Stephan Vogel

Dyskalkulie


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inne, nämlich eine additive im Hinblick auf die Einerstelle (400 + 5) und eine multiplikative im Hinblick auf die Hunderterstelle (4 x 100). Während der Erwerbsphase wird gewöhnlich die multiplikative vor der additiven Kompositionsregel gemeistert (Power / dal Martello 1997; Seron / Fayol 1994).

      Transkodieren

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      Eine wesentliche Komponente innerhalb der basisnumerischen Verarbeitung ist das Lesen und Schreiben von Zahlen, welches das Umwandeln von einem Zahlen- bzw. Notationsformat in ein anderes erfordert. Dieser Umwandlungsprozess wird als Transkodieren bezeichnet. Die Übersetzung einer arabischen Zahl in ein Zahlwort beim Lesen einer Zahl wird als visuell-verbales Transkodieren bezeichnet, die umgekehrte Übersetzung eines Zahlwortes in eine arabische Zahl beim Zahlenschreiben heißt demgemäß verbal-visuelles Transkodieren. Die Zahlen von 1 bis 9 (sowie die Zahl 0) sind die konstituierenden Elemente des Zahlensystems und begründen zugleich die Zahlwortabfolge.

      Transkodierfehler

      Typische Fehler beim Transkodieren betreffen entweder die syntaktische Struktur (z. B. 405 wird geschrieben als 4005) oder lexikalische Elemente (z. B. 405 wird geschrieben als 407; Deloche / Seron 1982a, b). Transkodierfehler bei erworbenen Rechenstörungen sind häufig von beiden Fehlerarten charakterisiert, wobei lexikalische Fehler vor allem dann zu beobachten sind, wenn die Rechenstörung mit einer Lese- oder Sprachstörung assoziiert ist (Cipolotti / Butterworth 1995).

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      Granà und Kollegen (2003) weisen darauf hin, dass die Differenzierung in lexikalisch und syntaktisch auch für die Bearbeitung der „0“ gilt. Der von den Autoren beschriebene Patient LD tendierte dazu, sogenannte „syntaktische“ Nullen auszulassen (z. B. wurde die Zahl 408 als 48 transkodiert). Dagegen unterliefen ihm bei der Produktion von „lexikalischen“ Nullen (also Nullen in einer vollen Zehnerzahl, wie z. B. bei der Zahl 40, aber auch bei der Zahl 40236) keine Fehler. Granà und Mitarbeiter interpretieren dieses spezifische Leistungsprofil als Hinweis, dass lexikalische Nullen leichter zu verarbeiten sind als syntaktische. Grund dafür sei, dass lexikalische Nullen unmittelbar mit einem numerischen Konzept (nämlich einer semantischen Größe, die auf dem Basis-10-System beruht) assoziiert werden können, was für syntaktische Nullen nicht der Fall sei.

      semantisch vs. asemantisch

      Eine derzeit noch sehr kontrovers diskutierte Frage ist, ob das Transkodieren von einem Zahlenformat in ein anderes immer auch erfordert, dass die entsprechende Zahl in ihrer Mächtigkeit erfasst wird. Man spricht hier auch von semantischem Transkodieren, also Transkodieren unter Zugriff auf die Bedeutung der Zahl. Asemantische Modelle gehen demgegenüber davon aus, dass Zahlenformen auch ohne jedes Verständnis für die numerische Bedeutung der Zahl transkodiert werden können (Barouillet et al. 2004; Deloche / Seron 1987; Power / dal Martello 1997). Bei gesunden Erwachsenen wird die Zahlensemantik üblicherweise automatisch aktiviert, in welchem Format auch immer Zahlen präsentiert werden. Patientenstudien weisen allerdings darauf hin, dass dies nicht zwingend der Fall ist.

      Ein-Routen- vs. multiple Transkodiermodelle

      Das Modell von McCloskey und Mitarbeitern (1985) postuliert, dass jeder Transkodierprozess über eine abstrakte internale (semantische) Repräsentation vonstatten geht. Es ist im Hinblick auf das Postulat von ausschließlichen – und obligatorischen – semantischen Transkodierrouten ein sogenanntes Ein-Routen-Modell. Demgegenüber postulieren sogenannte Multi-Routen-Modelle des Transkodierens sowohl semantische als auch asemantische Verarbeitungswege (Cipolotti 1995; Cipolotti / Butterworth 1995; Cohen et al. 1994; Dehaene / Cohen 1995).

      So zeigte die detaillierte Untersuchung eines Patienten mit erworbener Lesestörung (Alexie) eine Dissoziation zwischen erhaltenem Lesen von Zahlen mit hohem Bekanntheitsgrad (z. B. geschichtlich bedeutsame Jahreszahlen wie 09 11 für den Terroranschlag in den USA; oder Zahlen, welche mit Markenlabels in Verbindung gebracht werden, wie z. B. 4711 für Kölnischwasser) und defizitärem Lesen von Zahlen ohne semantischer Konnotation (Cohen et al. 1994). Die Autoren interpretieren diese Dissoziation dahingehend, dass Zahlen mit hohem Bekanntheitsgrad über lexikalische Transkodierrouten verarbeitet werden, während bedeutungslose Zahlen über nichtlexikalische Routen verarbeitet werden.

      Der von Cipolotti (1995) beschriebene Patient SF (mit beginnender Demenz vom Alzheimer Typ) konnte mehrstellige Zahlen nur dann lesen, wenn sie in Form eines Zahlwortes (also über die orthografische Route), nicht jedoch, wenn sie in Form einer arabischen Zahl präsentiert waren. Demgegenüber hatte ein anderer von Cipolotti beschriebener Patient Schwierigkeiten bei Transkodieraufgaben, die verbalen und schriftlichen Output erforderten. Er konnte jedoch ein- und mehrstellige Zahlen beim schriftlichen Rechnen sowie zweistellige Zahlen beim Kopfrechnen richtig zuordnen (Patient SAM: Cipolotti / Butterworth 1995). Beide von Cipolotti beschriebenen Patienten demonstrierten teilweise intaktes Zahlenverständnis: Das heißt, dass die Transkodierleistungen unabhängig vom Zahlenverständnis beeinträchtigt sein können (SF: Lesen arabischer Zahlen; SAM: Schreiben von Zahlwörtern und arabischen Zahlen).

      Multi-Routen-Modell

      Basierend auf diesen Einzelfallstudien entwickelten Butterworth und Cipolotti das in Abbildung 1.3 dargestellte multiple Transkodiermodell. Das Modell postuliert die Existenz von vier voneinander differenzierbaren asemantischen Transkodierrouten, die zusätzlich zu einem semantischen Transkodierweg in Aktion treten können. Zwei asemantische Transkodierrouten ermöglichen das Lesen und Schreiben arabischer Zahlen (gestrichelte Linien in Abb. 1.3). Die restlichen zwei asemantischen Transkodierrouten treten gemäß Cipolotti und Butterworth (1995) beim Wiederholen von gehörten Zahlwörtern und beim Lesen geschriebener Zahlwörter in Aktion (durchgezogene Linien in Abb. 1.3) und sind höchstwahrscheinlich nicht für Zahlen spezifisch, sondern allgemeinen Sprachverarbeitungsmechanismen zuzuschreiben.

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      Das Multi-Routen-Modell des Transkodierens (Cipolotti / Butterworth 1995) unterscheidet sich also vom McCloskey-Modell (McCloskey et al. 1985; McCloskey 1992) in folgenden zwei Punkten: (a) Weder das Nachsprechen noch das Abschreiben von Zahlwörtern erfordern den Zugriff auf abstrakte semantische Repräsentationen (in diesem Falle also die dem entsprechenden Zahlwort inhärente Numerosität); und (b) sowohl für das Lesen als auch für das Schreiben arabischer Zahlen gibt es zusätzlich zu der semantischen Route direkte asemantische Transkodierrouten.

      Zusammenfassung

      Das Zahlensystem ist regelhaft aufgebaut und durch eine Basis-10-Struktur charakterisiert (dekadisches Positionssystem). Bei mehrstelligen Zahlen werden die Ziffern (0–9) durch additive und multiplikative Kompositionsregeln in Form eines Stellenwertsystems miteinander verknüpft. In der deutschen Sprache ist das verbale Zahlwortsystem im Bereich der zweistelligen Zahlen (21–99) durch das Inversionsprinzip gekennzeichnet.

      Transkodieren – also die Umwandlung von einem Zahlencode in einen anderen – ist ein komplexer kognitiver Prozess. Die Befunde aktueller Patientenstudien im Hinblick auf deren Transkodierleistungen sind am besten durch multiple Routenmodelle erklärbar, die die Koexistenz von semantischen und asemantischen Transkodierrouten postulieren. Semantisches Transkodieren beinhaltet den Zugriff auf die analoge Größenrepräsentation bzw. den numerischen Wert der zu verarbeitenden Zahlen, während asemantische Routen direkt von einem zum anderen Zahlenformat (also ohne Aktivierung der Semantik) verlaufen.

      Semantische (Zahlen-)Größenrepräsentation und die Metapher des mentalen Zahlenstrahls

      mentaler Zahlenstrahl

      Das Konstrukt des mentalen Zahlenstrahls ist eine sehr populäre Metapher in der numerischen Kognitionsliteratur und besagt, dass in der mentalen Vorstellung die Zahlen analog (nämlich