Rechtfertigung vermissen lässt“.14 Andererseits sieht er die Libido symbolisiert im männlichen Genital, womit implizit auch über die geschlechtliche Zuordnung ‚des Sexualtriebs‘ entschieden ist. Wo er geistiger Tätigkeit bei Frauen begegnet, analysiert er diese folgerichtig als Aneignung ‚männlicher‘ Eigenschaften und männlicher Physiologie: „Der Wunsch, den ersehnten Penis endlich doch zu bekommen, kann noch seinen Beitrag zu den Motiven leisten, die das gereifte Weib in die Analyse drängen, und was sie verständigerweise von der Analyse erwarten kann, etwa die Fähigkeit, einen intellektuellen Beruf auszuüben, lässt sich oft als eine sublimierte Abwandlung dieses verdrängten Wunsches erkennen.“ 15
Die wissenstheoretische Verschiebung, die sich hier vollzieht, lässt sich umschreiben als die Einlagerung von Geschlechtlichkeit in die Wissensgeschichte und Wissenstheorie. Es handelt sich um eine sexuelle Aufladung der Wissensordnung, die, weil es sich um eine symbolische Zuordnung handelt, eben deshalb auch nicht dem Ausschluss der Geschlechtlichkeit aus der Wissensordnung widerspricht. Die beiden Vorgänge sind gewissermaßen die Kehrseiten ein und desselben Vorgangs, und dieser findet auf doppelter Ebene statt: Einerseits wird der männliche Trieb als Generator des Wissens und der Wissensfähigkeit beschworen – er schwebt gleichsam als deus ex machina in die Wissensordnung ein. Andererseits wird aber auch die Weiblichkeit in die neue Wissensordnung aufgenommen. Auch hier tut sich auf den ersten Blick ein Widerspruch auf, der sich jedoch löst, sobald man das Paradigma betrachtet, das sich dahinter verbirgt. ‚Der Sexualtrieb‘, von dem in der neuen Geschlechter- und Wissensordnung die Rede ist, ist ein Produkt der Wissenschaftlichkeit selbst, und auch [<< 23] hier – wie beim laborgerechten Forscher – handelt es sich um eine alte Phantasie, die mit den neueren Erkenntnissen der Wissenschaft in den Bereich des Realisierbaren rückt. Denn in dieser Zeit, in der sich diese ganzen Wandlungen, ja Umkehrungen, alter Ordnungen vollziehen, entstehen nicht nur die Reproduktionswissenschaften, sondern auch die Sexualwissenschaften, die einen von der Fortpflanzung unabhängigen Sexualtrieb postulieren, ebenso wie die Reproduktionswissenschaften das Ziel einer von der Sexualität unabhängigen Fortpflanzung verfolgen. Darüber hinaus gehen die Sexualwissenschaften auch davon aus, dass sich der Sexualtrieb rational und wissenschaftlich erfassen lasse, obgleich ausgerechnet dieser in den Denktraditionen der abendländischen Wissenswelt als der mächtigste und der Irrationalität, mithin der Unwissenschaftlichkeit, am nächsten stehende Trieb gilt. Genau dies, der Versuch einer rationalen und wissenschaftlichen Erfassung der Irrationalität, ist in den letzten hundert Jahren zu einem Leitgedanken vieler Wissensfelder geworden, und der Vorgang trug dazu bei, dass die modernen Industriegesellschaften ihre Angst vor den Mächten des Sexualtriebs verloren und fast alle Paragraphen aus ihren Gesetzbüchern gestrichen haben, die den Geschlechtsverkehr regulieren. Eine solche ‚Befreiung‘ der Sexualität von (fast) allen Fesseln ist historisch einmalig und hat es in dieser Form in keiner anderen Kultur gegeben. Indem der Sexualtrieb ‚berechenbar‘ geworden ist – und in dieser Hinsicht ist die Sexualwissenschaft nicht zu trennen von den anderen Erscheinungsformen eines der Macht der Berechenbarkeit unterworfenen Sexualtriebs, egal, ob dieser in Porno, Peepshow oder Prostitution, allesamt dem Zeichensystem des Geldes unterstehenden Systemen, seinen Ausdruck findet –, wurde er der rationalen Logik unterworfen und damit wissenschaftsgerecht. Er gehört nicht nur in die neue Wissensordnung, er dient sogar ihrer Durchsetzung und Legitimierung. Der Forscher ohne Unterleib ist versehen mit einem neuen Geschlechtsapparat.
Wir fassen zusammen: Die abendländische Wissensordnung beruht in doppelter Hinsicht auf einer symbolischen Geschlechterordnung: Einerseits konstituiert sie sich über den Ausschluss von Geschlechtlichkeit, symbolisch dargestellt am Ausschluss des weiblichen Körpers aus der Wissensordnung. Erst als sich in der symbolischen Geschlechterordnung das Paradigma entwickelt, dass der weibliche Körper ‚an sich‘ geschlechtslos sei – die Vorstellung schlägt sich u. a. in wissenschaftlichen Theorien des 19. Jahrhunderts über den ,reduzierten‘ weiblichen Geschlechtstrieb nieder –, gestattet die Wissensordnung die Aufnahme von Frauen. Andererseits konstituiert sich die Wissensordnung aber auch durch die ‚sexuelle Aufladung‘ von Wissensfeldern. Motor dieses Vorgangs ist ein ‚Sexualtrieb‘, der der Berechenbarkeit des ‚wissenschaftlichen Diskurses‘ unterliegt. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass das Geschlecht im 20. Jahrhundert jeden Anschein von Biologie verliert und immer mehr [<< 24] als ‚performativer Akt‘ begriffen wird.16 Allerdings muss diese Entwicklung auch in ihrer Historizität eingebettet werden, also als Erscheinungsform eines geschichtlichen Wandels der symbolischen Geschlechterordnung und eines ‚neuen Sexualtriebs‘, der als Basis der Wissensordnung verstanden wird.
Metaphysik und Wissenschaft
Gehen wir nun zurück zum Ausgang der Überlegungen, dem Wandel der Wissensordnung, der von der Theologie als Leitwissenschaft über die Geschichte / Philosophie zu den naturwissenschaftlichen Fächern als Leitwissenschaften führte. Man könnte diesen Prozess als Ausdruck eines Säkularisierungsprozesses begreifen, der Entkirchlichung oder Verlust transzendenter Glaubensinhalte besagt. Dagegen spricht jedoch die Tatsache, dass auch die neue Wissensordnung zu ihrer Konstitution einer symbolischen Geschlechterordnung bedarf und in dieser ihre ‚Biologisierung‘ findet. Die Umkehrung ist also nicht so tiefgreifend, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Und zweitens spricht dagegen auch die Tatsache, dass die neuen Leitwissenschaften in mehr als einer Hinsicht die Nachfolge der alten Leitwissenschaften angetreten haben: Ihnen wurde das alte Projekt der Unsterblichkeit überantwortet. Es gibt also eine Linie, die direkt von der Theologie zur Naturwissenschaft führt – und ihre Entwicklung weist viele Parallelen zum Wandel der Geschlechterordnung auf.
In den modernen Naturwissenschaften verbindet sich die Scheu, das Metaphysische zu thematisieren, mit einer bemerkenswerten Bereitschaft, religiöse Bilder zur Charakterisierung der eigenen Errungenschaften zu zitieren. So etwa, wenn Stephen Hawking in A Brief History of Time schreibt, dass die Wissenschaftler „the mind of God“ enthüllen;17 und der Physiker George Smoot, der die ‚Big-Bang-Theorie‘ mit der „treibenden Kraft des Universums“ verglichen hat, fragt: „and isn‘t that what God is?“ 18 Leon Ledermann, Nobelpreisträger der Physik, nennt die subatome Einheit, von der er glaubt, dass sie über alles bestimmt, das „God particle“.19 Welcher historische Prozess verbirgt sich hinter dieser Berufung auf das Göttliche, die mit einem Schweigen über die Metaphysik einhergeht? Könnte es sein, dass sich das Schweigen über die [<< 25] Metaphysik mit der Tatsache erklärt, dass die der eigenen Forschung zugrunde liegenden Paradigmen, also die historische Dimension des eigenen Werdens, ausgeblendet werden sollen? Jedenfalls verweisen die Zitate darauf, dass die Ansiedlung des alten Projekts der Unsterblichkeit in den Naturwissenschaften nicht nur eine Phantasie von Laien, sondern auch der Wissenschaftler selbst darstellt. In jedem Fall scheint die Wanderung des Unsterblichkeitsprojektes in die Naturwissenschaften dazu beigetragen zu haben, dass sie zu den ‚Leitwissenschaften‘ geworden sind.
Dieser historischen Verlagerung von Glauben zu Wissen liegt eine dem Abendland eigene Bedeutung des Begriffs ‚Säkularisierung‘ zugrunde, die in dem christlich geprägten Kulturkreis etwas anderes impliziert als etwa in der jüdischen Tradition. In der christlichen Welt bedeutet der Begriff ‚Säkularisierung‘, der sich sprachlich von lat. saeculum in der Bedeutung von Geschlecht, Generation oder auch Zeitalter herleitet, zunächst den ‚weltlichen Menschen‘, der dem durch Priesterweihe oder Mönchsgelübde gebundenen ‚religiosus‘ gegenübersteht. Ab dem 16. Jahrhundert wird der Begriff saecularisatio von französischen Kirchenrechtlern und Juristen zur Bezeichnung des Übergangs eines Ordensgeistlichen in den weltlichen Stand benutzt. Später erweitert sich der Begriff zur Bezeichnung des Übergangs kirchlichen Eigentums in weltliche Hände. Erst im 19. Jahrhundert wird der Begriff ‚Säkularisierung‘ zu einer geschichtstheoretischen oder geschichtsphilosophischen Kategorie – nun aber mit einer