von Hostie und Wein in Fleisch und Blut verkündet hat. Und tatsächlich lässt sich das undefinierbare Gen auch am besten mit der Hostie vergleichen, dem corpus christi mysticum, mit dem sowohl der Leib Christi, das ‚fleischgewordene Wort‘, als auch die Gemeinde der Gläubigen bezeichnet wird. Beide Funktionen hat das Gen übernommen. Das Gen ist Zeichen und Fleisch zugleich, eine Metapher für den individuellen und den kollektiven Körper, und es bietet das Versprechen einer fleischlichen Unsterblichkeit. [<< 33] Wie Hostie und Heiliges Abendmahl macht es das Göttliche ‚gegenwärtig‘, es birgt die Erlösung von der ‚Erbsünde‘ (erblicher Krankheit oder Behinderung); und wie bei der Transsubstantiation verspricht es magische Verwandlungen und ‚Wunderheilungen‘. Es ist die Leib gewordene Schrift. Mit der Gentechnologie, so schreibt Hans Jörg Rheinberger,
„wird das Labor, diese privilegierte Schmiede epistemischer Dinge, in den Organismus selbst verlegt und damit potentiell unsterblich, fängt sie doch an, mit der eigenen Schreibmaschine des Seins zu schreiben. Das größte Entzifferungsprojekt dieses Jahrhunderts, das Vorhaben, das menschliche Genom zu sequenzieren, ist auf den Weg gebracht – auf den Weg des Biochip.“ 42
Allein die Tatsache, dass es sich um einen Vorgang des Sequenzierens handelt, verweist auf die Buchstabenkette des Alphabets, und Genwissenschaftler selbst sprechen von der ‚Entzifferung‘ der genetischen Zusammensetzung oder dem Alphabet des Genoms. So wie die Buchstaben des Alphabets eine eigene historische Wirkungsmacht entwickelten,43 so verspricht auch dieses ‚Programm‘ den Körper zu verwandeln.
„Die Schrift des Lebens ist in den Schriftraum des Labors transponiert, zum epistemischen Ding gemacht, in die Welt der mittleren Dimensionen geholt, in denen unsere Sinnesorgane operieren. Der Biologe, als Forscher, arbeitet nicht mehr mit den Genen der Zelle – er weiß ebensowenig wie jeder andere, was das ‚wirklich‘ ist – er arbeitet mit experimentell in einem Repräsentationsraum produzierten Graphemen. Wenn er wissen will, was sie bedeuten, hat er keine andere Möglichkeit, als diese Artikulation von Graphemen durch eine andere zu interpretieren. Die Interpretation eines Sequenzgels kann nie etwas anderes sein als ein weiteres Sequenzgel.“ 44
Genetiker selbst vergleichen das Gen manchmal mit ‚der Bibel‘, dem ‚Heiligen Gral‘, dem ‚Buch des Menschen‘.45 Es erscheint wie ein sakraler Text, der über die Schö [<< 34] pfung der Natur wie über die moralische Ordnung bestimmt. Manchmal wird das Gen auch mit einem ‚Wörterbuch‘, einer ‚Bibliothek‘, einer ‚Karte‘, einem ‚Rezept‘, einem ‚Referenzwerk‘ verglichen. Auch Christus ist Gral, Buch, Bibel und Speise zugleich. Ebenso wie Christus Gott und Mensch, unsichtbar und dennoch materiell ist, verbinden sich auch in DNS Kultur und Natur, Zeichen und Fleisch. In den Worten von James Watson, Nobelpreisträger und ehemaliger Leiter des Human Genome Project, ist das ‚Schreibprogramm‘ DNA „what makes us human“.46 Daher haben Abtreibungsgegner DNS auch als „the letters of a divine alphabet spell(ing) out the unique characteristics of a new individual“ bezeichnet.47
Gibt es – dank des Gens – eine biologisch definierte ‚Erbsünde‘, so ist das Gen auch dazu da, vergleichbar der Hostie, die Absolution zu erteilen: eine Erlösung von der Schuld. Wenn es die Gene sind, die über Verhalten und Handlungen bestimmen, so kann der Mensch nicht dafür zur Verantwortung gezogen werden. Die Kirche behielt sich das Recht vor, den ‚Sünder‘ nicht in geweihter Erde zu bestatten und ihm damit auch das Recht auf Auferstehung und ewiges Leben zu verweigern. Der Genetiker Francis Crick sagt: „No newborn infant should be declared human until it has passed certain tests regarding its genetic endowment […]. If it fails these tests, it forfeits the right to live.“ 48
Schon die Eugeniker der Jahrhundertwende sprachen von einem „Körperextrakt“, dem „Beständigkeit bis zur Unsterblichkeit“ eigen sei.49 „Das ewige Leben“, schrieben die amerikanischen Eugeniker Paul Popenoe and Roswell Hill Johnson in den 1920er-Jahren, „ist mehr als eine Metapher oder ein theologisches Konzept.“ Der Tod einer riesigen Agglomeration hochspezialisierter Zellen habe wenig Bedeutung, sobald das Keimplasma weitergegeben worden sei, denn es enthalte „die Seele selbst“ des Individuums.50 Das hatte Folgen: Anfang dieses Jahrhunderts führte die Zeugung und Züchtung von „wertvollem Erbgut“ in den USA zu den sogenannten Better Babies Contests. Auf einem Foto ist die Gewinnerin des Wettbewerbs von 1914 zu sehen: die sechs Monate alte Virginia June Nay, nackt auf dem Boden vor einem Bündel Getre [<< 35] ideähren sitzend.51 Diese Bildgestaltung erinnert nicht durch Zufall an mittelalterliche Darstellungen von Christus: Die Kornähren neben dem Abbild des Erlösers verwiesen auf das Brot, die Hostie: den Leib des Herrn als Speise, die Unsterblichkeit verleiht. Bei den Eugenikern hatte das ‚unsterbliche Erbgut‘ diese Funktion übernommen. Better Crops war das Schlagwort, unter dem für verbesserten Nachwuchs geworben wurde.
Prämiert wurde auf den Better Babies Contests nicht etwa die Schönheit des Kindes, sondern seine Übereinstimmung mit Durchschnittsnormen wie Körpergröße, Wachstum etc., das heißt, es ging um Maßstäbe und Normen, um den Kanon selbst. „Hässliche Babys konnten Preise gewinnen. Das einzige, das zählte, waren die objektiven Maße. Für jede Abweichung von der Norm in Größe, Entwicklung oder Gestalt wurden Punkte abgezogen.“ 52 So wird die Norm selbst zum ,heiligen Text‘, zu einem dem Körper eingeschriebenen Kanon. Im säkularen Kontext tritt an die Stelle des ‚Heiligen‘ bzw. der ‚Sünde‘ ‚normal‘ und ‚deviant‘, die wiederum mit ‚natürlich‘ und ‚unnatürlich‘ gleichgesetzt werden. Auf diese Weise wurde die Eugenik zu einer ‚civil religion‘, in deren Zentrum das ‚sakralisierte Kind‘53 steht: ein Topos, der seinen christlichen Ursprung kaum verleugnen kann.54 Mit der Genwissenschaft taucht schließlich auch der Gedanke einer ‚geschlechtslosen‘ Konzeption auf, deren christliche Herkunft kaum zu übersehen ist. Dank der In-vitro-Fertilisation ist die ‚Jungfrauengeburt‘ heute nicht mehr religiöses Dogma, sondern praktizierte Medizin, die bereits bei Frauen durchgeführt wurde, die noch nie Geschlechtsverkehr hatten.55
Mit anderen Worten: Geistesgeschichtlich gesehen bilden viele Fortschritte der Neuzeit und wissenschaftliche Neuerungen keinen Gegensatz zu theologischen Diskursen, sondern geradezu deren Realisierung. Diese Erkenntnis tritt am deutlichsten zutage, wenn man die Geschichte der Wissensordnung mit der Geschichte der symbolischen Geschlechterordnung vergleicht. Das bedeutet weder das Ende der ‚fruchtbaren Ehe‘ von Wissen und Glauben noch stellt es die Bedeutung wissenschaftlicher Errungenschaften in Frage – es impliziert vielmehr einen Erkenntnisvorgang, bei dem Wissensordnung und symbolische Geschlechterordnung auf ihre Überlagerungen und Verflechtungen untersucht werden müssen. Genau das ist das Anliegen dieses [<< 36] Buches: eine Untersuchung der Rolle, die die Kategorie ‚Geschlecht‘ für die Etablierung theoretischer Diskurse sowie für die Wissensordnung insgesamt gehabt hat und weiterhin hat. Dabei rücken auch die Neuen Medien, die wie die Geschlechterstudien eine ‚Querschnittswissenschaft‘ sind, in den Blickpunkt des Interesses: Die Geschichte der Wissensordnung hängt eng mit der Geschichte medialer Vernetzungen und Speichersysteme zusammen. Eben dieser Zusammenhang wird jedoch von der Wissensgeschichte ausgeblendet, so als gelte es die ‚Ursprünge‘ oder die Triebkraft der Wissensordnung zu verbergen. Die symbolische Geschlechterordnung offenbart die historische Wirkungsmacht