und eine kategoriale Vorgabe für die Beschäftigung mit Geschlecht und kultureller Differenz bildet.80 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Wirkungsmacht der Wissenskategorie Geschlecht stets eine ambivalente war, die in der Dialektik von dynamischen Innovationsschüben und traditionellem Beharrungsvermögen bestand.
In der „Sattelzeit“ (Koselleck) um 1800 vollzog sich ein Paradigmenwechsel: Mit der modernen wissenschaftlichen Beschreibung zweier biologischer Geschlechter wurde das [<< 45] Verhältnis der Geschlechter nicht mehr in der Opposition von sozialer Superiorität und Inferiorität gedacht, sondern als das Verhältnis einer Differenz konstruiert. Die Frau galt nun nicht mehr, wie bei Aristoteles, als „verkümmerter Mann“, sondern sie wurde zur Repräsentantin des „anderen Geschlechts“. In der Epoche der Aufklärung wurde die „Frau“ sogar in einer Art „weiblicher Sonderanthropologie“ zur Statthalterin der Natur erklärt. In dieser Funktion avancierte sie in der nachrevolutionären bürgerlichen Gesellschaft zur Repräsentantin des moralischen Geschlechts. Der Mann stand für das rationale Geschlecht, das sich durch die Herrschaft über Natur definiert. Die Aufteilung des Menschen in zwei ungleichwertige Teile wurde in einem Zeitalter, das die Gleichheit aller Menschen zum Prinzip erhob, mit genuin aufklärerischen Prinzipien legitimiert. Die Natur bedeutete in den medizinischen, historiographischen, philosophischen und anthropologischen Diskursen für die Frau immer „Einschluss“ und „Begrenzung“, und Natur nahm – ob als die dem Organischen eigentümliche Produktivität, ob als Seelenleben oder ob als „Konstanz der Kräfte“ – immer eine doppeldeutige Funktion ein.81
Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde mit der Entstehung und Herausbildung der modernen Disziplinen die traditionelle Hierarchie der Wissenschaften in eine funktionale Ordnung überführt. Dabei wurden auf dem Wege der disziplinären Abgrenzung spezifischer Gegenstandsbereiche tradierte Geschlechtermuster oft aufgehoben und überwunden und doch zugleich in Form disziplinärer Darstellungstechniken, Arbeitspraktiken und Forschungsstrategien wissenschaftlich rekonstruiert, ob in gynäkologischen Aufzeichnungstechniken, obskuren chirurgischen Praxen, psychologischen Deutungsmustern, wie etwa der Hysterie oder medialen Aufschreibesystemen.82 Auch die Entfaltung wissenschaftlicher truth claims überführte traditionelle Männertugenden in eine bürgerliche Werteökonomie, die die Aufspaltung zwischen individueller Subjektivität und wissenschaftlicher Objektivität und die ihr zugrunde liegenden Geschlechtsvorstellungen maskiert und verbirgt.
Ende des 19. Jahrhunderts kam es im Zuge der Auflösung des traditionellen Familienverbandes, veränderter Moral- und Wertvorstellungen, neuer ökonomischer und politischer Verhältnisse und Arbeitsbedingungen sowie eines neuen biomedizinischen [<< 46] Verständnisses von Zeugung und Reproduktion zu einer zunehmenden Entkoppelung von Fortpflanzung und Sexualität. Diese hatte Rückwirkungen auf die soziale und kulturelle Wahrnehmung von Geschlecht. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Entstehung neuer medialer Techniken wie Photographie und Film, die ihrerseits auf die Wahrnehmung von Geschlecht und Geschlechterrollen einwirkten.83
Geschlecht war mit Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl in der Naturgeschichte als auch in der Philosophie zu einem der zentralen Gegenstände der wissenschaftlichen Neugierde geworden – und ist es auf Gebieten wie der gentechnologischen Forschung bis in die Gegenwart geblieben. Wie die etymologische Verwandtschaft von Gen, Genus, Gentechnologie, Gender und Genre verrät, besteht zwischen dem wissenschaftlichen Gegenstand „Geschlecht“ und dem wissenschaftlichen Selbstverständnis eine für die wissenschaftliche Praxis konstitutive Verbindung, die mehr als 2000 Jahre lang kaum expliziert wurde.84 Dabei lässt sich verallgemeinernd sagen, dass die Kategorie Geschlecht in den eher anwendungsorientierten Disziplinen zwar eine bedeutende, jedoch meist kaum reflektierte und damit weithin unsichtbare Rolle spielt. Das gilt auch für die Medizin bis in jüngere Zeit. Hier sind auch die neuen molekular ausgerichteten Lebenswissenschaften zu nennen, deren Forschungsprogramme dazu tendieren, Geschlechtskategorien radikal auf Genanlagen zu reduzieren und zugleich Geschlechtsvorstellungen und Geschlechtszuschreibung im Sinne eines genetischen Determinismus neu zu begründen.85 Ähnliches gilt auch für die Rechtswissenschaft, in der Geschlecht als normatives Leitbild wirkt und zugleich immer wieder neue Leitbilder des Geschlechts durch juristische Regulierung geformt und über die Strukturen eines staatlichen Gewaltmonopols durchgesetzt werden.86
Für die Hinterfragung solcher Normierungsprozesse und die damit einhergehende Wissenschaftsreflexion spielen die sozial- und kulturwissenschaftlichen Fächer eine [<< 47] wichtige Rolle, bieten sie doch das notwendige Instrumentarium, um die Entstehung, Einschreibung und Perpetuierung von Diskursen und Praktiken des Wissens zu untersuchen. Methodisch kann hier auch von einer Wende des Blicks die Rede sein: von den materiellen, ökonomisch / sozialen Verhältnissen zur Wahrnehmung der sprachlichen und medialisierten, bildlichen, insgesamt kulturellen Formen der Konstruktion von Wirklichkeit. Der genetic turn, der mit der Verabschiedung der These einer Naturhaftigkeit der Geschlechter einhergeht, begleitet so den linguistic turn und den pictorial turn, die sich zusammen und analytisch orientiert als discursive turn fassen lassen.
Diese verschiedenen turns haben zu einer Dynamisierung der Forschungsdebatten geführt, von der auch der vorliegende Band profitiert. Durch die Interventionen, die aus den einzelnen Fächern heraus entwickelt wurden, sind nicht nur neue inter- und transdisziplinäre Forschungsfelder erschlossen worden, sondern wurde der Blick auch für die geschlechtliche Codierung des Wissens und der Wissensordnung insgesamt geschärft. Die bisherigen Versuche, die Erträge der Geschlechterforschung in systematischer Weise zu erfassen und zu präsentieren, beschränkten sich zumeist auf die Übersicht einzelner Disziplinen oder stellten disziplinäre Entwicklungen oder Erkenntnisse mehr oder minder additiv nebeneinander.87 Der vorliegende Band zeigt erstmalig, welche bedeutsame Rolle die Kategorie Geschlecht in den theoretischen Debatten der Gegenwart spielt. Wenn hierbei im weitesten Sinne kulturkritische Ansätze wie etwa die Gedächtnisforschung oder neuere Forschungsrichtungen wie z. B. die Media Studies als Paradigmen aufgegriffen werden, so geschieht das vor allem deshalb, weil die „Ansichten der Wissenschaften“ 88 bzw. die „Bühnen des Wissens“ 89 von eben jener kulturhistorischen Wendung profitiert haben, der auch die Genderforschung am Ende des 20. Jahrhunderts wichtige Impulse verdankt. Die theoretischen Debatten über Identität, Sexualität, Körper und Gewalt etc. haben dabei Rückwirkungen weit über die sich kulturwissenschaftlich verstehenden Disziplinen wie etwa die Literaturwissenschaften oder die Postcolonial Studies hinaus, sie betreffen auch sozialwissenschaftliche, juristische oder medizinische Diskurse und bringen die unterschiedlichen Wissenschaftskulturen in ein neues Gespräch, das die von Snow beklagte Trennung der „zwei Kulturen“ in eine literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz 90 überwinden kann. Auch wenn [<< 48] der Band keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt – nicht zuletzt aus pragmatischen Überlegungen bleiben eher anwendungsorientierte, in den politischen Bereich zielende Debatten über „Erfahrung“, „Alltag“, „Öffentlichkeit“ oder „Arbeit“ ebenso ausgegrenzt wie komplexe, wissenschaftsübergreifende Überlegungen zu „Genealogie“, „Differenz“ oder „Rhetorik“ 91 – so bietet er doch eine repräsentative Übersicht über aktuelle Diskussionsverläufe und stellt ein Wissen zur Verfügung, das für die Wissenschafts- wie für die Geschlechterforschung gleichermaßen unverzichtbar ist.
Bibliographie
Andreski,