (1982) postulierter und in der Folgezeit weithin etablierter plausibler Erklärungsansatz für den Distanzeffekt ist, dass relativ zu weiter entfernten Zahlen die internen semantischen Größenrepräsentationen von benachbarten Zahlen auf dem Zahlenstrahl eher überlappen und somit beim Abruf miteinander in Konkurrenz treten (interferieren).
Abb. 1.4a: Distanzeffekt bei einstelligen Zahlen (aufgrund der gewöhnlich hohen Bearbeitungsgenauigkeit wird der Distanzeffekt beim einstelligen Zahlenvergleich primär in der Bearbeitungsgeschwindigkeit ersichtlich)
b: Distanzeffekt bei zweistelligen Zahlen (modifiziert nach Dehaene et al. 1990)
logarithmische Charakteristik
Dehaene und Kollegen gehen davon aus, dass die Zahlen am Zahlenstrahl logarithmisch komprimiert sind. Logarithmisch bedeutet, dass trotz gleichbleibenden numerischen Abstands mit zunehmender Zahlengröße der subjektive Abstand zwischen zwei Zahlen abnimmt (Dehaene et al. 1990). So erscheint beispielsweise der Abstand zwischen den Zahlen 3 und 8 subjektiv größer als jener zwischen 53 und 58, obwohl die tatsächliche numerische Differenz bei beiden Zahlenpaaren gleich ist (s. Abb. 1.5a).
Dies entspricht dem sogenannten Weber’schen Gesetz für unsere Wahrnehmung, welches besagt, dass sich die subjektive Stärke von Sinneseindrücken logarithmisch zur objektiven Intensität des physikalischen Reizes verhält. Interessanterweise verarbeiten wir numerische Größe also ebenso wie physikalische Größen (z. B. Helligkeit, Lautstärke; s. Abb. 1.6). Durch die logarithmische Charakteristik des Zahlenstrahls ist es auch erklärbar, dass kleine relativ zu großen Numerositäten / Zahlen mit größerer Exaktheit bearbeitet werden können.
Abb. 1.5 a, b: Schematische Darstellung des mentalen Zahlenstrahls. Der obere Teil der Abbildung (Abb. 1.5 a) entspricht der holistischen Modellvorstellung der Zahlenverarbeitung (Dehaene et al. 1990). Eine alternative Modellvorstellung besagt, dass die Einer und Zehner bei zweistelligen Zahlen separat verarbeitet werden (Abb. 1.5 b, Nuerk et al. 2001; wir danken Hans-Christoph Nuerk für diese Abbildung)
Abb. 1.6: Distanzeffekt bei numerischen und nichtnumerischen Größen (Cohen Kadosh et al. 2005)
Der Zahlenstrahl bei Neglektpatienten
Die Hypothese der räumlichen Orientierung der Zahlen am Zahlenstrahl wird auch durch aktuelle Untersuchungen von Neglektpatienten unterstützt. Neglekt ist eine neurologische, meist temporäre, Störung, die nach (rechtshirnigen) parietalen Schädigungen auftritt und mit einer Vernachlässigung der linken Raum- und / oder Körperhälfte einhergeht (bei intakter Sehleistung). Das äußert sich beispielsweise beim Lesen und Schreiben sowie bei Alltagsaktivitäten wie dem Essen und der Körperpflege.
Ein klassisches in der Neglektdiagnostik verwendetes Verfahren sind Linienbisektionsaufgaben: Hier sollen die Patienten jeweils die Mitte von horizontal präsentierten Linien markieren. Ein systematischer Fehler von Neglektpatienten ist die Verschiebung dieser Mitte nach rechts, da sie die linke Raumhälfte – also auch die linke Seite der zu halbierenden Linie – nicht wahrnehmen. In einer viel beachteten Arbeit berichten Zorzi und Mitarbeiter (2002), dass Neglektpatienten auch bei einer verbalen Zahlenbisektionsaufgabe („Welche Zahl liegt genau zwischen 2 und 6?“) systematische Fehler unterlaufen, die analog zu den Fehlern bei der Linienbisektionsaufgabe sind: Neglektpatienten ignorieren die linke Seite des mentalen Zahlenstrahls und behaupten beispielsweise, dass 5 die numerische Mitte von 2 und 6 sei. Diese Arbeiten unterstützen eindrücklich die Hypothese, dass der mentale Zahlenstrahl räumlich (von links nach rechts) orientiert ist.
SNARC-Effekt
Ein Reaktionszeiteffekt, der die Hypothese der räumlichen Orientierung des Zahlenstrahls stützt, ist der SNARC (spatial numerical association of response codes)-Effekt. Die dem SNARC-Effekt zugrunde liegende klassische experimentelle Aufgabe ist eine Paritäts-Entscheidung: Die Probanden sehen jeweils eine (meist einstellige) arabische Zahl und sollen entscheiden, ob diese gerade oder ungerade ist. Das heißt, die numerische Größe ist bei dieser Aufgabe irrelevant. Wichtig ist, dass in der ersten Hälfte des Experiments die rechte Hand der Reaktionstaste „gerade“ zugeordnet ist und die linke Hand der Reaktionstaste „ungerade“, dass in der zweiten Hälfte des Experiments die Zuordnung aber vertauscht wird. Ein typisches und in der Zwischenzeit vielfach repliziertes Antwortmuster ist, dass numerisch kleine Zahlen schneller mit der linken Hand und numerisch große Zahlen schneller mit der rechten Hand beantwortet werden (Dehaene et al. 1993; Gevers et al. 2005; Nuerk et al. 2005). Die Erklärung für diesen Befund ist, dass kleine Zahlen auf unserem mentalen Zahlenstrahl eher links angeordnet sind, so dass die räumlich nähere Hand hier schneller reagieren kann als bei großen Zahlen, die sich räumlich auf dem Zahlenstrahl näher an der rechten Hand befinden.
Reaktionszeitdifferenz
Grafisch wird dieser Effekt dargestellt durch eine Subtraktionsmethode, wobei die Reaktionszeiten der linken Hand von jenen der rechten Hand subtrahiert werden. Wie aus Abbildung 1.7 ersichtlich, ist diese Reaktionszeitdifferenz für kleine Zahlen positiv und für numerisch große Zahlen negativ, und zwar unabhängig vom Zahlenformat. Der SNARC-Effekt ist also evozierbar bei der Präsentation von arabischen Zahlen, gehörten und geschriebenen Zahlwörtern und sogar bei Punktmustern (Nuerk et al. 2005).
In einer aktuellen Meta-Analyse von 46 Studien zum SNARC-Effekt (die insgesamt 106 Experimente und 2.206 Probanden zwischen 9 und 66 Jahren inkludierte) konnten Wood und Kollegen (2008) zeigen, dass die Stärke des SNARC-Effekts mit dem Alter linear zunimmt. Effekte von Geschlecht und Händigkeit waren weniger stark ausgeprägt, aber tendenziell vorhanden: Männer und Rechtshänder zeigten stärkere SNARC-Effekte relativ zu Frauen und Linkshändern. Wood und Kollegen betonen jedoch, dass die Ergebnisse zwischen den Studien recht variabel waren und dass nicht alle Probanden einen SNARC-Effekt zeigten. Der SNARC-Effekt ist also kein besonders robuster Effekt. Trotzdem haben seine Entdeckung und die Vielzahl der Studien, die sich in der Folgezeit