Bereits vor mehr als einem Jahrhundert tauchten in der Medizin erste Fallbeschreibungen von Kindern mit offenkundig guter Allgemeinbegabung auf, die unerwartet große Probleme im Erwerb des Lesens zeigten. Insbesondere seit sich die kognitionspsychologische und psycholinguistische Forschung in den 1970er Jahren des Themas annahmen, gibt es eine Vielzahl von relevanten empirischen Befunden. Es gibt inzwischen regelmäßige internationale Tagungen, auf denen diese Befunde diskutiert werden, und eigene Fachzeitschriften, in denen nur einschlägige Beiträge zum Thema publiziert werden. In enger Kooperation mit Elternorganisationen und Praktikern, die mit betroffenen Kindern arbeiten, konnte die Situation für Personen mit Legasthenie deutlich verbessert werden: Heute ist es möglich, Risikokinder für Legasthenie zu identifizieren, bevor noch der schulische Unterricht einsetzt. Diese Früherkennung ermöglicht die spielerische Anregung von Vorläuferfertigkeiten im Rahmen von Kindergarten- und Vorschulprogrammen sowie die adäquate Unterstützung des schulischen Schriftspracherwerbs. Besonders im Grundschulbereich wissen mehr und mehr Lehrerinnen und Lehrer Bescheid über die Symptome und Ursachen der Legasthenie, und in vielen (wenn auch bei weitem nicht allen) Bundesländern ist eine schulrechtliche Anerkennung und Berücksichtigung eine Selbstverständlichkeit.
Ein Indikator für die hohe Akzeptanz dieses Phänomens in der Öffentlichkeit ist, dass heutzutage Personen des öffentlichen Lebens und „Promis“ kein Problem damit haben, sich zu ihrer Legasthenie zu bekennen und damit für andere Betroffene deutlich zu machen, dass eine erfolgreiche Laufbahn trotz dieser Schwierigkeiten möglich ist. Prominente mit Dyskalkulie sind demgegenüber bis dato nicht bekannt. Das kann kaum daran liegen, dass es sie nicht gibt, schließlich zeigen aktuelle Prävalenzstudien, dass die Vorkommenshäufigkeit der beiden Lernstörungen sehr ähnlich ist. Eine schulrechtliche Anerkennung der Dyskalkulie gibt es bisher in keinem einzigen deutschen Bundesland.
Die Gründe für diese Diskrepanz sind unklar. Zum einen gelten massive Schwierigkeiten im Rechnen nach wie vor als Indikator für eine allgemein schwache Begabung, so dass manche Kinder mit einer spezifischen Rechenstörung möglicherweise bis heute sonderpädagogischen Maßnahmen zugeführt werden, die für Kinder mit allgemeiner Lernschwäche gedacht sind. Zum anderen werden bestimmte Symptome, von denen wir bereits wissen, dass sie mit Dyskalkulie assoziiert sind, nach wie vor als Folge einer Legasthenie interpretiert.
Ein klassisches Beispiel sind hier etwa Zahlendreher (63 gelesen als 36), die im Kontext einer veralteten Theorie (Orton 1937) fälschlicherweise als ein legasthenietypisches Symptom interpretiert wurden – teilweise hält dieses Missverständnis bis heute an. Da die beiden Lernstörungen auch häufig in Kombination auftreten, ist es tatsächlich nicht einfach, hier eine präzise Unterscheidung zu treffen.
Aber gerade in den letzten Jahren verändert sich die Situation deutlich. Vielen Lehrerinnen und Lehrern fallen im alltäglichen Unterricht Kinder auf, die trotz guter allgemeiner Begabung und trotz adäquater Entwicklung der schriftsprachlichen Leistungen im Umgang mit Zahlen und Mengen und mit den einfachsten Rechenleistungen große Probleme haben. Ein wichtiger Schritt in der öffentlichen Anerkennung des Phänomens Dyskalkulie ist, dass als international erste Elternvereinigung der deutsche Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie e. V., der historisch die Interessen legasthener Kinder vertrat, sich offiziell auch der Rechenstörung annahm und dies auch in einer Namensänderung deutlich machte.
Die wissenschaftliche Untersuchung des Phänomens Dyskalkulie nimmt in vielen Dingen einen vergleichbaren Verlauf wie die Legasthenieforschung, was angesichts der großen Erfolge in diesem Bereich sicherlich positiv zu bewerten ist. Auch in der Legasthenieforschung half die neuropsychologische Untersuchung von spezifischen Ausfällen der Leseleistungen bei Erwachsenen aufgrund von Schädel-Hirn Verletzungen, den komplexen Leseprozess in Teilkomponenten zu zerlegen. Die neuropsychologischen und neurokognitiven Modelle der Leseverarbeitung bei Erwachsenen dienten in weiterer Folge als wesentlicher Ausgangspunkt für die Untersuchung der Entwicklung des Lesens im Kindesalter. Im Rückblick betrachtet zeigte sich relativ rasch, dass sich die Teilkomponenten des Lesesystems im Entwicklungsverlauf in engem Zusammenhang miteinander ausdifferenzieren. Demgemäß sind auch die spezifischen Ausfälle, die bei erworbenen Lesestörungen beobachtet werden konnten, bei Kindern nur in Ausnahmefällen zu finden. Nichtsdestotrotz ermöglichte diese Herangehensweise eine wesentlich detailliertere Untersuchung der typischen und atypischen Entwicklung des Lesens und Rechtschreibens, die in differenzierten diagnostischen Verfahren und spezifisch auf die Schwierigkeiten des einzelnen Kindes abgestimmten Komponenten für Intervention und Förderung resultierten.
Die kognitions- und neurowissenschaftliche Forschung zur Zahlenverarbeitung und zum Rechnen bei Erwachsenen hat in den letzten Jahren bereits zahlreiche spannende Befunde hervorgebracht. Diese Befunde basieren zum Teil auf Patienten mit erworbenen Dyskalkulien und zum Teil auf Studien mit bildgebenden Verfahren, die Auskunft über die Gehirnaktivität geben. Diese Befunde zeigen sehr deutlich auf, dass die einzelnen Teilkomponenten arithmetischer Leistungen bei Erwachsenen zum Teil erstaunlich unabhängig voneinander funktionieren und auch sehr spezifisch gestört sein können. Diese Befunde und die daraus resultierenden theoretischen Modelle werden im ersten Kapitel dieses Buches dargestellt, weil sie eine wesentliche Basis für das Verständnis der Entwicklung dieser Kompetenzen bei Kindern darstellen. Wir haben uns bemüht, die nicht ganz unkomplizierten Theorien und Modelle anhand anschaulicher Beispiele und Einzelfallvignetten möglichst zugänglich und nachvollziehbar darzustellen.
Die neurokognitive Herangehensweise an die hochkomplexen Rechenleistungen hat unser Verständnis für die Entwicklung numerischer Kompetenzen und der Rechenleistungen revolutioniert. Jean Piaget (1952; Piaget / Szeminska 1975), der Begründer der modernen Entwicklungspsychologie, ging noch vor nur wenigen Jahrzehnten davon aus, dass erst wesentliche allgemeine Schritte in der kognitiven Entwicklung geleistet sein müssten, bevor Kinder im Alter von etwa 6 bis 7 Jahren mit dem Übertritt in die Stufe des konkret operationalen Denkens in der Lage seien, numerische Konzepte zu erfassen. Demgegenüber zeigen uns die modernen Forschungsmethoden sehr deutlich auf, dass bereits Neugeborene über basale Kompetenzen in der Verarbeitung von Anzahlen verfügen, die vermutlich die Grundlage für alle weiteren Entwicklungsprozesse darstellen. Diese Befunde zur typischen Entwicklung der rechnerischen Leistungen sind Gegenstand des zweiten Kapitels dieses Buches.
Kapitel 3 trägt die in letzter Zeit deutlich zunehmenden empirischen Befunde zu Symptomen und Ursachen der Dyskalkulie zusammen. Inzwischen gibt es sehr deutliche Hinweise, dass es sich bei Dyskalkulie ebenso wie bei der Legasthenie um eine neurobiologische Störung handelt. Auch die kognitiven Mechanismen, die Rechenschwierigkeiten zugrunde liegen, werden zunehmend besser verstanden. Eine wesentliche Erkenntnis dieser Forschungsrichtung ist, dass Personen mit Dyskalkulie nicht nur mit Rechenprozessen an sich Probleme haben, sondern dass bereits die kognitive Verarbeitung von Zahlen und Anzahlen beeinträchtigt ist. Diese grundlegenden Probleme im Umgang mit Zahlen und Anzahlen potenzieren sich vermutlich, je komplexer die geforderte Rechenleistung ist.
Das vierte Kapitel gibt einen Überblick über aktuelle Verfahren zur Diagnose der Rechenleistungen und der Dyskalkulie. Besonders in diesem Bereich zeigt sich eine erfreuliche Entwicklung: Noch vor kurzem fehlten standardisierte Verfahren weitgehend, doch derzeit erscheint eine ganze Reihe von Tests, die sowohl die objektive Abklärung des schulischen Leistungsstandes ermöglichen als auch eine differenzierte Diagnose der Teilkomponenten der Zahlenverarbeitung und des Rechnens. Hier wird es in den nächsten Jahren wichtig sein, Erfahrungen zu sammeln, wie gut die einzelnen Verfahren für den konkreten Einsatz in der diagnostischen Praxis tatsächlich geeignet sind.
Das fünfte Kapitel ist mit Methoden der Förderung der Zahlenverarbeitung und der Rechenleistungen im schulischen Unterricht und in der Dyskalkulietherapie befasst. Auch hier gibt es vielversprechende Entwicklungen, wie etwa erste positiv evaluierte Kindergartenprogramme zur spielerischen Anregung zur Beschäftigung mit Zahlen und Mengen. Allerdings ist insgesamt festzustellen, dass wissenschaftlich evaluierte Programme oder Förderkomponenten bisher bedauerlicherweise eher die Ausnahme als die Regel sind. Für Kinder mit Dyskalkulie ist