der ‚reinste‘ der Sinne gilt, weil er – Distanz zum Objekt voraussetzend – einen hohen Abstraktionsgrad ermöglicht. Hier liegt einer der Schlüssel zum Verständnis des engen Zusammenhangs, den die Moderne zwischen Sehen und Wissenschaft hergestellt hat: Der Begriff der ‚Erkenntnis‘ ist fast zu [<< 16] einem Synonym für Betrachten geworden, und das gilt nicht nur für die Objekte des Wissens, die sich durch das Mikroskop oder andere technische Sehgeräte betrachten lassen – es gilt auch für die am Rechner erstellten Bilder, die etwas ‚sichtbar‘ machen, das eigentlich gar nicht zu sehen ist, etwa die Tätigkeit des Gehirns oder die Doppelhelix der Genwissenschaft. Ausgerechnet diese synthetischen Bilder, die nicht etwa abbilden, sondern eine symbolische Umsetzung für Vorgänge bieten, die in bildhafter Form ‚vorstellbar‘ werden, sind heute zu einer Art von Logo der ‚reinen Wissenschaft‘ geworden, die sich der sinnlichen Wahrnehmung – auch in ihrer abstraktesten Art: dem Auge – entzieht. Auch diese synthetischen Bilder verweisen, wie die Biologisierung theologischer Diskurse, zugleich auf die Einlagerung von Geschlechtercodes in die Wissenschaft.
Allgemein impliziert der Begriff der ‚Reinheit‘ in der Wissenschaft, dass das Wissen von der sinnlich wahrnehmbaren Welt und den ‚Gefühlen‘ fernzuhalten ist; es geht also auch um den Ausschluss von Emotionen und von allen Bereichen des Menschlichen, die mit dem Begriff des Subjektiven, des Irrationalen oder gar der ‚Leidenschaften‘ einhergehen. Deshalb spielt für die ‚Reinheit‘ auch das psychologische Moment eine wichtige Rolle. Das griechische Wort ‚Katharsis‘ bedeutet Reinigung und beinhaltet das Abreagieren von Affekten. Aristoteles sah in der Tragödie ein Mittel, die Katharsis herbeizuführen. Die Pythagoräer vertraten dagegen die Ansicht, dass sich Angstgefühle am besten durch Musik überwinden lassen, da sie von allen Künsten der Mathematik am nächsten stehe. Die moderne Psychologie und Psychoanalyse – mit ihrem ‚chimney sweeping‘, wie Joseph Breuers Patientin Anna O. die Vorgänge nannte 6 – setzt ebenfalls auf eine Form von Katharsis, die einer ähnlichen Metaphorik folgt: Durch Verbalisierung und Bewusstmachung soll die Seele von Bedrückendem gereinigt werden. Andere Formen von Therapie versuchen, seelische Konflikte durch ‚Abreagieren‘ aufzulösen. In jedem Fall aber geht es darum, dass es ‚reines Wissen‘ – und das heißt berechenbares, verifizierbares Wissen – nur unter dem Ausschluss von Gefühlen geben kann, die ihrerseits als ‚unrein‘ zu gelten haben. Auch auf diesem Gebiet ist freilich ein paradoxer historischer Prozess zu beobachten, bei dem auf den Ausschluss von Geschlechtlichkeit – die ganz allgemein für ‚das Gefühl‘ (im kollektiven Singular) steht – eine neue und positive Bewertung der Gefühle, also deren Einlagerung folgt: deutlich zu beobachten an der Kultivierung der ‚Empfindsamkeit‘ um 1770 oder später, etwa in der Décadence, an einer neuen Begeisterung für Sinnlichkeit und [<< 17] ‚Leidenschaft‘ bzw. Leiden. Dabei lässt sich zeigen, dass die historischen Veränderungen in der Geschlechterordnung nicht nur die Geschichte der Gefühle beeinflusste, die Norbert Elias so intensiv untersucht hat, sondern auch Rückwirkungen auf den Wandel der Wissensordnung hatte.
Eben weil die ‚Leidenschaft‘ und starke Gefühle als ‚unrein‘ gelten, fällt auch der Sexualtrieb in vielen Kulturen in den Bereich des ‚Unreinen‘, das es zu domestizieren und damit unschädlich zu machen gilt. Dafür gibt es strenge, von einer Kultur zur anderen sich unterscheidende Vorschriften, die etwa festlegen, mit wem der Geschlechtsverkehr ‚rein‘ oder ‚unrein‘ ist. Oder aber die ‚Reinheit‘ wird hergestellt, indem die Bereiche des (asexuell) Heiligen und des (sexuell) Profanen streng voneinander getrennt werden. Eine dritte Form des Umgangs mit der Sexualität bestand in ihrer ‚Heiligung‘, also gerade in der Vermischung des Profanen mit dem Transzendenten. In der christlichen Theologie, die für die westliche Wissensordnung bestimmend werden sollte, wurde die Vorstellung, dass durch Sexualität Leben erzeugt wird, zunehmend verdrängt durch die Auffassung, dass der reine Geist als ‚fruchtbarer Same‘ zu wirken habe. Solche Konstruktionen implizierten immer die Gleichsetzung des weiblichen Körpers, da wo er Körperlichkeit und Sexualität symbolisierte, mit einer ‚unreinen‘ Zeugungsfähigkeit. Wenn Frauen also über Jahrhunderte von klerikalen Ämtern, von kultureller Tätigkeit und vor allem von wissenschaftlicher Arbeit ausgeschlossen blieben, so stand dahinter die Vorstellung, dass der weibliche Körper eine gefährliche Kontamination für die ‚Reinheit‘ des ‚Wissens‘ darstelle.
Insgesamt bedeutet ‚Reinheit‘ in der Wissenschaft also, dass die Forschung durch keine Elemente des Psychischen, des Historischen oder des ‚Subjektiven‘ beeinflusst werden darf. Ging die Theologie noch von einer ‚Reinheit‘ des Wissens aus, das vor allem durch die Sexualität (oder die Leiblichkeit) kontaminiert werden konnte, so gehen die modernen Naturwissenschaften von einen Prinzip der ‚Reinheit‘ aus, das auf dem Ausschluss jedes Zufalls beruht und deshalb in seiner ‚reinsten Form‘ nur im Labor durchgeführt werden kann, wo die Einflüsse der äußeren Welt und das Subjekt des Betrachters auf ein Minimum reduziert sind. Allerdings ist der Unterschied zum theologischen Ausschluss der Leiblichkeit nicht so groß, wie er scheint. Er hat sich nur auf ein anderes Feld verlagert. Hielt sich der Kleriker im Kloster und durch Askese von den schädlichen Einflüssen des irdischen Lebens und seiner Leiblichkeit fern, so übernimmt nun das Labor diese Funktion. Es ist zur modernen Form des Klosters geworden. In dieser Form der Abgeschiedenheit wird keine Askese gefordert, sondern der ‚wissenschaftliche Leib‘ selbst ausgeschlossen, stellt dieser doch ein potentielles Einfallstor des ‚Unreinen‘ und des Zufalls dar. Das heißt, idealiter hat sich die moderne Wissenschaft von der Forderung nach einer ‚Reinheit‘ ihres Trägers [<< 18] verabschiedet; als vollkommen ‚reine Wissenschaft‘ empfindet sie sich erst dann, wenn es ihr gelingt, diesen Wissenschaftler völlig zu ersetzen. Da dies nur in den Naturwissenschaften, zumindest als Phantasie, möglich ist, in den Geisteswissenschaften hingegen an der notwendigen ‚Empfindsamkeit‘ des Forschers scheitern muss, ist hier eine der Erklärungen für die neue Wissensordnung zu suchen. Hard science heißt im Idealfall science without the body of the scientist. Interessanterweise ist eben dies der historische Moment, in dem die Frau, Verkörperung der Körperlichkeit, das Reich der Wissenschaft betritt. Da sich die ‚Reinheit‘ der Wissenschaft – im Prinzip – von der Forderung nach einer ‚Reinheit‘ des Forschers unabhängig gemacht hat, gilt auch die Wissenschaftlerin nicht mehr als kontaminierend.
Die Einlagerung von Geschlechtercodes in die Wissenschaft: Sexualisierung und Entsexualisierung
Wenn sich die westliche Wissensordnung durch die Bereinigung des Wissens vom Subjektiven, Irrationalen und Sexuellen konstituieren konnte, so stellt sich die Frage, warum Frauen – und damit auch ihre Funktion, die ‚Sexualität‘ zu repräsentieren – in eben dem historischen Moment in der Wissensordnung zugelassen werden, wo Sexualität und Zufall ausgeschlossen werden. Um auf diese Frage zu antworten, sei noch einmal der Blick auf die Entwicklung der Wissenschaften gerichtet und danach gefragt, wie es ‚die Wissenschaft‘ (im kollektiven Singular) überhaupt so weit bringen konnte, dass ihr Traum von einem Labor-gerechten Forscher, der ebenso ‚rein‘ ist wie die Wissenschaft selbst, also von einem Labor ohne Forscher, in greifbare Nähe rückte. Die Voraussetzungen für die Erfüllung dieser Wissenschaftsutopie schufen die Errungenschaften der Wissenschaft auf dem Gebiet der medizinischen Forschung, als es diesen gelang, den menschlichen Körper – und damit auch den forschenden Körper – zu einem Produkt zu machen, das sich im Reagenzglas fabrizieren ließ. Mit der Entdeckung des Eisprungs um 1830, mit einer genaueren Kenntnis der Zeugungsvorgänge um 1875 (dank verbesserter Mikroskopiertechnik) hatte die westliche Wissenschaft den Zugang zu einem Wissen entdeckt, das von Anfang an die abendländische Wissensphantasie beschäftigte: die Reproduktion des Menschen nach geplanten, den Zufall – vor allem den Zufall der sexuellen Anziehungskraft – ausschließenden Mechanismen. Damit rückte eine alte abendländische Wissenschaftsphantasie ihrer Realisierung um einen entscheidenden Schritt näher. Sie hatte begonnen mit Platon und seiner im ‚Staat‘ entwickelten Vorstellung einer geplanten Fortpflanzung der menschlichen Gemeinschaft, sie hatte sich ‚wissenschaftlich‘ niedergeschlagen in den [<< 19] aristotelischen Theorien über ‚die Zeugung der Geschlechter‘; und sie fand im christlichen Topos vom ‚geistigen Samen‘ ihre theologische Ausformulierung. Zwar wird