Geschlechterordnung zur Folge gehabt.
Geschlecht als Wissenskategorie
Obgleich unverkennbar ist, dass die Frage, wie oder warum ‚das Geschlecht‘ aus der Wissenschaft ausgeschlossen bzw. in die Wissenschaft eingelagert worden ist, tendenziell auf die Geschichte der Wissensordnung selbst zielt, ist der Anspruch des Bandes als Hand- und Arbeitsbuch bescheidener: Er konzentriert sich auf die kritische Darstellung der Bedeutung, welche Geschlecht als Analysekategorie in den aktuellen Theoriedebatten spielt, die ihrerseits einen langen historischen Vorlauf haben, aber gerade in der Gegenwart das Selbstverständnis der Wissenschaften in radikaler Weise zu verändern beginnen.56 Ein Blick in neuere Publikationen zeigt, dass in der aktuell boomenden Wissenschaftsforschung 57 die Einsicht in die geschlechtliche Codierung des Wissens [<< 38] und der Wissenschaften noch immer rudimentär ausgebildet ist. In dem repräsentativ aufgemachten Band Bilderwissen 58 heißt es in dem Abschnitt „Ikonen des Intellekts“ in gespielter Naivität: „wie ein Wissenschaftler (Künstler, Schriftsteller, Komponist etc.) aussieht, sollte uns egal sein, auch wenn es sich dabei um eine Frau handelt.“ 59 Abgebildet werden bezeichnenderweise dann jedoch Porträts von Einstein, Herschel und Hawking als charismatische Wissenschaftler, die zeigen, dass ‚große Männer‘ nicht nur Geschichte machen, sondern auch Wissenschaftsgeschichte schreiben. So gängig inzwischen auch die Auffassung ist, dass die Wissenschaften – wie andere kulturelle Praktiken – „historisch und kulturell variable Phänomene“ 60 sind, so wenig Beachtung hat bisher die Tatsache gefunden, dass Wissenschafts- und Geschlechterforschung eine Reihe von parallelen Entwicklungen und Überschneidungen aufweisen.
Seit die gesellschaftliche Benachteiligung und Diskriminierung der Frau in den späten 1960er-Jahren von der akademischen Frauenforschung aufgegriffen wurde, hat sich die Geschlechterforschung in einer engen interdisziplinären Verflechtung mit sozialwissenschaftlichen Theorien und gesellschaftstheoretischen Modellen entwickelt: In den 1970er-Jahren wurde ‚Geschlecht‘ in die Analyse des gesellschaftlichen Lebens und der sozialen Räume, des Zugangs zu und der Teilhabe an politischer Macht und der Verteilung ökonomischer Ressourcen eingeführt und als weitere grundlegende Kategorie der wissenschaftlichen Analyse in den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften etabliert. Hierbei richtete sich das Augenmerk vor allem auf Fragen der Ungleichheit – etwa in der Lohnarbeit und der sozialen Hierarchie.61
Unter dieser Perspektive wurden auch die Wissenschaften in den Blick genommen, als seit den 1970er-Jahren weibliche Karriereverläufe, die Ab- und Anwesenheit von Frauen in den Wissenschaften, die institutionellen Barrieren und deren Folgen untersucht wurden. Dabei führte die feministische Wissenschaftskritik zu einer intensiven [<< 38] Auseinandersetzung mit der Funktion und Bedeutung der Wissenschaften bei der Ausgrenzung von Frauen aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und ihrer Diskriminierung in den unterschiedlichsten sozialen Systemen. In einer Vielzahl von Arbeiten wurde untersucht, wie mit wissenschaftlichen Begründungsmustern soziale, historische, politische und ökonomische Praxen begründet, legitimiert und aufrechterhalten werden. In diesem Zusammenhang wurde vor allem die Instrumentalisierung von Geschlechtsstereotypien, weniger aber die Geschlechtsstereotypien selbst hinterfragt; das heißt es wurde – vereinfacht gesagt – die Verwendung von wissenschaftlichem Wissen thematisiert, die missbräuchliche oder fehlgeleitete Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Tatsachen; diese wurden jedoch als an sich neutral und objektiv angesehen.62
Dieser Zugang entsprach weitgehend dem methodologischen Selbstverständnis der traditionellen Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftsforschung. Zwar wurde die Herstellung und Beurteilung von Wissen seit Karl Mannheim als kontextabhängig betrachtet, doch galt der Inhalt wissenschaftlichen Wissens als weitgehend sakrosankt. So wurden in der traditionellen Wissenschaftssoziologie zwar die Bedingungen der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion, deren Institutionalisierung, Normen und Werte untersucht oder die Motivationen der beteiligten Akteure betrachtet, wissenschaftliche Aussagen (Erkenntnisse und Tatsachen) wurden jedoch nicht weiter hinterfragt. In den 1960er-Jahren rückten mit der sogenannten antipositivistischen Wende [<< 39] jedoch auch der Inhalt und die Struktur des Wissens in den Blickpunkt des Interesses. Die Kritik am naturalistischen Wahrheitsanspruch der Wissenschaften im Allgemeinen und der Naturwissenschaften im Speziellen bildet seitdem einen gemeinsamen Fluchtpunkt der Wissenschafts- und Geschlechterforschung.
Mit der Frage der Kontextabhängigkeit wurde auch die vorgebliche Geschlechtsneutralität des Wissens kritisierbar. In der Geschlechterforschung wurde nun eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Aussagen der Lebenswissenschaften über die Geschlechterdifferenz gesucht, um deren sexistische Annahmen zu enthüllen. Arbeiten aus verschiedenen Disziplinen legten die verborgenen androzentrischen Denkmuster in der wissenschaftlichen Darstellung von Weiblichkeit und Männlichkeit offen oder analysierten die Reinigung und Säuberung wissenschaftlicher Erkenntnisgegenstände von der ihnen zugrunde liegenden Geschlechtlichkeit.63
In der Wissenschaftsforschung wurden ausgehend vom „strong program“ der Sociology of Scientific Knowledge vor allem zwei methodische Ansätze ausformuliert, um das Zusammenwirken von sozialen und kognitiven Bedingungsfaktoren zu erklären und zu beschreiben. Das Interessenmodell führte die jeweilige Wahl zwischen konkurrierenden wissenschaftlichen Aussagen auf das Wirken gesellschaftspolitischer und professioneller oder wissenschaftsstrategischer Interessen zurück und suchte das Soziale an externen Faktoren festzumachen, die das Handeln und Denken der Wissenschaftler gewissermaßen von außen steuern.64 Im Gegensatz dazu begriff das Diskursmodell wissenschaftliche Aussagen als soziale Konstruktion und stellte die Erzeugung, Stabilisierung, wissenschaftliche Anerkennung und gesellschaftliche Durchsetzung in den Fokus der Untersuchung, um die soziale Dimension (wissenschaftliches Ansehen, Geschlechtszugehörigkeit, Zugang zu Fachzeitschriften, Koalitionsbildung oder [<< 40] Mobilisierung der Öffentlichkeit) zu erfassen.65 Beide Ansätze setzen an der Frage an, wie die auch für naturwissenschaftliche Erkenntnisbildung charakteristische Wechselwirkung von sozialen und kognitiven Prozessen analysiert werden kann.
Auch in der Geschlechterforschung wurde zunächst versucht, die Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen den sozialen Verhältnissen und den Androzentrismen der modernen Wissensbestände durch eine Differenzierung „externer“ und „interner“ Faktoren methodisch zu begründen. Analytisches Instrument war die Unterscheidung zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht, die sex als „naturgegebene“ biologische Ausstattung und gender als soziale Konstruktion und kulturelle Zuschreibung begriff.66 Carol Hagemann-White machte jedoch schon früh darauf aufmerksam, dass die unhinterfragte Klassifizierung der Menschen in Männer und Frauen keineswegs unproblematisch ist, da sie die Existenz von zwei – und nur zwei – Geschlechtern als außergesellschaftliches, naturgegebenes und unveränderbares Faktum voraussetze.67 In den 1980er- und 90er-Jahren wurde im Rückgriff auf sprachtheoretische bzw. poststrukturalistische Ansätze, die vor allem in den Kulturwissenschaften relevant geworden waren, kritisiert, dass diese Unterscheidung in letzter Konsequenz dem biologistischen Rahmen verhaftet bleibe, den sie sprengen will.68 Obwohl auch das biologische Geschlecht als diskursive Konstruktion betrachtet und damit die Grundstruktur der angeblich natürlichen Zweigeschlechtlichkeit in Frage gestellt wird, reproduziere die Unterscheidung von sex und gender jene Dichotomie von Natur