Stephan Vogel

Dyskalkulie


Скачать книгу

auch die persönlichen Stärken und Ressourcen geeignet einbeziehen. Voraussetzung hierfür ist ein gutes und umfassendes Verständnis für die Bedingungsfaktoren der Dyskalkulie auf allen relevanten Ebenen (neurobiologisch, kognitiv, psychosozial und pädagogisch).

      Wir haben uns bemüht, die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die derzeit vorliegen, in diesem Buch zusammenzutragen. Trotz der wesentlichen Fortschritte im Erkenntnisstand zur Dyskalkulie müssen etliche Fragen derzeit noch unbeantwortet bleiben. Forschungslücken und Forschungsziele für die nähere Zukunft werden in diesem Buch ebenso aufgezeigt wie die erfreulichen Entwicklungen der letzten Jahre. Insgesamt wird eine Verbesserung der Situation von Kindern und auch Erwachsenen mit Dyskalkulie nur interdisziplinär und durch eine enge Verzahnung von Forschung und Praxis zu erreichen sein. Wir möchten mit diesem Buch einen Beitrag zu diesem Prozess leisten.

      Abschließend möchten wir uns beim Ernst Reinhardt Verlag, insbesondere bei Frau Dipl. Psych. Ulrike Landersdorfer für die kompetente Betreuung und umsichtige Unterstützung bedanken. Ein herzliches Dankeschön auch an Herrn Stephan Vogel für die grafische Aufbereitung der in diesem Buch gezeigten Abbildungen, sowie Sarah Neuburger, Patrick Schleifer und Ariane Wruk für die sorgfältige und umsichtige Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts.

Juni 2008Karin Landerl Liane Kaufmann

      1 Zahlenverarbeitung und Rechnen bei Erwachsenen

      1.1 Einleitung

      Gute Rechenfertigkeiten sind in unserer Gesellschaft mindestens ebenso wichtig wie gute Lesefertigkeiten. Diese Aussage gilt nicht nur für die Schulzeit, sondern auch für das Berufsleben. Wer gravierende Schwierigkeiten beim Rechnen hat, ist sowohl im Alltag (beim Einkaufen, Einparken: Schätzen, ob die Parklücke groß genug für das Auto ist, etc.) als auch in der Berufswahl erheblich eingeschränkt. Personen, die Schwierigkeiten beim Kopfrechnen haben oder solche, denen beim Lesen und Schreiben arabischer Zahlen leicht Fehler passieren, werden den Anforderungen von Berufen, die den Umgang mit (Wechsel-)Geld erfordern, nicht entsprechen können (z. B. Kassierer, Verkäufer, Bankangestellte). Auch die meisten naturwissenschaftlichen Professionen sind mathematiklastig (z. B. Physik, [Bio-]Chemie) und werden von Menschen mit Rechenschwierigkeiten meist vermieden.

      Rechnen ist eine neurokognitiv hochkomplexe Leistung. Bereits intuitiv ist uns klar, dass wir die einfache Rechnung „2 + 6“ anders lösen als die komplexe Rechnung „23233 x 72“. Bei Textaufgaben besteht das Problem oft nicht in der eigentlichen Ausführung der geforderten Rechenleistung, sondern in der Entwicklung des korrekten Lösungsweges. Rechnen setzt voraus, dass wir mit Zahlen kompetent umgehen können. Eine wesentliche Erkenntnis der neurokognitiven Forschung ist, dass schon die einfache Verarbeitung von Zahlen in eine ganze Reihe von Teilkomponenten zerfällt, die im Einzelfall sehr spezifisch gestört sein können.

images

      Der Begriff numerische Kognition umfasst all jene Denkprozesse, die mit dem Verstehen und Verarbeiten von Zahlen (gesprochene Zahlwörter, geschriebene arabische Zahlen) sowie mit dem Ausführen von Rechenoperationen (mental im Sinne von Kopfrechnungen oder beim schriftlichen Rechnen) zu tun haben. Die numerische Kognition unterscheidet sich von anderen Domänen der Kognition in vielerlei Hinsicht. Noël (2000) hebt hier vor allem drei Aspekte der Zahlenverarbeitung hervor:

      (a) Zahlen stellen einen besonderen Aspekt der Realität dar (es geht um Größe bzw. Mächtigkeit);

      (b) Zahlen sind Objekte spezifischer Denkprozesse, wie z. B. Rechnen, Größenvergleich, Paritätsbeurteilung; und

      (c) Zahlen können in verschiedenen Formaten repräsentiert werden, nämlich als arabische Zahlen (Ziffernfolgen, wie z. B. 37), geschriebene Zahlwörter (Buchstabenfolgen, wie z. B. siebenunddreißig), gesprochene Zahlwörter (phonologische Sequenzen, wie z. B. „sieben und dreißig“), römische Zahlen (z. B. XXXVII) etc.

images

      Teilkomponenten des Rechnens

      Während sich die Forschung erst in jüngerer Zeit mit der typischen und atypischen Entwicklung der Zahlenverarbeitung und Rechenleistungen beschäftigt, gibt es eine lange und reiche Tradition der wissenschaftlichen Untersuchung der Teilkomponenten des Rechnens bei Erwachsenen. Ausgangspunkt dieser Forschungstradition war die detaillierte neuropsychologische Beschreibung von erworbenen Rechenstörungen, also Ausfällen der Rechenleistungen als Folge einer Hirnschädigung, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ermöglichten insbesondere die detailreichen Methoden der Kognitionspsychologie zunehmend die Untersuchung der numerischen Kognition bei kompetenten Erwachsenen. Auf dieser Forschungsrichtung basieren die wesentlichen neurokognitiven Modelle der Zahlenverarbeitung und des Rechnens, mit denen wir heute arbeiten.

      Einen weiteren wesentlichen Entwicklungsschub erfuhr die Untersuchung der Rechenleistungen durch die modernen Techniken der Neurowissenschaften, die durch diverse bildgebende Verfahren die Erforschung der Gehirnaktivität bei kompetenten Rechnern ermöglichen. Wesentliche Erkenntnisse dieser reichen Forschungstradition sind die Identifikation einer ganzen Reihe von Teilkomponenten der Zahlenverarbeitung und der arithmetischen Leistungen bei Erwachsenen, die zum Teil erstaunlich unabhängig voneinander funktionieren und auch sehr spezifisch gestört sein können. Diese Erkenntnisse stellen eine wichtige Grundlage für die Erstellung von Modellen der typischen und atypischen Entwicklung der Rechenleistungen dar, daher sollen sie in diesem Kapitel detailliert erläutert werden.

      entwicklungsbedingt vs. erworben

      Probleme mit der Zahlenverarbeitung und / oder dem Rechnen treten nicht nur bei Kindern in Form von entwicklungsbedingten Rechenstörungen (bzw. Dyskalkulie) auf. Auch Erwachsene mit vormals guten arithmetischen Fertigkeiten können im Zuge einer neurologischen Erkrankung (also einer erworbenen Hirnschädigung infolge eines Hirntumors, Schlaganfalls oder Schädel-Hirn-Traumas) spezifische Defizite beim Rechnen „erwerben“ (für eine Übersicht siehe z. B. Cipolotti und van Harskamp 2001; Dehaene 1999). Im Gegensatz zu den entwicklungsbedingten Rechenstörungen spricht man in diesem Zusammenhang von sogenannten erworbenen Rechenstörungen.

      Akalkulie

      Die ersten detaillierten und systematischen Fallberichte von Patienten mit erworbenen Rechenstörungen wurden 1919 von Henschen veröffentlicht, der auch den Begriff „Akalkulie“ einführte. Henschen konnte zeigen, dass Akalkulie sehr unterschiedliche Erscheinungsformen haben kann. Sie kann sowohl isoliert auftreten (also als einziges Symptom nach einer Hirnschädigung) als auch mit anderen Störungen wie Aphasie (erworbene Sprachstörung), Alexie (erworbene Lesestörung) oder Agraphie (erworbene Schreibstörung) einhergehen. Besonders hervorzuheben ist, dass die Arbeit von Henschen auch der erste Bericht einer spezifischen Beeinträchtigung des Erkennens und Lesens arabischer Zahlen ist, die unabhängig vom Ausführen von Rechenoperationen auftreten kann.

      primär vs. sekundär

      Bereits vor Henschens einflussreicher Publikation wurde in der neurologischen Fachliteratur darauf hingewiesen, dass strukturelle Hirnschädigungen Rechenstörungen bedingen können (z. B. Lewandowsky / Stadelmann 1908; Peritz 1918; Sittig 1917). Diese frühen Berichte waren jedoch meist auf die Beschreibung von Patienten mit Sprachstörungen (Aphasie) beschränkt, die zusätzlich auch Probleme beim Lesen und / oder Schreiben arabischer Zahlen oder beim Rechnen zeigten. Diese Form der erworbenen Rechenstörung, die mit anderen funktionellen Störungen wie Aphasie assoziiert ist, wurde von Berger (1926) als „sekundäre“ Akalkulie bezeichnet und folgegemäß von der „primären“ Akalkulie differenziert, die sich isoliert – also unabhängig von anderen kognitiven Defiziten – manifestiert. Berger war es auch, der erstmals berichtete, dass die Rechenfehler von Patienten mit erworbenen Hirnschädigungen nicht alle Rechenoperationen gleichermaßen betreffen müssen, sondern dass spezifische Rechenoperationen selektiv gestört sein können: So kann beispielsweise Multiplikationswissen besser erhalten sein als Subtraktionswissen. Vor allem Schädigungen der linken hinteren (posterioren) Hirnabschnitte,