Gerstmann-Syndrom
Gerstmann (1927; 1940) beschrieb erstmals einen Patienten, der nach einer Läsion in der Nähe des Gyrus angularis (lokalisiert im Scheitel- oder Parietallappen, der Teil hinterer Hirnabschnitte ist) eine Rechenstörung zeigte: Sie trat in Assoziation mit Fingeragnosie (defizitäres Erkennen der Finger), Agraphie (Schreibstörung) sowie Rechts-links-Desorientierung auf. Die Kombination dieser vier Symptome (Akalkulie, Fingeragnosie, Agraphie und Rechts-links-Störung) wurde nach deren Erstbeschreiber als Gerstmann-Syndrom benannt.
Eine moderne Einzelfallanalyse der Rechenleistungen eines Patienten mit Gerstmann-Syndrom findet sich z. B. bei Delazer und Benke (1997; s. Abschnitt 1.3).
konstruktive Akalkulie
In der unmittelbaren Folgezeit auf Gerstmanns Publikationen wurde allgemein die Ansicht vertreten, dass Rechenstörungen lediglich ein sekundäres Symptom von grundlegenderen visuell-räumlichen Defiziten seien (z. B. Krapf 1937; Singer / Low 1933). So prägte Krapf (1937) den Begriff der „konstruktiven Akalkulie“ für jene Art der Rechenstörung, bei der Patienten Schwierigkeiten beim Schreiben von Zahlenkolonnen bzw. deren räumlicher Anordnung aufwiesen.
Häufig wird angezweifelt, ob es sich beim Gerstmann-Syndrom um ein einheitliches Störungsbild handelt, weil viele Patienten nur eines, zwei oder drei der vier charakteristischen Symptome zeigen (Benton 1977). Nichtsdestotrotz ist das Interesse der aktuellen Forschung zur numerischen Kognition am Gerstmann-Syndrom wieder neu erwacht, vor allem im Hinblick auf einen potenziellen Zusammenhang zwischen räumlicher und numerischer Kognition (Schlagwort „Zahlenraum“). Erst kürzlich wurde ein Sonderheft einer renommierten neurowissenschaftlichen Fachzeitschrift diesem Thema gewidmet (Sonderheft von Cortex [2008]: „Number, Space, and Action“, herausgegeben von Martin Fischer und Guilherme Wood).
modalitätsspezifische Beeinträchtigungen
Von Interesse ist, dass auch das Wissen um die Bedeutung der Operationszeichen gestört sein kann: So beschrieben Ferro und Botelho bereits 1980 zwei neurologische Patienten (AL und MA), deren Rechenfehler bei einfachen Multiplikationen auf Operationsfehler zurückzuführen waren (z. B. 3 x 5 = 8 bzw. 9 x 3 = 6). Bei einem der beiden Patienten (MA) traten diese Fehler interessanterweise nur in der schriftlichen Modalität auf (also beim Bearbeiten arabischer Zahlen), nicht jedoch beim verbalen Lösen derselben Aufgaben (also beim Bearbeiten gehörter / gesprochener Rechenaufgaben). Diese Diskrepanz zeigt, dass rechnerische Fertigkeiten modalitätsspezifisch beeinträchtigt sein können: So kann die Verarbeitung arabischer Zahlen gestört, die Verarbeitung von Zahlwörtern aber erhalten sein.
1.3 Akalkulie aus der Sicht der klinischen Neuropsychologie und der kognitiven (Neuro-)Psychologie
Der Hauptverdienst der ersten neurologischen Fallberichte ist sicher darin zu sehen, dass Rechenstörungen erstmals als Folgeerscheinung von Hirnläsionen beschrieben wurden (z. B. Lewandowsky / Stadelmann 1908). Der Großteil der damaligen neuro(psycho)logischen Fachwelt war allerdings lange Zeit der Meinung, dass Akalkulie als ein Begleitsymptom von anderen Störungen anzusehen sei. So publizierten Hecaen und Mitarbeiter mehrere Arbeiten, in denen sie einen Klassifikationsversuch von Akalkulie in folgende drei Subtypen vornahmen: (a) Akalkulie infolge von Lese- und / oder Schreibstörungen (von Zahlen); (b) Akalkulie infolge von räumlichen Defiziten beim schriftlichen Rechnen; und (c) die sogenannte Anarithmetie, welche Defizite beim Ausführen arithmetischer Operationen reflektiert (Hecaen / Angelerques 1961; s. a. Luria 1973).
Dissoziation
Bereits in den frühen Falldarstellungen zeigt sich, dass Rechenstörungen von anderen kognitiven Störungen dissoziieren können, d. h. sie treten manchmal trotz intakter kognitiver Leistungen auf. Auch zwischen Teilkomponenten der numerischen und arithmetischen Fertigkeiten zeigen sich bei einzelnen Patienten Dissoziationen, die uns wesentliche Aufschlüsse über unser kognitives System geben.
Dissoziation und doppelte Dissoziation
Wenn eine Leistung A intakt ist, aber eine Leistung B defizitär, dann spricht man von einer Dissoziation. Eine doppelte Dissoziation liegt dann vor, wenn bei einem Patienten eine Leistung A erhalten, eine Leistung B jedoch defizitär ist und bei einem anderen Patienten das umgekehrte Leistungsprofil vorliegt (Leistung B ist intakt, aber Leistung A ist defizitär). Das Vorhandensein von doppelten Dissoziationen wird in der kognitiven Psychologie als Evidenz für die modulare Architektur kognitiver Systeme betrachtet (Shallice 1988). Man nimmt also an, dass die Leistungen A und B voneinander unabhängig sind, sowohl hinsichtlich ihrer funktionellen Aufgaben als auch hinsichtlich ihrer strukturellen (neuronalen) Korrelate.
Dissoziation zwischen Rechenfertigkeiten und intellektuellem Leistungsniveau: Eine Schlüsselarbeit für die aktuelle numerische Kognitionsliteratur war die von Grafman und Mitarbeitern (1982) publizierte Gruppenstudie neurologischer Patienten. Die Autoren untersuchten – erstmals mit einem standardisierten Rechentest – 76 Patienten mit Hirnläsionen (41 mit links- und 35 mit rechtsseitigen Strukturschäden) sowie 26 Kontrollpersonen. Die Befunde von Grafman und Kollegen sind hinsichtlich zweier Aspekte besonders erwähnenswert:
(a) Das Vorliegen bzw. der Schweregrad der Rechenstörung war unabhängig vom allgemeinen intellektuellen Leistungsniveau (s. a. Lewandowsky / Stadelmann 1908; Warrington 1982); und
(b) Patienten mit linksseitiger Hirnstrukturschädigung hatten relativ zu jenen mit rechtshemisphärischen Läsionen und Kontrollpersonen die gravierendsten Rechenprobleme (s. a. Jackson / Warrington 1986).
Savant Syndrom
Im Hinblick auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit liegt eine doppelte Dissoziation vor, da auch die andere Seite der Dissoziation beschrieben wurde: nämlich Personen mit sogenanntem „Savant Syndrom“, die über sehr gute Rechenleistungen trotz niedrigem Intelligenzniveau verfügen (z. B. Kelly et al. 1997).
Dissoziation zwischen Rechenfertigkeiten und Sprachleistung: Großen Einfluss auf die moderne Zahlen- und Rechenforschung hatten auch die Arbeiten von Elizabeth Warrington. Warrington konnte bereits 1982 anhand detaillierter Einzelfallanalysen zeigen, dass verschiedene Komponenten des Rechnens modular organisiert sind.
Im Jahre 1995 beschrieben Warrington und Mitarbeiter einen Patienten, der trotz globaler Aphasie gute Leistungen hinsichtlich der Zahlenverarbeitung und des Rechnens zeigte (Rossor et al. 1995). Dieses Fallbeispiel demonstriert eindrücklich, dass gute Rechenleistungen nicht unbedingt intakte sprachliche Fähigkeiten voraussetzen (s. a. Hodges et al. 1992; Lewandowsky / Stadelmann 1908).
Dissoziation zwischen numerischem und nichtnumerischem Gedächtnis: Cappelletti und Mitarbeiter (2001) publizierten einen detaillierten Fallbericht eines Patienten (IH) mit semantischer Demenz: Das ist eine progrediente hirnorganische Erkrankung, die im Anfangsstadium meist durch beeinträchtigte Gedächtnisleistungen und Sprachstörungen charakterisiert ist. Dieser Patient zeigte erstaunlich gut erhaltene numerisch-rechnerische Fertigkeiten, jedoch gravierende Defizite bei nichtnumerischen Gedächtnisinhalten. IH verfügte über sehr gutes Additions- und Subtraktionswissen beim Rechnen mit ein- und zweistelligen Zahlen (seine Bearbeitungsgenauigkeit von Multiplikations- und Divisionsrechnungen war etwas niedriger, jedoch weit über dem Rateniveau) und zeigte exzellente Leistungen beim Platzieren von Zahlen auf einem Zahlenstrahl. Offenbar führen Gedächtnisdefizite nicht zwangsläufig zu Beeinträchtigungen der Rechenleistungen.
Dissoziation zwischen Zahlenverständnis und Zahlenproduktion sowie zwischen dem Lesen von arabischen Zahlen und Zahlwörtern: Benson und Denckla (1969) stellten zwei Patienten mit Gerstmann-Syndrom vor, die auch eine Aphasie hatten. Beide Patienten konnten einstellige Additionsaufgaben wie „4 + 5“ nicht korrekt verbal beantworten. Dennoch