Thomas Bieger

Tourismuslehre - Ein Grundriss


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Wechselwirkungen mit allen Umwelten, ist Tourismus ein Paradebeispiel eines interdisziplinären Forschungsgebietes (vgl. auch Müller 1997).

      Es finden sich weltweit Forschungsinstitute und Forschungsstellen zum Tourismus aus verschiedensten Disziplinen, beispielsweise im deutschsprachigen Raum,

      • aus dem Fokus der Wirtschaftswissenschaften das Institut für Öffentliche Dienstleistungen und Tourismus der Universität St. Gallen oder, mit einer vielleicht eher noch breiteren sozialwissenschaftlicheren Perspektive, das Forschungsinstitut für Freizeit und Tourismus an der Universität Bern;

      • aus dem Fokus der Betriebswirtschaftslehre mit Schwergewicht Dienstleistungsmanagement das Institut für Strategisches Management, Marketing und Tourismus (Bereich Tourismus und Dienstleistungswirtschaft) der Universität Innsbruck

      • aus dem Fokus Betriebswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien,

      • aus dem Fokus der Geografie das wirtschaftsgeografische Institut an der Universität Zürich,

      • aus der Perspektive der Tourismusökonomie die Hochschulgruppe Tourismus der Technischen Universität Dresden.

      Entsprechend vielfältig wie der disziplinäre Zugang sind die in der Tourismusforschung verwendeten Methoden. Dabei ist oft auch eine Arbeit aus der Perspektive einer Disziplin mit Methoden (auch im Sinne einer Triangulation, d.h. zur Absicherung und Ergänzung der Erkenntnisse) aus einer anderen Disziplin anzutreffen. So werden beispielsweise hochentwickelte Systeme aus dem Gebiet der Karthographie respektive der geographischen Daten Systeme dazu genutzt, die Service-Abläufe in einem Skigebiet zu optimieren.

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      Wichtigster Hintergrund für die Erforschung des Tourismus aus unterschiedlichsten disziplinären Perspektiven sind die verschiedenen Wechselwirkungen mit den entsprechenden disziplinären Umfeldern. Beispielsweise befasst sich die Biologie mit den Auswirkungen des Tourismus auf die Flora und Fauna einer Region. Einen Überblick über die Vielfalt der Tourismusforschung liefert folgende Auflistung der Forschungsarbeiten zu den verschiedenen Umfeldbereichen:

UmfeldbereichForschungsarbeiten
VolkswirtschaftslehreÖkonomische Auswirkungen: vgl. Mason (2008); Tyrrell/ Johnston (2006); Wall/ Mathieson (2005); Oh (2005); Scherer/Strauf/Bieger (2002); Ross (1992); Perdue/Long/Allen (1990); Husbands (1989); Liu/Sheldon/Var (1987); Var/Kendall/Tarakcioglu (1985)
ÖkomanagementÖkologische Auswirkungen: vgl. Moisey/McCool (2009); Hunter/Shaw (2007); Pickering/Hill (2007); Hiltunen (2007); Davenport/Davenport (2006); Caneday/Zeiger (1991); Adams (1993); Badger (1992); Warner (1991); Boo (1990); Greiner (1990); Smith (1990)
SoziologieSoziale Auswirkungen: vgl. Wilson (2008); Butler/Hinch (2007); Ur- tasun/Gutiérrez(2006);Higgins-Desbiolles(2006);Gossling/Hall (2005); Ross (1992); Bystrzanowski (1989); Milman/Pizam (1988); Liu/Sheldon/Var (1987);
BetriebswirtschaftslehreLebenszyklusphase einer Destination: vgl. Rodríguez et al. (2007); But ler (2006), Beritelli (1997); Goncalves/Aguas (1997)
Konsumentenverhalten: Castro et al. (2007); Woodside/Dubelaar (2002), Pizam/Mansfeld (1999), Sönmez/Graefe (1998);
Segmentierung: Bieger/Laesser (2002)

      2.3. Historische Entwicklung des Tourismus

      Viele der heute bekannten Motivationsformen des Tourismus wurden schon im Altertum vorweggenommen. So setzte beispielsweise mit Beginn der Olympiaden um 770 v. Ch. ein Sporttourismus zur aktiven oder passiven Teilnahme an Sportveranstaltungen ein. Ebenfalls in der griechischen Epoche entstanden Bildungsreisen, beispielsweise durch den griechischen Geografen und Historiker Herodot (480 – 421 v. Chr.) der als einer der ersten Reisenden |44◄ ►45| und Touristen seines Landes angesehen wird (vgl. Kaspar 1996, 23). Ebenfalls noch in griechischer Zeit bekannt waren Fahrten zu Heilzwecken, bspw. nach Epidaurus mit dem Eskolaptempel, sowie Wallfahrten zu den Göttertempeln wie zum Beispiel zum Orakel von Delphi.

      RÖMISCHES REICH

      In der römischen Zeit erfuhr das Reisen einen weiteren Auftrieb. Zur Erleichterung des „militärischen Tourismus“ wurde ein weiterer Teil eines kontinentalen Straßennetzes gebaut. Dank den zahlreichen Garnisonsstädten war auch eine relativ gute Sicherheit auf diesen Straßen gewährleistet. Der Handel blühte auf, es entstanden wieder Bildungsreisen quer durch Europa. Zusätzlich entstand ein Vorläufer des heutigen Gesundheitstourismus. Die Römer errichteten an einigen zentralen Orten Badezentren (beispielsweise Baden bei Zürich, St. Moritz, Baden-Baden), die aus näherer oder fernerer Umgebung Touristen anlockten. Es gab bereits auch eine Art Vorläuferform des modernen Zweitwohnungstourismus. Aufgrund der Verhältnisse in der überbevölkerten Stadt Rom und in anderen Städten nahmen breite Kreise der wohlhabenden Bevölkerung im Sommer einen Domizilwechsel an ihre „Sommerfrischen“ in den Hügeln des Appenins oder an die Küsten vor.

      MITTELALTER

      Im Mittelalter verfiel aufgrund der partikularisierten Herrschaftsverhältnisse das römische Straßennetz. Mit dem Fehlen einer militärischen Präsenz wurde das Reisen zudem unsicherer. Neben Beamten und Studenten reisten deshalb im Mittelalter vor allem Wallfahrer, welche die großen physischen und finanziellen Opfer auf sich nahmen. Entsprechend dominierten bei den Unterkünften auch Hospize und Klöster neben einzelnen, vor allem kleineren Herbergen. Während im Mittelalter große Teile der damaligen Gesellschaft ihre direkte Umgebung zeitlebens nicht verließ, wagten sich erste Händler (vgl. auch die Reisen Vasco da Gamas um 1497) und Entdecker auf Reisen. Handwerker reisten zum Teil, um neue Märkte für ihre Fähigkeiten zu erschließen. Währenddem das Reisen zu den ältesten und allgemeinsten Verhaltensweisen des menschlichen Lebens gehörte und der Mensch eigentlich schon immer reiste, erfüllte es im Altertum und vor allem im Mittelalter selten einen Selbstzweck (vgl. auch Enzensberger 1958, 705ff). Es wurden vor allem „Muss-Reisen“ gemacht.

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      AUFKLÄRUNG

      Mit der Aufklärung und dem Aufbruch in der Gesellschaft lockerte sich auch die strenge Zweckhaftigkeit des Reisens. So begann ab dem 18. Jahrhundert ein intensiver Bildungstourismus, insbesondere junger Adeliger. Ihr Interesse richtete sich oft auf die Natur und das einfache Leben. Nachhaltig dürfte sich der Ruf Jean-Jacques Rousseaus nach Rückkehr zur Natur in seinem Werk „Nouvelle Héloïse“ (1756) ausgewirkt haben. Auch andere Dichter und Schriftsteller wie Byron, Ruskin und Goethe warben und lobpreisten fremde Länder, deren Natur und Lebensformen. Die Zahl der Herbergen erhöhte und die Qualität der Straßen verbesserte sich. Mit den inzwischen stabilen Nationalstaaten war auch Ruhe, Ordnung und militärische Sicherheit wieder hergestellt worden.

      INDUSTRIALISIERUNG

      Mit der Industrialisierung wurde der Tourismus immer mehr zu einem Standardprodukt. Ab Beginn des 19. Jahrhunderts erleichterten Massentransportmittel wie moderne Passstrassen, ab den 20er Jahren des vorletzten Jahrhunderts die Dampfschifffahrt sowie ab Mitte des 19. Jahrhunderts das Aufkommen der Eisenbahnen das Reisen massiv. Auch in der Beherbergung wurde in Form von Grandhotels eine „industrialisierte“ Form gefunden, welche die Unterbringung der inzwischen größeren Touristenzahlen erlaubte. Triebkraft der Nachfrage war zum ersten Mal auch das durch die Industrialisierung zum Wohlstand gekommene Bürgertum. Die Industrialisierung wurde vor allem in Mitteleuropa durch einen Spezialeffekt überlagert. Die sogenannte „Belle Epoque“ war geprägt durch Langzeit-Aufenthalter in Form des Adels. Dieser hatte die Mittel, wurde aber durch das erstarkte Bürgertum immer mehr in seinen Funktionen beschnitten. In dieser Zeit entstanden Palast-Hotels an den schönsten Lagen Europas, am Meer oder in der Schweiz an Seen und auf einigermaßen leicht erreichbaren Berggipfeln. Im Gegensatz zu den teilweise bescheidenen Hotels der Industrialisierung wie beispielsweise der 1812 eröffnete Gasthof Rigi Klösterle oder das 1832 als erstes Hotel im Berneroberland