gelten hat, verwalten sie auch die Art, wie eine Gemeinschaft als Körper ‚funktioniert‘. So entsteht eine Wechselwirkung: ‚Die Wissenschaft‘ erfindet Techniken, die ihrerseits über die Gestalt des sozialen Körpers bestimmen. Der soziale Körper wiederum bringt eine bestimmte Wissensordnung hervor, der das Wissen über den menschlichen Körper unterliegt.
Die Vorstellung von der Ähnlichkeit des sozialen und des menschlichen Körpers wirkt sich aus auf die Geschlechterordnung und die geschlechtlich codierte ‚Gestaltung‘ des Sozialkörpers. Ein Beispiel: Paulus beschreibt das Verhältnis von Christus und Glaubensgemeinschaft, indem er sich auf die Analogie von Gemeinschaft und Leib beruft: „Weil es ein einziges Brot gibt“, so sagt er, „sind wir Vielen ein einziger Leib.“ 30 Die einzelnen Gläubigen bezeichnet er als ,Glieder‘, die in Christus einen unteilbaren Körper bilden.31 In dieser Konstruktion ist Christus wiederum das ‚Haupt‘ der Gemeinde und diese sein ‚Leib‘.32 Diese Körpermetaphorik überträgt er auf die Geschlechterordnung und die Rolle von Mann und Frau in der ehelichen Verbindung. Ebenso wie Christus das Haupt der Gemeinde sei, so solle auch in der Ehe der Mann das Haupt der Frau und sie seinen Leib bilden. Paulus: „So sollen auch die Männer ihre Frauen lieben wie ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst.“ 33 Deutlicher als in diesem Bild eines Hauptes, das seinen eigenen Leib heiratet, lässt sich das Gesetz von der Unauflösbarkeit der Ehe, das von allen Religionen der Welt nur das Christentum kennt, kaum benennen. Augustinus übertrug diese Vorstellung auf das Verhältnis von Geist und Fleisch, das es zu domestizieren, aber nicht zu verachten gelte. „Hassen wir aber nun wirklich das Fleisch, wenn wir wünschen, dass es [<< 30] uns gehorche? In der Regel weist ein jeder in seinem Hause seine Gattin zurecht und macht sie gefügig, falls sie widerspenstig ist, aber er verfolgt sie nicht als seine Feindin.“ 34
Das Bild des Hauptes, das seinen eigenen Leib heiratet, wurde zu Beginn der Neuzeit von englischen Kronjuristen aufgegriffen, um das Verhältnis von Souverän und Reich zu charakterisieren; es wurde also aus der theologischen Sphäre in jene des Staates übertragen.35 Auch die sexuelle Codierung wurde übernommen: So wie Christus als ‚Bräutigam‘ der Glaubensgemeinschaft galt und der Bischof bei seiner Ordination zum sponsus der Kirche wurde – der Ring, den er über seinen Finger streifte, besiegelte die Ehe 36 –, so wurde im Spätmittelalter auch der König bei seiner Krönung zum ‚Gatten‘ des Reichs ernannt, zum maritus rei publicae.37 Diese Ehemetaphorik wirkte ihrerseits auf die Geschlechterordnung zurück und prägte die Vorstellung von der ‚Natur‘ der Geschlechterordnung.38 An das Haupt-Leib-Modell für Ehe und Gemeinschaft schlossen noch die Pädagogen der Aufklärung wie Theodor Gottfried von Hippel an, der 1774 schrieb: „Der Mann soll über das Weib herrschen wie die Seele über den Leib.“ 39 Solche Ehemetaphern verdankten ihre Überzeugungskraft der Tatsache, dass sie an die alte Dichotomie anschlossen, die Männlichkeit mit Geist und Weiblichkeit mit Leiblichkeit assoziierte. Und sie wirkten zurück auf die Wissensordnung.
Der soziale Körper als corpus fictum erschafft sich also im physiologischen Körper sein Spiegelbild – und umgekehrt. Genwissenschaftlich gesprochen könnte man auch sagen: Sozialer Körper und menschlicher Körper klonen sich gegenseitig – und zwar so, dass zuletzt niemand mehr weiß, welcher das Original und welcher die Reproduktion ist. Geleitet wird dieser Prozess von einer Wissenschaft, die das Produkt medialer Techniken ist, die sich ihrerseits wissenschaftlichen Errungenschaften verdanken. [<< 31]
Das heilige Gen
Dass in der christlichen und postchristlichen Gesellschaft eine enge Beziehung zwischen Wissenschaft und Metaphysik besteht, lässt sich am deutlichsten an den Wissenszweigen darstellen, die um ‚das Gen‘ entstanden sind. Das Gen ist als die Körper- und Wissenschaftsmetapher der Moderne zu bezeichnen, und nicht durch Zufall firmieren die Disziplinen, die genetische Forschung betreiben, inzwischen unter dem Namen ‚Lebenswissenschaften‘. In den Genwissenschaften verbinden sich mediale Techniken wie die Schrift, das Alphabet und der binäre Code 40 mit Wissen und religiösen Paradigmen, und diese spiegeln sich ihrerseits in den beiden Konzepten des Körpers wider, dem biologischen und dem sozialen. In den Genwissenschaften verbinden sich also die verschiedenen zur Etablierung der Wissensordnung notwendigen Faktoren – mediale Techniken, sozialer Körper, physiologischer Körper – und zugleich spiegeln sich in ihrer Geschichte die historischen Transformationsprozesse wider, die die Geschichte der Wissensordnung wie die Geschichte der symbolischen Geschlechterordnung durchlaufen hat.
Die Genforschung wird oft als Selbstermächtigung des Menschen interpretiert, als Versuch, sich göttliche Macht anzueignen, und in dieser Hinsicht als der christlichen Demut konträr beschrieben. Es lässt sich aber auch die gegenteilige These aufstellen: dass nämlich der Diskurs über das Gen in der christlichen Tradition selbst verhaftet ist und diese fortführt. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Genwissenschaft als Religion mit transzendenter Botschaft zu betrachten sei, sondern vielmehr, dass sie sich den Strukturen christlichen Denkens – und einem spezifisch christlichen Säkularisierungskonzept, das die Weltwerdung der Heilsbotschaft einfordert – verdankt. Ist Christus der Fleisch gewordene Logos, so geht es in der Wissenschaft vom Gen um das Biologie gewordene Bit. In beiden Fällen hängen die ‚Heilsbotschaften‘ eng mit den jeweiligen medialen Errungenschaften zusammen: Dem Christentum war die Erfindung des griechischen Alphabets vorausgegangen, der Genwissenschaft die Erfindung des binären Codes.
Nichts ist schwieriger zu definieren als das Gen, das als eine linguistische Fiktion begann, erfunden vom dänischen Genetiker Wilhelm Johannsen im Jahre 1909, um eine angenommene Zelleneinheit zu beschreiben, die bestimmte Eigenschaften [<< 32] hervorrufen kann. Johannsen übernahm den Begriff wiederum von dem deutschen Physiologen Hugo DeVries, der den Begriff des ‚Pangens‘ von Charles Darwins ‚Pangenesis‘ abgeleitet hatte: Mit Pangenesis (der Verweis auf die Bibel kommt nicht von ungefähr) war die Theorie über den Ursprung der biologischen Variation gemeint. Für die erste Generation der experimentellen Genetiker Anfang des 20. Jahrhunderts bezeichnete das ‚Gen‘ eine physische Eigenschaft – die Flügelform oder Augenfarbe der Fliege Drosophila zum Beispiel, die sich von einem (bis dahin nicht identifizierten) Substrakt von Erbmaterial herzuleiten schien. Heute begreift man DNS (aus der sich das ‚Genom‘ zusammensetzt) nicht als Vorgabe für eine bestimmte körperliche Eigenschaft, sondern als eine Art von Interaktion der ‚Gene‘ mit sich selbst und dem weiteren Umfeld. Wie bei der Hirnforschung spielen auch bei diesem Wandel die neuen medialen Techniken – Computer und Internet – eine wichtige Rolle. Das moderne Konzept des Gens hat dazu geführt, dass der Körper selbst nicht als eine feste Gegebenheit betrachtet wird, sondern – vergleichbar dem Computer – als ein ‚Satz von Anweisungen‘, als ein ‚Programm‘, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. In ihrem Buch The DNA Mystique schreiben Nelkin und Lindee:
„Menschen sind die ‚Computerausdrucke‘ ihrer Gene. Wenn Wissenschaftler den Text entziffern und decodieren können, die Markierungen auf der Karte klassifizieren und Anweisungen lesen können, so die Vorstellung, dann werden sie auch die Essenz der menschlichen Wesen rekonstruieren, menschliche Krankheit und die menschliche Natur selbst entschlüsseln können, um so die letzten Antworten auf das Gebot ‚Kenne dich selbst‘ zu geben. Der Genetiker Walter Gilbert beginnt seine öffentlichen Vorlesungen über Gensequenzierung damit, dass er eine Kompaktdiskette aus der Tasche zieht und dem Publikum verkündet: ‚this is you‘.“