Religion bzw. Entleerung religiöser Gehalte gemeint sind.20 Andererseits impliziert dieser Säkularisierungsprozess aber auch, dass in der christlich-abendländischen und scheinbar ‚nachreligiösen‘ Gesellschaft ein Prozess stattgefunden hat, der sich als ‚Weltwerdung‘ des Glaubens umschreiben ließe. Diese Entwicklung, die auch die Veränderung der Wissensordnung, d. h. die Verlagerung der Leitwissenschaft von Theologie zu den Naturwissenschaften (mit dem Umweg über Philosophie und Geschichte) erklärt, scheint ein Phänomen christlicher und nachchristlicher Denktraditionen zu sein. Das zeigt z. B. der Vergleich mit der jüdischen Religion, der die Gegenüberstellung von Glauben und Wissen, von Transzendenz und Handlung fremd ist. „Unter den Vorschriften des mosaischen Gesetzes“, so schreibt Moses Mendelssohn um 1800 (also in einer Zeit, in der der christliche Säkularisierungsprozess die in christlichen Ländern lebenden jüdischen Religionsgemeinden zu [<< 26] neuen Selbstdefinitionen zwang), „lautet kein einziges: du sollst glauben oder nicht glauben; sondern alle heißen: Du sollst tun oder nicht tun! Dem Glauben wird nicht befohlen, denn der nimmt keine anderen Befehle an, als die im Weg der Überzeugung zu ihm kommen.“ 21
Das Christentum hingegen, das zwischen Glauben und Vernunft unterschied, entwickelte ein mächtiges Bedürfnis, die weltliche Wirklichkeit den Glaubensgrundsätzen anzupassen. Für das christliche Denken stellte die Veränderung der Welt, der wahrnehmbaren Wirklichkeit eine religiöse Notwendigkeit dar. Nur so ließ sich der Abgrund zwischen Metaphysik und Physik, zwischen Geist und Körper überbrücken. Wissenschaft und Logik wurden vom Glauben an die Leine genommen. Deshalb begleitet die christliche Wissensgeschichte auch eine seltsame Paradoxie. Keine andere Religion der Welt hat die Erkenntnisse der Wissenschaft und der Vernunft so erbittert bekämpft und verfolgt wie die christliche. Zugleich hat aber auch keine andere religiöse Kultur so viele Wissenschaftler und wissenschaftliche Neuerungen hervorgebracht wie das Christentum.22 Das lässt sich nicht mit der Tatsache erklären, dass die Neuerer Häretiker gewesen seien. Das waren sie ganz entschieden nicht: Ein Gutteil der Neuerungen kam aus den Klöstern selbst; und auch außerhalb der kirchlichen Strukturen waren die Neuerer – bis tief in die Neuzeit hinein – zumeist gläubige Christen. Descartes zum Beispiel erklärte: „Die Philosophie ist wie ein Baum. Die Wurzeln sind die Metaphysik, der Stamm ist die Physik, und die Zweige sind die anderen Wissenschaften.“ 23 Er entwarf also das Bild einer Wissenschaft, die das Sichtbare (oder die Natur) als das Produkt oder Ergebnis des Unsichtbaren oder des Transzendenten betrachtete. Dennoch vergleicht er den menschlichen Körper mit einem Räderwerk,24 also einer Schöpfung des menschlichen Erfindergeistes. Damit machte er Gott, an den er als Schöpfer glaubte, zu einem idealen Mechaniker – d. h. zum ‚Ebenbild‘ des Menschen. Für Leibniz, auch er zutiefst gläubig, wurden Maschine [<< 27] und Uhrwerk sogar zu einer Art von Gottesbeweis: „So ist jeder organische Körper eines Lebewesens sozusagen eine göttliche Maschine oder ein natürlicher Automat, der alle künstlichen Automaten unendlich übertrifft […]. Aber die Maschinen der Natur, d. h. die lebenden Körper, sind noch in ihren kleinsten Teilen, bis ins Unendliche, Maschinen.“ 25 In diese Logik bezog er auch die Seele ein, von der er schrieb, dass sie „ein geistiger, bewunderungswürdiger Automat“ sei, der „durch göttliche Präformation erzeugt“ werde.26 Hinter einer solchen Vorstellung von ‚Wissenschaft‘, die den göttlichen Plan mit den Erfindungen des menschlichen Geistes und den Glauben mit wissenschaftlicher Neuerung in Eins setzte, steckte ein Neuerungsdrang, der dem Christentum eigen war und als eine Art von Dialektik zu verstehen ist, die dem aufeinanderfolgenden Ausschluss und Einschluss von Geschlechtlichkeit ähnelt: Gottfremdes Wissen wird zunächst ausgelagert und verfolgt, bis es zu einem Teil des christlichen ‚Heilsplanes‘ geworden ist. Diese Dialektik hat die christliche Wissensordnung von Anfang an begleitet und wirkt bis in die moderne Wissenschaft weiter, denn den Kern dieses ‚Heilsplans‘ bildet die Herstellung einer spezifischen, sich dem Prinzip der Berechenbarkeit verdankenden Wissensordnung. Dass ausgerechnet das Christentum, das stärker als irgendeine andere Religion auf dem Prinzip des Glaubens beruht – d. h. auf einem Prinzip, das der von der hard science gestellten Forderung nach ‚Verifizierbarkeit‘ widerspricht –, diese Dialektik vorangetrieben hat, ist nicht notwendigerweise ein Widerspruch, begreift man den ‚Glauben‘ als eine historische Triebfeder und die Wissensordnung als das Ziel dieses Triebs. Während Sexual- und der Todestrieb zu den Charakteristika des Individuums gehören, zeichnet sich die Triebstruktur des sozialen Körpers durch die Berechenbarkeit aus, und der deutlichste Niederschlag einer solchen Triebstruktur ist die Wissensordnung. Das Produkt dieses abendländischen Neuerungsdrangs bestand in einer Vorstellung von „Wissen“, die der Philosoph und Sozialwissenschaftler Cornelius Castoriadis als eine spezifische Idee von „rationalem Wissen“ bezeichnet hat:
„Die aufeinander folgenden Umwälzungen, die sich im ‚rationalen Wissen‘ aller bekannten Gesellschaften finden lassen, setzen stets einen grundlegenden Wandel des gesamten imaginären Weltbildes (und der Vorstellungen vom Wesen und Ziel des Wissens selbst) voraus. Die letzte dieser Umwälzungen, die vor einigen Jahrhunderten im Abendland stattfand, [<< 28] hat jene eigentümliche imaginäre Vorstellung geschaffen, der zufolge alles Seiende ‚rational‘ (und insbesondere mathematisierbar) ist, nach der der Raum des möglichen Wissens von Rechts wegen vollständig ausgeschöpft werden kann und wonach das Ziel des Wissens in der Beherrschung und Aneignung der Natur liegt.“ 27
Corpus fictum und organischer Körper
Die Art, wie Theologie, Säkularisierungsprozess und Etablierung der Wissensordnung ineinandergreifen, offenbart sich besonders deutlich an den wechselnden Theorien über den Körper. Diese werden zwar in jeder Epoche neu formuliert und dennoch zu unveränderbarer biologischer Wirklichkeit erklärt. Am deutlichsten wird das, wenn man die Bilder vom kollektiven (oder sozialen) Körper mit denen vom geschlechtlichen Körper vergleicht. Ganz unbestreitbar ist der soziale Körper ein imaginärer Körper: ein corpus fictum oder imaginatum, wie die Theologen die Kirche und die Juristen den Staat nannten.28 Durch die Analogie zum menschlichen Körper sollte dem imaginären sozialen Körper der Anschein von Unteilbarkeit und Leibhaftigkeit verliehen werden. Das heißt, der kollektive Körper hatte sich im individuellen zu spiegeln – und umgekehrt. Da sich aber die Bilder des corpus fictum von einer Epoche zur anderen veränderten, erfuhren auch die dazugehörigen medizinischen, biologischen und juristischen Konzepte des organischen Körpers immer wieder neue Definitionen.29 Das heißt, die Selbst-Konzepte des sozialen Körpers bestimmten über das ‚Wissen‘ von ‚dem Körper‘. Diese Spiegelbildlichkeit bildet eines der wichtigsten Scharniere zwischen der Geschichte der Wissensordnung und der Geschichte der Geschlechterordnung, und sie offenbart zugleich den engen Zusammenhang zwischen Physik und Metaphysik.
Die wandelbaren Bilder des corpus fictum hängen ihrerseits eng mit den medialen Techniken zusammen, über die eine Epoche verfügt und die das Gesicht und die Wissensordnung dieser Epoche prägen. Da die Medien sowohl über die Form der kommunikativen Vernetzung einer Gemeinschaft als auch über das gespeicherte Wissen ihrer Epoche bestimmen, sind sie auch ‚formatierend‘ für die Gestalt des sozialen Körpers [<< 29] und seines Spiegelbildes, des menschlichen Körpers. Deutlich ist die Interdependenz von Medien und Wissensordnung im Bezug zum Körper nachzuvollziehen an den aufeinanderfolgenden Vorstellungen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Als der elektrische Strom aufkam, wurde die Tätigkeit des Gehirns mit dem elektrischen Netz und Stromstößen verglichen; dieses Erklärungsmuster wurde abgelöst vom Bild des Telegrafennetzes, auf dieses folgte das Modell des Rechners, und heute beruft sich die moderne Hirnforschung gerne