etwa die Pädagogik und das Lehramt – ein Exodus von Männlichkeit stattfindet. Befriedigend ist diese Deutung allerdings nicht, liefert sie doch keine Erklärung dafür, warum zeitgleich ein Wandel der ‚Wissenshierarchie‘ überhaupt stattgefunden hat, der von der Theologie über die Geschichte / Philosophie bis zu den Naturwissenschaften führte. Geht man zudem davon aus, dass jede geschlechtliche Zuordnung nicht nur die Folge neuer wissenschaftlicher oder medialer Paradigmen ist (die Medien sind deshalb so wichtig, weil sie über die Speichersysteme und damit auch über die Trennung zwischen Wissen und Nicht-Wissen bestimmen), sondern auch der Naturalisierung der Wissensordnung zu dienen hat, so stellt sich die Frage nach der geschlechtlichen Zuordnung der Wissensfelder auf ganz andere Weise. Denn dann ist danach zu fragen, welcher Art die ‚Ordnung‘ ist, die hier naturalisiert werden soll, und in welcher Weise dies geschieht. [<< 13]
Die Auslagerung von geschlechtlichen Codes aus der Wissenschaft:
Kanon und Reinheit
Verallgemeinernd könnte man sagen, dass die ‚Naturalisierung‘ der Wissensordnung einen doppelten und dabei paradoxen historischen Prozess durchlaufen hat: Ging es zunächst um den Ausschluss von Geschlecht, so ging es in einem zweiten ‚Schritt‘ um den Einschluss – oder genauer: die Einlagerung – von geschlechtlichen Codes. Auf welche Weise sich dieser doppelte Prozess in den verschiedenen Wissensfeldern vollzogen und niedergeschlagen hat, wird aus den einzelnen Beiträgen in diesem Band deutlich. Am Begriff der ‚Reinheit‘, der für die Wissenschaft eine ähnliche Funktion erfüllt wie der des ‚Kanons‘, lässt sich diese paradoxe Bewegung am besten darstellen. Der Begriff ‚Kanon‘, der inzwischen in seinen geschlechtlichen Codierungen gut erforscht ist,2 kommt ursprünglich aus der Baukunst und heißt soviel wie Richtschnur, Maßstab. Er wurde in der griechischen Antike von dem Bildhauer Polyklet übertragen auf den menschlichen Körper, um Idealmaße und Proportionen zu bezeichnen – Idealmaße, die Polyklet ausschließlich am männlichen Körper demonstrierte. Später wurde der Begriff wiederum auf den Städtebau oder die Konstruktion großer sakraler Gebäude übertragen, die dem ‚sozialen Körper‘ das Aussehen und die Idealproportionen des menschlichen Körpers verleihen sollten, um heute fast ausschließlich auf Texte angewandt zu werden, die in den verschiedenen Disziplinen kanonischen Charakter – also eine Maßstabsfunktion – erhalten haben. Das Problem besteht freilich darin, dass sich die idealen Maßstäbe des Kanons nicht positiv benennen lassen, nur in Abgrenzung gegen das ‚Nicht-Maßstabgerechte‘. Das heißt, ihre Definition hängt immer von der Benennung eines ‚Nicht-Kanons‘ ab. Dieser hat – je nach historischer Notwendigkeit und je nach neu entwickelten medialen Speichersystemen, die über die Wissensordnung bestimmen – unterschiedliche Gestalt. Ihre einzige Gemeinsamkeit: die geschlechtliche Codierung.
Ganz ähnlich wirkt sich auch der Begriff der ‚Reinheit‘ für die Wissenschaft und auf die Etablierung von Wissensfeldern aus. Es gibt wenige Begriffe, die eine solche Macht über das Denken von Individuen und Gemeinschaften ausüben wie die ‚Reinheit‘. Kaum ein Wissensfeld, in dem er nicht eine Schlüsselstellung einnimmt – ob es sich um Religion, Politik, Sexualität, Sprache, Kultur, Psychologie oder eben die Wissenschaften und ihre Rolle für diese verschiedenen Bereiche handelt. Obgleich die [<< 14] ‚Reinheit‘ in jedem Wissensfeld eine andere Bedeutung annimmt, ist allen Bedeutungen gemeinsam, dass sie dazu dienen, Abgrenzungen und Ausschlüsse vorzunehmen. Das besagt schon die Etymologie des Wortes ‚rein‘: Aus dem Alt- und Mittelhochdeutschen ‚reini‘ bzw. ‚hreni‘ stammend, bedeutet das Wort ursprünglich ‚gesiebt‘ oder ‚gesäubert‘.3 Im Wort ‚rein‘ steckt also die Bedeutung von ‚herein‘ oder ‚hereinnehmen‘, was neben dem Einschluss auch einen Ausschluss beinhaltet. Die Tatsache, dass sich das ,Reine‘ – wie der ‚Kanon‘ – nur durch den Gegensatz zum ‚Unreinen‘ definieren lässt, hat zur Folge, dass in vielen Wissensfeldern der ‚Schmutz‘ oder das ‚Unreine‘ überhaupt erst benannt, sichtbar gemacht oder ‚ritualisiert‘ werden muss. (Zu den ‚Riten‘ würde etwa die der Theologie so ähnliche Kleiderordnung der alten Universität gehören, die nicht durch Zufall dann zu verschwinden begann, als Frauen in den Akademien aufgenommen wurden).
Wie auch die abendländische ‚Wissenschaft‘ von der Theologie ihren Ausgang nahm, hat auch die ‚Reinheit‘ zunächst religiöse Ursprünge. Es gibt, allgemein gesagt, keine Religion, die nicht in der einen oder anderen Weise auf Reinheitsgesetze oder – alternativ – auf die ‚Reinheit‘ des Transzendenten und die ‚Unreinheit‘ des Irdischen Bezug nimmt. Allerdings ist das, was als ‚rein‘ bezeichnet wird, in jeder religiösen Kultur unterschiedlich. Bezieht sich die ‚Reinheit‘ zum Beispiel in der jüdischen Religion auf die Zeremonialgesetze, die eine scharfe Trennung zwischen bestimmten Speisen und über diese zwischen dem Heiligen und dem Profanen fordern,4 so findet in der christlichen Religion eher eine Gegenüberstellung von Bildern statt, die einander ‚ähneln‘ und dennoch als Gegensätze konstruiert werden – etwa die Bilder des Blutes, bei denen das ‚reine‘ Blut des Gekreuzigten oder der Märtyrer dem ‚unreinen‘ Blut, das dem sexuellen Körper und der Sexualität eigen ist, gegenübergestellt wird.5 Auf der Basis einer solchen Gegenüberstellung erhielt zum Beispiel die geschlechtlich übertragene Syphilis den Namen ‚Böses Blut‘. Solche christlichen Bilder von ‚Reinheit‘ fanden sich nach dem Säkularisierungsprozess auf vielen modernen Wissensfeldern wieder. Heute gibt es zum Beispiel einen breiten Konsens darüber, dass Sauberkeit, Hygiene und Gesundheit etwas ‚Gutes‘ darstellen, während alles, was unter den Begriff des Schmutzes fällt, dem Fremden zugerechnet wird. Dass es sich bei dieser Bedeutung von ‚Reinlichkeit‘ um eine symbolische Zuordnung handelt, kann man an sich selbst [<< 15] beobachten: An Orten, die uns fremd sind oder in Ländern, deren Sprache wir nicht sprechen, nehmen wir Schmutz viel deutlicher wahr als in der eigenen Stube. Auch neigen wir dazu, Gefühle von Fremdheit mit Worten und Bildern zu umschreiben, in denen von mangelnder Sauberkeit oder schlechtem Geruch die Rede ist. Solche Wahrnehmungen stehen in einer langen Geistestradition, in der das Fremde (oder Auszuschließende) mit dem Schmutz – oder dem Unreinen – gleichgesetzt wird. In diesem Sinne ist die Reinlichkeit (sozusagen die säkulare Reinheit) auch wiederholt politisch funktionalisiert worden: etwa im rassistischen Antisemitismus, wo von der ‚Reinheit‘ des Volkskörpers und der ‚Unreinheit‘ des ‚jüdischen Blutes‘ die Rede war. In solchen Wissensfeldern und ihren Wissensformen eine hard science zu sehen, würde die moderne Wissenschaft heute – und zu Recht – ablehnen. Dennoch waren es eben diese ‚biologisierten‘ theologischen Diskurse, die im 19. Jahrhundert den Wandel der Wissensordnung vorantrieben und dazu beitrugen, dass die Naturwissenschaften zu Leitwissenschaften aufstiegen.
In der Ästhetik verweist die ‚reine‘ Form bzw. die ‚reine Kunst‘, wie bei der Mathematik oder der Logik, auf eine Vorstellung von Kunst, die keinen Bezug zu Politik, Religion oder sonstigen ‚Botschaften‘ hat, die also frei ist von Inhalten, die nicht ihr selbst, der Kunst gelten. Dann kann ‚Reinheit‘ in der Kunst aber auch auf eine Ästhetik verweisen, die sich dem ‚reinen Denken‘ oder der ‚reinen Form‘ verschrieben hat – etwa die autonome Literatur oder die abstrakte Kunst und die Musik. Oder der Begriff ‚Reinheit‘ bezeichnet eine Architektur, deren Formen von ‚reiner‘ Zwecküberlegung bestimmt werden. Den Begriff der ‚reinen‘ Kunst nehmen freilich auch ästhetische Formen für sich in Anspruch, die gerade eine politische oder religiöse Botschaft zu transportieren versuchen: das ‚Bühnenweihfestspiel‘ Richard Wagners zum Beispiel bzw. die dem ‚Blut und Boden‘ verhaftete Kunst der NS-Zeit, die die Kunst der Moderne als ‚entartet‘, mithin als ‚unnatürliche‘ und ‚fremde‘ Kunst bezeichnete. In allen diesen Fällen geht es um den Ausschluss eines – wie auch immer definierten – ‚Fremdkörpers‘. Dasselbe gilt auch für die Forderung nach einer ‚Reinheit der Sprache‘, die immer dann auftaucht, wenn es darum geht, eine Nation oder ein Sprachgebiet gegen eine vermeintliche ‚Überfremdung‘ zu schützen.
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