Stephan Vogel

Dyskalkulie


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+ 12 + 12“. Das heißt, diese Rechnungen müssen nicht mehr prozedural unter Zuhilfenahme von Backup-Strategien gelöst werden: Geübte Rechner erkennen auf einen Blick, dass die verschiedenen Lösungsalgorithmen ein und dieselbe Rechenaufgabe repräsentieren.

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      Die Patientenbeschreibung von BE (Hittmair-Delazer et al. 1995) demonstriert eindrücklich, wie umgekehrt verlorenes Faktenwissen über die Anwendung teils sehr komplexer alternativer Lösungsstrategien kompensiert werden kann. BE konnte das Ergebnis von „4 x 9“ zwar nicht direkt aus dem Gedächtnis abrufen, aber kam über mehrere Zwischenschritte zum richtigen Ergebnis (der Rechenweg von BE wurde wie folgt beschrieben: (9 x 2) + (9 x 2) oder (9 x 10 : 2) – 9. Diese sehr komplexen Backup-Strategien machen deutlich, dass BE trotz des beeinträchtigten Faktenwissens über ein ausgezeichnetes Verständnis mathematischer Prinzipien wie Assoziation, Distribution und Kommutativität verfügte.

      Dissoziationen zwischen prozeduralem und konzeptuellem Wissen wurden ebenfalls in der Literatur beschrieben (Girelli / Delazer 1996; Sokol et al. 1991). Mangelndes konzeptuelles Wissen äußert sich beispielsweise in unplausiblen Fehlern, also Fehlern, deren numerischer Wert von der richtigen Lösung weit entfernt ist. Wenn ein Proband etwa 3.570 als Lösung für die Aufgaben „35 x 12“ berechnet (und das Ergebnis nicht hinterfragt), dann reflektiert dieser Fehler zum einen das zumindest teilweise richtige Anwenden von Lösungsprozeduren (35 x 1 = 35, 35 x 2 = 70 → 3.570) und zum anderen mangelndes konzeptuelles Verständnis: Der Proband sollte mit Hilfe eines Schätzprozesses bzw. einer ungefähren Vorstellung der Zahlengröße erkennen, dass ein vierstelliges Ergebnis nicht richtig sein kann.

      Bei Kindern in der Erwerbsphase gibt es bis dato keine systematischen Berichte über Dissoziationen zwischen prozeduralem und konzeptuellem Wissen. Resnick (1982) und van Lehn (1990) berichten zwar über systematische Fehler beim Anwenden von Lösungsprozeduren bei Kindern: diese prozeduralen Fehler sind in der Erwerbsphase jedoch auch meist mit mangelndem konzeptuellen Wissen assoziiert.

      Zusammenfassung

      Arithmetische Fakten sind Rechnungen mit einstelligen Operanden, die bei geübten Rechnern direkt aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden können und keine willentlichen Rechenprozesse mehr erfordern. Sogenannte arithmetische Regeln sind Multiplikationsfakten, bei denen ein Operand eine 0 oder eine 1 ist. Bei kompetenten Rechnern wird das Faktenwissen sogar dann automatisch aktiviert, wenn es für die Aufgabenbearbeitung irrelevant ist. Das Faktenwissen ist in Form von assoziativen Netzwerken gespeichert. Der sogenannte Problemgrößeneffekt reflektiert die Aufgabenschwierigkeit: Fakten mit größeren Operanden werden langsamer abgerufen als solche mit kleinen Operanden.

      Prozedurales Wissen (also das Wissen um die richtige sequenzielle Anordnung von Lösungsalgorithmen) kann rein schematisch, ohne zugrunde liegendes Verständnis der dahinterstehenden Rechenoperation angewendet werden. In diesem Falle sind die Fehlermuster meist konsistent und systematisch. Ein anderes Fehlermuster, das durch inkonsistente Fehler charakterisiert ist, reflektiert eher mangelnde Monitoring-Mechanismen. Beim Lösen komplexer (mehrstelliger) Rechnungen sind auch intaktes Faktenwissen sowie gute Arbeitsgedächtnisleistungen relevant. Defizitäres Faktenwissen oder schlechte Arbeitsgedächtnisleistungen können die Leistung beim Lösen komplexer Rechnungen beeinträchtigen: Dies ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einer Störung des prozeduralen arithmetischen Wissens!

      Konzeptuelles arithmetisches Wissen bzw. arithmetisches Verständnis ist für die flexible und adaptive Anwendung numerisch-rechnerischer Leistungen unerlässlich. Das konzeptuelle Wissen wurde jedoch – wie auch das prozedurale Wissen – in den populären Rechenmodellen vernachlässigt. Sowohl das arithmetische Faktenwissen als auch das prozedurale arithmetische Wissen können ohne zugrunde liegendes Verständnis rein schematisch angewendet werden.

      1.6 Neuronale Grundlagen der Zahlenverarbeitung und des Rechnens

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      Methoden der Hirnforschung

      Eine Einschränkung der fMRT-Methode ist, dass sie für Kleinkinder nicht gut geeignet ist, da die Probanden für die Dauer des Experiments (mindestens 20 Minuten) still liegen müssen und die MRT-Umgebung zudem sehr laut ist (die Lärmbelastung wird zumindest teilweise durch das Tragen von Kopfhörern gemildert). Die meisten fMRT-Untersuchungen im Entwicklungsbereich werden daher erst bei Kindern ab 6 bis 7 Jahren durchgeführt und erfordern spezielle Anwendungstechniken für die Datenerhebung (Vogel et al. 2016). Neben der Darstellung von Aktivitätsmustern im Gehirn spielt die Erhebung anatomischer Gehirnstrukturen mittels MRT eine zunehmend wichtige Rolle bei der Erforschung von Gehirnfunktionen. Hervorzuheben ist hier die Diffusions-Tensor-Bildgebung (abgekürzt DTI von englisch diffusion tensor imaging), welche durch die Diffusionsbewegung von Wassermolekülen den strukturellen Aufbau von Nervenfaserbündeln misst. Nervenfasern ermöglichen die Erregungsleitung zwischen Nervenzellen und ganzen Gehirnregionen. Individuelle Unterschiede im strukturellen Aufbau von Faserbündeln konnten bereits mit individuellen Unterschieden in diversen kognitiven Leistungen assoziiert werden, etwa im Bereich des Lesens (Klingberg et al. 2000) und des Rechnens (Überblick bei Matejko / Ansari 2015). Ein Vorteil dieser Methode ist, dass die Messung relativ rasch erfolgt und die Probanden keine aufwendigen Aufgaben im Scanner durchführen müssen.

      Eine gute Alternative zur Visualisierung von Gehirnaktivierungen bei (Klein-)Kindern bietet die funktionelle Nahinfrarotspektroskopie. Das NIRS-System besteht primär aus einer Haube mit Sensoren (sogenannten Optoden) und Detektoren, die direkt an der Schädeloberfläche montiert werden. Die Sensoren messen über die Absorption von Nahinfrarotlicht Veränderungen im Sauerstoffmetabolismus und somit kortikale Aktivierungen. Da die Sensoren direkt an der Schädeldecke angebracht sind, müssen die Probanden bei der Untersuchung nicht still liegen und können sich relativ frei bewegen. Zudem ist die Apparatur portabel und erzeugt keine lauten Geräusche, was einen sehr flexiblen Einsatz in natürlichen Umgebungen ermöglicht (etwa im Klassenzimmer). Aufgrund dieser wichtigen Eigenschaften erfreut sich fNIRS besonders für die Untersuchung von Kindern und Kleinkindern zunehmender Beliebtheit. Der zentrale Nachteil dieser Methode liegt allerdings in der begrenzten räumlichen Signalauflösung. Im Vergleich zum fMRT können kortikale Aktivierungen nur sehr grob identifiziert werden und Aussagen über die präzise Lokalisation der Aktivierung sind nur begrenzt möglich (Lloyd-Fox et al. 2010).

      Eine andere häufig verwendete Methode der Neurowissenschaften basiert auf dem Elektroenzephalogramm (EEG). Das EEG erfasst die elektrophysiologische Tätigkeit des Gehirns und wird wegen seiner sehr guten zeitlichen Auflösung der Hirnaktivierung geschätzt. Eine spezielle, für die Neurowissenschaften interessante Anwendung ist die Methode der ereigniskorrelierten Potenziale (EKP). Mit Hilfe der EKP-Methode werden die elektrophysiologischen Parameter direkt im Anschluss an eine Stimuluspräsentation gemessen. Die Probanden sollen beispielsweise Bilder ansehen oder bestimmte Aufgaben mental lösen. Die Forscher können dann anhand der EEG-Kurvenverläufe Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden neuronalen Erregungsmuster ziehen. Ein Nachteil von EEG-basierten Methoden ist, dass primär Aktivierungen erfasst werden, die direkt unter den Elektroden (bzw. dem Schädelknochen) liegen. Das