näher zu bringen. Der Mensch aus der Retorte – ob als Cyborg oder als anderes künstliches Wesen – stellt die Zukunfts- und Wissenschaftsphantasie des 20. Jahrhunderts dar. Doch es ist bemerkenswert, wie selten in den Filmen oder Romanen, die dieser Phantasie Ausdruck verleihen, der Gedanke formuliert wird, dass das eigentliche Ziel moderner Wissenschaftsphantasien die Erzeugung des Wissenschaftlers selbst ist. Jede Elite einer gesellschaftlichen Hierarchie nutzt ihre Macht über die Medien des Wissens dazu, das Gedächtnis und die Geschichte dieser Gesellschaft im eigenen Sinne um- und für die Zukunft festzuschreiben. Warum sollte dann andersherum nicht auch eine vom ‚Leib des Forschers‘ befreite Wissenschaft dafür sorgen, ihre eigenen, das heißt, diese Wissenschaft perpetuierenden Wissenschaftler hervorzubringen?
Die neue Wissensordnung bedarf, wie die alte, ihrer ‚Biologisierung‘ – und sie bedarf der ‚Naturalisierung‘ in verstärktem Maße und zugleich in anderer Form. Hatte die ‚alte Wissensordnung‘ alles auszuschließen gesucht, das sich ihr auf dem Weg zur ‚reinen Abstraktion‘ widersetzte, darunter vor allem die Geschlechtlichkeit, so hat die ‚neue Wissenschaft‘ die Parameter für die ‚Erzeugung‘ des neuen Forschertypus zu schaffen. Diese Aufgabe verlangt nach einer Biologisierung, die nicht etwa vorhandene Geschlechterbinaritäten ‚benutzt‘, sondern diese ganz neu erstellt. Damit kommen wir zur Frage nach der Einlagerung von Geschlechtercodes in die Wissenschaft. Auf diese Frage gibt es zunächst eine einfache Antwort: Da ‚Weiblichkeit‘ mit der Entstehung der westlichen Wissens- und Geschlechterordnung als Code für Sexualität eingesetzt wurde, liegt es nahe, dass dieser Code auch herangezogen wird, um die neue Wissensordnung mit einer sexuellen Chiffre zu versehen und zu biologisieren. Anzeichen für eine geschlechtliche Aufladung von Wissensstrukturen durchsetzen nicht nur die Metaphorik der modernen Wissensordnung selbst, sie sind auch deutlich wahrzunehmen im Sprachgebrauch und den Bildern der modernen Kommunikations- und Speichersysteme, die diese Wissensordnung ermöglicht haben: Es genügt, an das Bild der ‚jungfräulichen Festplatte‘, an den ‚binären Code‘ und das ihm zugrunde liegende ‚Lochkartensystem‘ wie auch an die synthetischen Frauenstimmen zu denken, die das ‚Hochfahren‘ des Computers ankündigen.
Über die Art, wie sich die Einlagerung von Geschlechtercodes in einzelnen Wissensfeldern und theoretischen Diskursen vollzogen hat, geben die einzelnen Beiträge dieses [<< 20] Bandes Auskunft. Sie geben damit auch Auskunft darüber, dass diese Vorgänge durchaus analysier- und entzifferbar geworden sind – eine Tatsache, die sich ihrerseits als der Hauptmotor der Geschlechterstudien und ihres spezifischen ‚Wissensdrangs‘ bezeichnen ließe und mit dem Wandel der Geschlechterordnung, der sich in den letzten hundert bis hundertfünfzig Jahren vollzogen hat, unmittelbar zusammenhängt. Diese fand in neuen Theorien über den Geschlechtstrieb ihren deutlichsten Niederschlag, und – bemerkenswert genug – diese neuen Theorien entwickelten sich zeitlich parallel zum Wandel der Wissensordnung und zur allmählichen Aufnahme von Frauen in den Wissensbetrieb.
Der Diskurs über Weiblichkeit als Repräsentation des Sexualtriebs erfährt Mitte des 19. Jahrhunderts eine völlige Umkehrung, auf die schon der Schriftsteller und Sexualforscher Henry Havelock Ellis (1859 – 1939) um 1900 in seinen Werken zur Sexualpsychologie aufmerksam gemacht hat.7 Ellis weist darauf hin, dass die Theorien zum Sexualtrieb über Jahrhunderte eine Konstante aufwiesen, laut denen der Sexualtrieb der Frau dem des Mannes weit ‚überlegen‘ sei. Er verweist auf den griechischen Mythos vom ‚Seher‘ Teiresias, der von Hera mit Blindheit geschlagen wurde, weil er das ‚Geheimnis der Frauen‘ verriet, laut dem der weibliche Geschlechtstrieb ‚neunmal höher‘ sei als der des Mannes. Ellis zitiert den römischen Dichter Juvenal, der schrieb, dass gewiss keine Frau Interesse daran haben könne, ein Mann zu werden, „denn wie klein ist seine Wollust verglichen mit der ihrigen“; und Ellis führt auch die wissenschaftlichen Theorien von Galen an, der die Ansicht vertrat, dass es für die Frau wegen ihres starken Sexualtriebs sehr viel schwieriger sei, im Zölibat zu leben, als für den Mann.8 Auf solchen Vorstellungen, die sich spielend zwischen Mythos und Wissenschaft bewegten, basierten die Vorkehrungen, die eine Domestizierung oder Neugestaltung des Weiblichen im westlichen Denken vorsahen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts tauchen jedoch zunehmend ‚wissenschaftliche‘ Vorstellungen auf, die genau das Gegenteil behaupten. In England veröffentlicht Agton eine Schrift, in der er behauptet, dass die Annahme, „dass alle Frauen geschlechtlich empfinden, eine niedere Beschimpfung“ sei. Fehling in Basel erklärt, dass die Sexualität in der Liebe eines jungen Mädchens als „pathologisch“ einzustufen sei,9 während der deutsche Psychiater Näcke versichert: „Die Frauen sind im allgemeinen weniger sinnlich als die Männer.“ 10 Gewiss lassen sich solche Aussagen als das abtun, was sie waren: als ‚unwissenschaftlicher‘ Versuch, eine neue symbolische [<< 21] Geschlechterordnung zu etablieren. Nur ist erstens zu bedenken, dass diese Aussagen als ‚Wissenschaft‘ daherkamen, gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch verstärkt durch die Theorien hoch angesehener Wissenschaftler wie Richard von Krafft-Ebing, der in seiner ‚Psychopathia Sexualis‘ verkündet, dass „der Mann, welcher das Weib flieht, und das Weib, welches dem Geschlechtsgenuss nachgeht, abnorme Erscheinungen“ seien;11 und zweitens stellt sich die Frage: Warum entsteht diese neue Geschlechterordnung und worin besteht ihr Gewinn für die Etablierung der neuen Wissensordnung?
Die neue Wissensordnung ‚entdeckt‘ nicht nur die Überlegenheit des männlichen Geschlechtstriebs, sie stellt auch – zum ersten Mal seit der Geburt der abendländischen Wissensordnung – ausdrücklich den Zusammenhang zwischen Geschlechtstrieb und geistiger Aktivität her und pocht damit auch auf seine Rolle für die Weiterentwicklung des Wissens. Das mag zunächst wie ein Widerspruch zu der vorher entwickelten These klingen, dass das Ideal der Wissensordnung the scientist without a body, also erst recht der Wissenschaftler ohne Unterleib ist. Doch der Widerspruch löst sich bei genauerer Betrachtung. Die Zusammenführung von Geschlechtstrieb und Wissensordnung geschieht einerseits durch physiologische Theorien wie die von Charles Darwin und andererseits durch psychologische Erklärungsmuster wie die von Sigmund Freud. Beide theoretischen Schulen begründeten die ‚Überlegenheit‘ männlicher Geistigkeit – also Wissensfähigkeit – entweder mit der ‚Überlegenheit‘ des männlichen Sexualtriebs oder aber mit der ‚Männlichkeit‘ des Geschlechtstriebs selbst. Auffallend an der physiologischen Begründung ist die Berufung auf das Tierreich und die Natur. Waren bis hierher Wissenschaft und Wissensfähigkeit mit der Unterscheidung von Kultur und Natur begründet worden, so wird nun die Ähnlichkeit von ‚Männlichkeit‘ mit den Trieben der Tiere und Primaten betont, um ‚geistige Überlegenheit‘ zu erklären. Darwin vertritt die Ansicht, dass sich der Unterschied aus den intellektuellen Kräften der Geschlechter – der sich darin zeige, „dass der Mann in allem, was er beginnt, zu größerer Höhe gelangt, als es die Frau kann, mag es nun tiefes Nachdenken, Vernunft oder Phantasie oder den bloßen Gebrauch der Sinne und Hände erfordern“ –, dass sich dieser Unterschied also aus den Gesetzen der geschlechtlichen Zuchtwahl ableite. Laut diesen Gesetzen hätten unter den Männern der „halbmenschlichen Vorfahren des Menschen und unter wilden Völkern […] viele Generationen hindurch Kämpfe um den Besitz der Frauen stattgefunden“.12 Die psychologische Beweisführung Freuds ist anders, führt aber zu demselben Ergebnis. Auch Freud betrachtet die Libido als [<< 22] Voraussetzung für geistige und kulturelle Aktivität. Er macht zwar den Unterschied zwischen dem „Gelehrten“, der seiner Tätigkeit zuliebe auf Sexualität verzichten muss, und dem Künstler, der mit „abstinentem Lebenswandel“ nicht recht vorstellbar sei und dessen „künstlerische Leistung durch sein sexuelles Erleben mächtig angeregt“ werde. Aber ganz allgemein, so fügt er hinzu, habe er nicht den Eindruck gewonnen, „dass die sexuelle Abstinenz energische, selbständige Männer der Tat oder originelle Denker, kühne Befreier und Reformer heranbilden helfe“.13 Doch in jedem Fall – ob nun die Sexualität sublimiert wird oder nicht – bildet für ihn der Sexualtrieb die