möglichen auswählen. Diese Arbeit war ein Eckpfeiler für die moderne Kognitionspsychologie, weil sie erstmals anhand von Dissoziationen aufzeigte, dass Zahlenverständnis- und Zahlenproduktionssysteme funktionell voneinander unabhängig sein können.
Cipolotti und Kollegen (1995; Cipolotti 1995) zeigten, dass Patienten sehr spezifische Schwierigkeiten beim Lesen arabischer Zahlen haben können. Die von Cipolotti beschriebenen Patienten hatten Schwierigkeiten beim Lesen arabischer Zahlen, nicht jedoch beim Lesen von Zahlwörtern. Die umgekehrte Dissoziation wurde ebenfalls beschrieben, so dass von einer doppelten Dissoziation zwischen den Lesemechanismen für arabische Zahlen und jenen für Zahlwörter gesprochen werden kann (s. Abschnitt 1.5.1 „Struktur des Zahlensystems“).
Dissoziation zwischen verschiedenen Rechenoperationen: Benson und Weir (1972) beschrieben – erstmals nach Berger (1926) – einen Patienten, dessen Rechenschwierigkeiten auf bestimmte Operationsarten beschränkt waren: Während Additionen und Subtraktionen intakt waren, bereiteten ihm Multiplikationen und Divisionen auffällige Schwierigkeiten. Es gibt inzwischen zahlreiche Fallberichte von Patienten mit operationsspezifischen Defiziten beim Lösen einfacher Rechnungen. Selektive Probleme beim Lösen einfacher Additionen zeigte beispielsweise Patient FS (van Harskamp / Cipolotti 2001), während Patient SS eine selektive Beeinträchtigung beim Lösen simpler Subtraktionsaufgaben zeigte.
Da auch ein Fallbericht von einem Patienten (BB) mit erhaltenem Subtraktionswissen bei defizitärem Additions- und Multiplikationswissen existiert (Pesenti et al. 1994), liegt in Bezug auf das Subtrahieren eine doppelte Dissoziation vor: Es kann sowohl selektiv erhalten als auch selektiv gestört sein. Letzteres gilt auch für das Multiplikationswissen (selektiv erhalten: Patient JG [Delazer / Benke 1997], selektiv beeinträchtigt: Patient VP [van Harskamp / Cipolotti 2001]). Diese doppelten Dissoziationen stützen die Annahme, dass das arithmetische Wissen je nach Operationsart modular organisiert ist. In anderen Worten: Die Verarbeitungsprozesse und -mechanismen für jede Operationsart scheinen unabhängig voneinander zu funktionieren.
Dissoziation zwischen arithmetischem Faktenwissen und prozeduralem Wissen: Eine grobe Differenzierung von Rechenfertigkeiten ist jene in das arithmetische Faktenwissen und das Wissen um arithmetische Prozeduren (s. a. Abschnitt 1.5.2).
Als Faktenwissen bezeichnet man einfache Rechnungen, deren Ergebnis man direkt aus dem Gedächtnis abrufen kann, ohne es „ausrechnen“ zu müssen (z. B. Einmaleins). Prozedurales Wissen umfasst alle Rechenprozeduren, die wir benutzen, um zu einem Ergebnis zu kommen. So muss man z. B. beim Lösen mehrstelliger schriftlicher Additionen wissen, wie man die Zahlen untereinander schreibt, ob man bei den Einern oder Zehnern / Hundertern mit dem Additionsprozess beginnt, wie man Überträge behandelt, wie man mit Nullen umzugehen hat etc. Die Unterscheidung zwischen Faktenwissen und prozeduralem Wissen wurde anhand von Einzelfallstudien wiederholt empirisch validiert (z. B. Delazer / Benke 1997; Hittmair-Delazer et al. 1994; 1995; McCloskey et al. 1985; Warrington 1982).
Eine der frühesten detaillierten Beschreibungen einer Dissoziation zwischen arithmetischem Fakten- und Prozedurenwissen war eine Einzelfallstudie von einem hirngeschädigten Patienten (DRC), der Probleme beim direkten Faktenabruf hatte, dieselben einstelligen Rechnungen jedoch mit Hilfe sogenannter Backup-Strategien (in diesem Falle zeitaufwändige Zählprozeduren) lösen konnte (Warrington 1982).
Einzelfallstudien zur Unterscheidung zwischen Faktenwissen und prozeduralem Wissen
Mehr als ein Jahrzehnt später wurde Warringtons Bericht einer Dissoziation zwischen arithmetischem Faktenwissen und prozeduralem Wissen von Margarete Delazer und Kollegen repliziert und sogar um die umgekehrte Dissoziation erweitert (Hittmair-Delazer et al. 1994; Delazer / Benke 1997). Patient BE war ein 45-jähriger Buchhalter, der nach einem Hirninfarkt linker subkortikaler Hirnstrukturen (Basalganglien) zusätzlich zu einer rechtsseitigen Lähmung und einer Sprachstörung auch spezifische Probleme beim Abruf von Multiplikationsfakten zeigte (einfache Additionen und Subtraktionen bereiteten ihm vergleichsweise weniger Schwierigkeiten; Hittmair-Delazer et al. 1994). Erstaunlich war, dass dieser – von Berufs wegen in Arithmetik sehr geübte – Mann seine Faktenabrufdefizite durch teils sehr komplexe prozedurale Lösungsstrategien spontan kompensierte. So konnte er zwar die Lösung von „5 x 8“ nicht direkt aus dem Langzeitgedächtnis abrufen, konnte das korrekte Resultat (40) jedoch über Umwege lösen (z. B. [8 x 10] : 2 bzw. [5 x 10] – [2 x 5]).
Ein konträres Leistungsprofil zeigte JG, eine 56-jährige Patientin, die nach einem hirnchirurgischen Eingriff zur Entfernung eines Tumors in linken parietalen Hirnarealen ein Gerstmann-Syndrom entwickelte (Delazer / Benke 1997). JG zeigte relativ gut erhaltenes Multiplikationsfaktenwissen, aber defizitäres Additions- und Subtraktionswissen. Im Gegensatz zu BE konnte JG ihr Abrufdefizit nicht durch prozedurales arithmetisches Wissen kompensieren.
Zusammenfassung
Empirische Evidenz an Erwachsenen stützt die Annahme einer modularen Architektur von Rechenleistungen. Dissoziationen zwischen Rechenleistungen und nichtnumerischen Fähigkeiten einerseits sowie Dissoziationen zwischen verschiedenen Komponenten der Zahlenverarbeitung und des Rechnens andererseits zeigen, dass (a) Zahlenverarbeitung und Rechnen unabhängig von der allgemeinen intellektuellen Leistungsfähigkeit und von nichtnumerischen Fähigkeiten wie Sprache und Gedächtnis sind; und (b) dass verschiedene Teilbereiche des Rechnens nach erworbenen Hirnschädigungen selektiv beeinträchtigt sein können (z. B. operationsspezifische Defizite).
1.4 Neurokognitive Modelle der numerischen Kognition bei Erwachsenen
Einer Vielzahl von systematischen und sehr differenzierten Einzelfall- und Gruppenstudien von gesunden Probanden und von neurologischen Patienten mit Hirnverletzungen ist es zu verdanken, dass unser aktuelles Verständnis der kognitiven Prozesse und Mechanismen, die einer intakten Zahlenverarbeitung und guten Rechenfertigkeiten zugrunde liegen, bereits recht umfassend ist. Dass es trotz des akkumulierten Wissens immer noch beträchtliche Wissenslücken und Kontroversen gibt, spiegelt sich in den im Folgenden dargestellten Rechenmodellen wider.
Modell von McCloskey und Kollegen: Das erste auf neuropsychologischen Theorien und Patientenbefunden basierende Rechenmodell, das der Differenzierung unterschiedlicher Teilkomponenten der Zahlenverarbeitung und der arithmetischen Leistungen Rechnung trägt, stammt von McCloskey und Mitarbeitern (1985; s. Abb. 1.1).
Input- und Output-system
Das Modell unterscheidet zwischen einem Inputsystem (Zahlenverständnis) und einem Outputsystem (Zahlenproduktion). Innerhalb beider Systeme findet sich jeweils eine Komponente für Verständnis / Produktion von Zahlwörtern und eine weitere Komponente für Verständnis / Produktion arabischer Zahlen. Jede dieser Repräsentationsformen von Zahlen steht mit der zentralen abstrakten semantischen Repräsentationskomponente in Verbindung. McCloskey und Kollegen (1985; McCloskey 1992) nehmen an, dass jede Zahl – in welcher Form auch immer sie präsentiert wird – eine internale abstrakte Größenrepräsentation generiert, welche ihrerseits wiederum das Outputsystem (also die Produktion) von Zahlen und Zahlwörtern aktiviert. Folglich evoziert jede Zahlenverarbeitung (Lesen / Schreiben gesprochener / geschriebener Zahlen) automatisch auch das Wissen um die numerische Größe dieser Zahl.
Abb. 1.1: Das Rechenmodell von McCloskey et al. (1985)
Rechensystem
Zusätzlich zu diesen Komponenten der Zahlenverarbeitung enthält das Modell von McCloskey ein Rechensystem, das sich wiederum in eine Reihe von Teilkomponenten zerlegen lässt. Zum einen müssen für kompetentes Rechnen die speziellen Symbole (also etwa die Rechenoperationszeichen +, –, x und :) bekannt sein. Eine weitere wichtige Unterscheidung innerhalb der Rechenfertigkeiten ist die zwischen arithmetischen Prozeduren