Jochen Hamatschek

Lebensmittelmanagement


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100 Gramm gebratenes Fleisch (Bethge 2007). Der evolutionäre Vorteil im lebensfeindlichen Habitat war enorm, denn der Zeitaufwand für Nahrungsbeschaffung und Verzehr verkürzte sich und die Ausnutzung knapper Ressourcen wurde optimiert. Homo setzte sich nicht nur gegen die damals noch lebenden anderen Menschenformen durch, er konnte sogar auf Wanderschaft gehen und die Erde schließlich vollständig besiedeln. Seine Anpassungsfähigkeit an Umgebung und Nahrungsangebot war ausreichend groß.

      3.1.2 Ernährung 2.0: Die Neolithische Revolution vor 10 000 Jahren

      Vor rund 10 000 Jahren, in der Tagesbetrachtung gerade sechs Minuten vor Mitternacht, folgte nach der Machtergreifung über das Feuer die zweite Revolution. War die erste Phase noch von einer physiologischen Anpassung geprägt, wälzte die zweite Phase die kulturelle Situation des Menschen um: Homo sapiens wurde sesshaft, wandelte sich vom Jäger und Sammler allmählich zum Ackerbauern und Viehzüchter und konnte sich von den zufälligen Produkten des Landes emanzipieren. Statt sich Nahrung nur anzueignen, produzierte er sie. Über die Gründe für diesen Schritt wird intensiv diskutiert. Als einen möglichen Grund sehen Archäologen die Gier des Menschen nach alkoholischen Getränken, die für rituelle oder kommunikative Zwecke nachweisbar schon seit langer Zeit aus vergorenen Getreideprodukten gewonnen wurden. Zweifellos war die Rohstoffbeschaffung über eigene Äcker einfacher als die mühsame Suche nach einzelnen Körnern in der Wildnis. Dieser Ausgang aus der ernährungswirtschaftlichen Unmündigkeit führte zu dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen. Der nun ortsfeste Mensch konnte sich stärker vermehren als zuvor, was aber schnell zur Ausbildung von Hierarchien und zur Eigentumsdifferenzierung in stetig wachsenden Gemeinschaften führte. Die Jäger und Sammler lebten in Horden mit selten mehr als fünfzig Mitgliedern, die fast alle miteinander verwandt waren. In den nun viel größeren Gemeinschaften entstand sozialer Druck. In der Folge kam es zwangsläufig zu Auseinandersetzungen und bereits zu ersten Gewaltverbrechen.

      Andererseits führte die nun mögliche Arbeitsteilung zu ausgeprägtem Spezialistentum und in der Folge zu einer Fülle von Innovationen. Nach und nach wurden ertragsunsichere Wildformen der Pflanzen und Tiere züchterisch domestiziert und grundlegend, manchmal bis zur Unkenntlichkeit, verändert. Die Konzentration auf vergleichsweise wenige Arten mit besonders positiven Eigenschaften führte bereits in dieser Phase zu einer abnehmenden Biodiversität. In Verbindung mit zum Teil gewaltigen Eingriffen wurde in nur wenigen Jahrtausenden eine Kulturlandschaft geschaffen, die mit der ursprünglichen Natur kaum noch etwas gemein hatte. Ein Prozess, der während der Industrialisierung und durch das gigantische Bevölkerungswachstum auf der Erde noch beträchtlich an Fahrt aufnahm (Reichholf 2008).

      Der Schwerpunkt der menschlichen Ernährung verschob sich in Richtung der Kohlenhydrate, die nach dem Erhitzen vergleichsweise leicht verdaulich wurden. Wer es dann noch schaffte, über die Säuglingszeit hinaus die Milch von Rindern zu verwerten, besaß einen gewichtigen Überlebensvorteil. Die dazu nötige Laktosetoleranz ist eine vergleichsweise junge, durch genetische Mutation des Enzymsystems gewonnene Eigenschaft, die in Nordeuropa bei rund 80 Prozent der Bevölkerung anzutreffen ist, in Asien lediglich bei 20 Prozent.

      Die Neolithische Revolution brachte dem Menschen nicht nur Vorteile: Die Nähe zu den Zuchttieren konfrontierte ihn mit deren Krankheiten, Erreger sprangen immer wieder auf den Menschen über. Auch heutzutage spielen diese Zoonosen in vielen Ländern noch eine wichtige Rolle. Die zunehmende Bevölkerungsdichte begünstigte die Verbreitung von Infektionen, Missernten führten aufgrund der Abhängigkeit von einem lokal begrenzten Anbau zu Hungersnöten. Dies ist bis in die jüngere Zeit hinein zu beobachten. So verursachte vor gerade mal 160 Jahren der Ausfall der Kartoffelernte in Irland eine Nahrungsknappheit, in deren Folge eine Million Menschen an Hunger starben und noch viel mehr zur Flucht aus ihrem Land gezwungen wurden. Der Gesundheitszustand der Bauern und Viehzüchter – verglichen mit dem der Jäger und Sammler – verschlechterte sich ebenfalls und die durchschnittliche Körpergröße sank. War der frühere Speiseplan noch extrem vielseitig und nährstoffreich, wurde er für die Siedler zunehmend einseitiger und ihre Versorgung mit Mikronährstoffen gestaltete sich problematisch.

      Wenn heutzutage eine Diskussion über Natur und artgerechte Haltung geführt wird, darf sie die extremen anthropogenen Veränderungen im letzten halben Prozent der Menschheitsgeschichte nicht außer Acht lassen. Die kulturelle Entwicklung dieser 10 000 Jahre hat Fauna und Flora einschließlich der menschlichen Lebensverhältnisse und den Menschen an sich tief greifender verändert als die 2,4 Millionen Jahre zuvor. Was artgerecht ist, sowohl den Menschen als auch Tiere und Pflanzen betreffend, ist letztlich eine Frage des betrachteten Zeitraumes.

      3.1.3 Ernährung 3.0: Die Folgen der Industriellen Revolution

      In der Mitte des 19. Jahrhunderts begann sich die nächste Umwälzung in der menschlichen Ernährung abzuzeichnen. Zu dieser Zeit war die Industrielle Revolution, eingeleitet mit der Erfindung der Dampfmaschine (1769 Patent durch James Watt), bereits in vollem Gange, die Bedeutung der Landwirtschaft nahm ab. Die Weltbevölkerung bewegte sich langsam auf die zweite Milliarde zu, Städte wuchsen explosionsartig (zum Vergleich: zurzeit leben etwa 50 Prozent aller Menschen in Städten, im Jahre 2050 geht die Forschung von über 70 Prozent aus). Arbeit gab es zunehmend außer Haus, die Eigenversorgung mit Lebensmitteln wurde zurückgedrängt. Erste Betriebe der industriellen Herstellung von Lebensmitteln erschienen am Markt (z. B. Maggi, Dr. Oetker). Die Vermassung erzwang eine Industrie, die Lebensmittel in großem Stil zu erzeugen vermochte und eine ausgeklügelte, weitverzweigte Logistik erforderte. Dampfschiffe und Eisenbahnen verkürzten im Vergleich zu Segelschiffen und Kutschen die Reise- bzw. Transportdauer auf weniger als ein Viertel. Im 21. Jahrhundert angekommen, sind Reisetage inzwischen zu Reisestunden geschrumpft. So gelangen Kiwis, Äpfel oder Wein in höchstens 30 Stunden auch aus dem maximal entfernten Neuseeland nach Europa. Auch auf dem Gebiet der Ernährung ist die Globalisierung in vollem Gange und sorgt für eine nahezu unbegrenzte Verfügbarkeit weltweit erzeugter Lebensmittel oder Rohstoffe, und das mehr oder weniger in Ernte-Echtzeit. Die zeitlich parallel verlaufende weitere Industrialisierung schaffte ihrerseits die Voraussetzung, durch die noch intensivere Massenproduktion und den Einsatz aller verfügbaren Rohstoffe eine kaum noch überschaubare Vielfalt an kostengünstigen und haltbaren Lebensmitteln zu erzeugen. Moderne Supermärkte bieten heute bis zu 40 000 verschiedene Produkte an. Diese Entwicklung lässt sich einerseits trefflich kritisieren. Festzuhalten ist aber auch, dass es – außer in Krisenzeiten – in den entwickelten Ländern seit Mitte des vorletzten Jahrhunderts keine nennenswerte Hungerperiode mehr gab. Die moderne Technik ist auf der einen Seite eine Voraussetzung für die sichere Ernährung, begünstigt auf der anderen Seite aber auch die Entfremdung des Konsumenten von seinen Lebensmitteln.

      Der moderne Mensch ist kulturell unendlich weit von seiner Steinzeitvergangenheit entfernt. Die menschliche Kultur hat sich quasi exponentiell entwickelt, die physische und vor allem psychische Entwicklung des Menschen verlief dagegen mit evolutionärer Geschwindigkeit, also um Potenzen langsamer. Die Diskrepanz, die sich daraus ergibt, zeigt sich auf vielen verschiedenen Ebenen. Im Zuge dieser Erkenntnis konstatieren Soziologen und Psychologen gravierende Anpassungsprobleme an die „Massenmenschhaltung“ in Großstädten. Mediziner beklagen die explosionsartige Zunahme von sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Probleme, Diabetes oder Übergewicht – in der Summe auch metabolisches Syndrom genannt. Die Indizien, dass die derzeitige menschliche Ernährung dabei eine unglückselige Rolle spielt, werden aus ernsthafter medizinischer Sicht nicht mehr angezweifelt. Zu hohes Körpergewicht strahlt auf den ganzen Körper aus und ist ursächlich für einen großen Teil der Zivilisationskrankheiten. Die Zahlen zeigen ein dramatisches Bild zunehmender Fettleibigkeit. So sind nach gängiger Body-Mass-Index (BMI)-Messung zwei Drittel aller Männer in Deutschland übergewichtig, ein Drittel gilt mit einem Wert von über 30 als adipös. Frauen sind zu 53 Prozent übergewichtig und ein Fünftel ist adipös. Die Werte sind etwas besser als die der Männer, aber immer noch viel zu hoch. (Robert Koch-Institut 2012).

      Verbraucherverbände und andere NGOs neigen dazu, die allein profitorientierte Lebensmittelindustrie dafür verantwortlich zu machen. Werbung verführe insbesondere junge Menschen zu fetthaltigen und