der binären Opposition der Status des Gegebenen, Unhintergehbaren zukomme, kritisierte u. a. Butler die „Metaphysik [<< 41] der Substanz“ als Effekt einer Bezeichnungspraxis, bei der die Begriffe als vorgängige oder außerdiskursive bezeichnet werden und damit deren diskursive Konstitution verschleiert werde.
Mit dem Diskursmodell hatte sich auch die Wissenschaftsforschung Ende der 1980er-Jahre in eine gewisse theoretische Sackgasse manövriert, die sich gleichfalls aus der Relativität der sozialen Konstruktion ergab und in die heftig ausgetragene Streitfrage mündete, ob es jenseits der sozialen Konstruktion noch so etwas wie naturgegebene Realität gebe.69 Hier hatte die letztlich unfruchtbare (weil ontologische) Zuspitzung in Form eines Sozialdeterminismus dazu geführt, dass man sich nunmehr auf den praktischen Herstellungskontext von wissenschaftlichen Tatsachen konzentrierte. Der technological oder practical turn verlagerte (im Gegensatz zum linguistic turn) die Frage der sozialen Konstruktion auf die Ebene der materiellen, d. h. technischen Grundlagen der Wissensproduktion, um die Wechselwirkungen zwischen Diskurs und Praktik, zwischen sozialen Konstruktionen und den material constraints zu untersuchen. Einen entscheidenden Einfluss hatten ethno-methodologisch orientierte Feldstudien, die deutlich machen konnten, dass sich die Herstellung und Stabilisierung von wissenschaftlichen Fakten durch eine Vielfalt sozialer Praktiken auszeichnen, die nur durch Akkulturation zu erwerben sind.70 Mit heuristischen Modellen wie boundary concept oder boundary object wurde nun versucht, die Bedeutung von wissenschaftlichen Tatsachen als Grenzobjekt und Aushandlungsgegenstand unterschiedlicher sozialer Welten zu erfassen, oder es sollten mit der Rekonstruktion von Wissenshybriden die tradierten Dichotomisierungen relativiert, wenn nicht gar aufgelöst werden.71
Diese Überschneidungen in der bislang getrennt verlaufenden Entwicklungsgeschichte der Geschlechter- und Wissenschaftsforschung verweisen nicht nur in die Zukunft eines gemeinsamen Forschungsprogramms, in dem die kritischen Ansätze aus beiden Disziplinen produktiv gebündelt werden können, sondern zugleich zurück auf die Anfänge des abendländischen Denkens, wo die Kategorie des Geschlechts – wenn auch häufig verschlüsselt oder verschwiegen – in den Konstituierungsprozessen des Wissens und der Wissenschaft eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat.
Der Begriff der ‚Kategorie‘ geht auf die Anfänge des abendländischen Denkens zurück, in welchem die Aristotelische Lehre von den zehn Kategorien den Schlüssel [<< 42] zum logischen Denken darstellte. Die Kategorienlehre von Aristoteles kennt bekanntlich kein Geschlecht. Wohl aber ist bereits bei Aristoteles das Geschlecht ein Gegenstand der Naturkunde. Es wird vorrangig in seinen naturphilosophischen Schriften in seiner Funktion für die Fortpflanzung thematisiert. Dort findet sich auch jene begriffliche Figur, die mit dem weiblichen Prinzip als passiver Matrix und dem männlichen als aktiver Formgebung das Denken über Geschlecht und die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem bis zur Entstehung der modernen wissenschaftlichen Disziplinen bestimmen sollte. Sie zeigt zugleich, wie eng die naturwissenschaftliche Beschreibung des Geschlechts mit der wissenschaftstheoretischen Reflexion bzw. mit der Kategorienlehre verflochten wurde. Denn für die aristotelische Philosophie war die Fortpflanzung der paradigmatische Fall des Werdens bzw. der Veränderung in der ersten Kategorie des Seins, der Substanz. Das Männliche steht für die Wirkursache, das Weibliche für die materielle Ursache. Was heute als soziale Konstruktion der Geschlechter gilt − dass Männer zur Fortpflanzung die Form, Frauen das Material beisteuern −, galt zur Zeit von Aristoteles als ‚Evidenz der Natur‘.
Bis heute ist Geschlecht Gegenstand der Naturkunde, jener Einzelwissenschaft, die sich auf Aristoteles als ihren Begründer beruft und sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts Biologie oder Life Science nennt. Geschlecht ist somit als verborgene, aber gleichwohl konstituierende Kategorie des wissenschaftlichen Denkens der abendländischen Wissenschaft ursprünglich. Sie begleitete von der klassischen Antike an das begriffliche Denken und wurde zugleich aus der philosophischen Reflexion der dieses Denken begründenden Grundlagen ausgeschlossen.72
Das Denken des Mittelalters war einerseits geprägt von den Traditionen der Antike, andererseits setzten sich aber auch neue wissenschaftliche Denkmuster durch, die sich vornehmlich christlichen Traditionen verdankten. War zunächst das asketische Ideal des Frühchristentums prägend für das Verhältnis von Glauben und Wissen, so wurden allmählich die Gelehrsamkeit der Klöster und dogmatisch-christliche Glaubensinhalte ausschlaggebend für das wissenschaftliche Denken, das alte heidnische Wissensformen überlagerte, integrierte oder verdrängte. In der Mystik des Hochmittelalters bezogen sich ‚Wahrheit‘ und ‚Wirklichkeit‘ auf ein transzendentes Wissen, das wiederum das [<< 43] Körperbild des mittelalterlichen Menschen wie das medizinische Wissen beeinflusste.73 Die ‚christliche‘ Körperwahrnehmung wirkte sich ihrerseits auf die Geschlechterbilder aus.74 Die Scholastik unternahm den Versuch, die christlichen Glaubensinhalte mit den Wissenstraditionen der Antike und deren auf der Ratio basierenden Wissensbegriff zu verbinden. Für die Mystik spielten Fragen des Bildes und der Bilderverehrung eine wichtige Rolle, was wiederum in der symbolischen Geschlechterordnung einen Ausdruck fand. War die weibliche Mystik des Mittelalters noch geprägt von dem ‚Wissen‘ um die ‚weiblichen‘ Anteile an dem Mensch gewordenen Gott, so sind bildende Darstellungen der Passionsgeschichte, die im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit entstanden, Indices für einen neuen Geschlechtercode, der die ‚Männlichkeit‘ des Erlösers in den Vordergrund rückt.75
Mit dieser Entwicklung kündigen sich schon die Renaissance und ein neues wissenschaftliches Denken an, das auch prägend werden sollte für einen Wandel der Geschlechterordnung. Das christliche Denken übte einen tiefen Einfluss auf die säkulare Welt des Mittelalters aus. War im frühen und im Hochmittelalter das höfische Leben, in dem sich sowohl heidnische als auch christliche Traditionen niederschlugen, noch prägend für sowohl das Wissen als auch für die Geschlechterordnung, so setzt sich nun ein Wandel der Körperwahrnehmung wie der Emotionalität durch.76 Gleichzeitig entwickelt sich mit technischen Neuerungen wie etwa der mechanischen Uhr sowie einer zunehmenden Geldwirtschaft und der allmählichen Durchsetzung einer Gesellschaft, die nach den Gesetzen der Schrift lebt, eine neue Gesellschaftsordnung, die nicht nur Einfluss auf das Wissen und wissenschaftliches Denken, sondern auch auf die Geschlechterrollen ausübt.77 [<< 44]
Aus der aristotelischen Philosophie entwickelte sich – befördert durch die Antikenrezeption der Renaissance – im Abendland eine neue Form der Dichotomie, die prägend wurde für fast alle Bereiche der neu entstehenden Wissenschaften: Das hierarchische Geschlechterverhältnis ist präsent im philosophischen Diskurs, dessen Begriffe von Subjektivität und Autonomie, Freiheit und Gleichheit, Universalität und Transzendenz am männlichen Selbst ausgerichtet sind, während die Vorstellungen von Weiblichkeit, Körper und Natur als Kontrast zu diesen Selbstsetzungen fungieren.78 Ein ähnlicher Prozess vollzog sich mit der Entwicklung der Zentralperspektive auch in der Kunst, der Naturwissenschaft und auf dem Gebiet des Visuellen. Der penetrierende und einseitige männliche Blick imaginiert sich als Schöpfer, der die sichtbare Welt, indem er sie zum Objekt macht, seiner Verfügungsmacht und Kontrolle unterwirft.79 Dieser penetrierende Blick erzeugte nicht nur die Illusion männlicher Subjektivität, er spielte auch für die Entwicklung der Naturwissenschaften sowie für die Entstehung eines neuen Körperbildes eine entscheidende Rolle. Auch für die Naturkunde, die sich wie die Philosophia naturalis auf Aristoteles als ihren Begründer berief, wurde diese geschlechtsspezifische Codierung der Kategorien begründend und bei der Transformation der Naturgeschichte in die modernen Naturwissenschaften umgeschrieben. Sie findet sich heute in den