Effekt: Die jüngsten Kinder in den Klassen 5 und 8 nehmen doppelt so häufig wie ihre Klassenkameraden MPH zur Behandlung von ADHS ein. Die Ergebnisse dieser Analyse sind unabhängig vom sozioökonomischen und Migrationshintergrund der Kinder.
Evans, Morrill und Parente (2010) führten eine weitere Analyse durch, in die sie Daten verschiedener großer, amerikaweiter Untersuchungen einbezogen (National Health Interview Survey, Medical Expenditure Panel Survey, Daten einer privaten Krankenversicherung). In allen drei Stichproben stellten die Autoren fest, dass Kinder, deren 5. Geburtstag nach dem cut-off Termin für den Schuleingang ist (und die aus diesem Grund bei der Einschulung etwas älter sind als ihre Klassenkameraden) signifikant seltener mit ADHS diagnostiziert werden und auch seltener aufgrund einer ADHS behandelt werden. Der Einfluss des relativen Lebensalters auf eine ADHS-Diagnose konnte also nochmals bestätigt werden.
Die Studien zum Zusammenhang des relativen Lebensalters und der ADHS-Diagnose können jedoch keine Aussagen darüber machen, ob ein Kind, welches erst ein Jahr später eingeschult (also die Einschulung „zurückgestellt“) wird, eine geringere Wahrscheinlichkeit für eine ADHS-Diagnose hat, als wenn es früher eingeschult wird. Eine bedeutende Schlussfolgerung lässt sich jedoch vor allem aus der Studie von Elder (2010) ziehen: Da anscheinend vor allem Lehrer geneigt sind, bei Kindern, die im Vergleich zu ihren Schulkameraden jünger sind, eine ADHS zu vermuten, sollte die ADHS-Diagnostik so differenziert wie möglich sein. Nicht nur eine Einschätzung der Lehrer, sondern auch der Eltern und „objektiver“ Beobachter ist notwendig (→ Kapitel 11).
Vertiefungsfragen
10. Was kennzeichnet typische und beeinträchtigte Aufmerksamkeitsprozesse?
11. Wie sollte ein Diagnostiker mit dem Dilemma umgehen, dass ADHS möglichst früh festgestellt und behandelt werden sollte – aber gleichzeitig auch Ausdruck einer alterstypischen Entwicklung sein könnte?
12. Welchen Einfluss hat das relative Lebensalter auf eine ADHS-Diagnose?
5 Häufigkeit der ADHS
Wie oft tritt ADHS auf? Gibt es Unterschiede der Auftretenswahrscheinlichkeit in verschiedenen Ländern, d. h. gibt es ADHS zum Beispiel in Deutschland häufiger als in den USA? Diese und weitere Fragen sollen in diesem Kapitel behandelt werden (Tab. 5.1).
Ergebnisse zur ADHS aus den KiGGS-Studien
Die KiGGS-Studien sind große, umfassende Studien des Robert-Koch-Instituts, die Fragen zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland erforschen. An einer ersten Studie aus den Jahren 2003–2006 nahmen 17.641 Mädchen und Jungen im Alter von 0 bis 17 Jahren zusammen mit ihren Eltern teil. Somit konnten erstmals deutschlandweit aktuelle und aussagekräftige Daten zum Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen gesammelt werden. Neben Daten zum physischen Gesundheitszustand (z. B. körperliche Verfassung der Kinder und Jugendlichen) wurden umfangreiche Daten zur psychischen Gesundheit erhoben und ausgewertet.
Tab. 5.1: Weltweite Prävalenzraten der ADHS
Quelle | Prävalenz | Land | Anmerkungen |
Polanczyk et al. (2007) | 5,29 % | weltweit | systematisches Review, gepoolte Prävalenz |
Cuffe et al. (2001) | 1,51 % | USA | ältere Jugendliche, DSM-III-R |
Cuffe et al. (2005) | 4,19 % (Jungen), 1,77 % (Mädchen) | USA | im Rahmen des National Health Interview Survey |
Froehlich et al. (2007) | 8,7 % | USA | im Rahmen des National Health and Nutrition Examination Surveys |
Canino et al. (2004) | 8,0 % | Puerto Rico | |
Ford et al. (2003) | 2,23 % | UK | im Rahmen des British Child and Adolescent Mental Health Survey |
Goodman et al. (2005) | 1,3 %; 1,4 % | Russland; UK | nach ICD-10 |
Huss et al. (2008) | 4,8 % | Deutschland | im Rahmen der KiGGS |
Graetz et al. (2001) | 7,5 % | Australien | repräsentative Stichprobe |
Rohde et al. (1999) | 5,8 % | Brasilien | Schulstichprobe |
Smalley et al. (2007) | 8,5 % | Finnland | Geburtenkohorte, jugendlich |
Kessler et al. (2006) | 4,4 % | USA | Erwachsene, National Comorbidity Survey Replication |
Fayyad et al. (2007) | 4,1 %1,9 %7,3 %3,1 %2,8 %1,8 %1,9 %5,0 %1,2 %5,2 % | BelgienKolumbienFrankreichDeutschlandItalienLibanonMexikoNiederlandeSpanienUSA | Erwachsene, im Rahmen der World Health Organization World Mental Health Survey Initiative |
Simon et al. (2009) | 2,5 % | Erwachsene, Meta-Analyse, gepoolte Prävalenz |
5.1 Aktuelle deutsche Daten zur Häufigkeit von ADHS
4,8 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben laut der KiGGS-Studie eine von einem Psychologen diagnostizierte ADHS (Huss et al. 2008; Schlack et al. 2007). Die Prävalenz beträgt 1,5 % im Vorschulalter, 5,3 % im Grundschulalter, 7,1 % bei den 11–13-Jährigen und 5,6 % bei den 14–17-Jährigen. Somit belegen die Daten einen starken Ansprung der diagnostizieren Fälle vom Vor- zum Grundschulalter. Mit dem Eintritt in die Grundschule wird die ADHS häufiger diagnostiziert. Aus diesem Grund ist also die ADHS eine Störung, welche Lehrern bekannt sein sollte: Es ist nämlich sehr wahrscheinlich, dass sie im Laufe ihres Schulalltags auf Kinder mit ADHS treffen.
Sozioökonomischer Status
ADHS wird weiterhin laut der KiGGS-Studie häufiger bei Kindern aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status im Vergleich zu Familien mit einem mittleren oder hohen sozioökonomischen Status diagnostiziert. Es ist nicht geklärt, ob ADHS tatsächlich in Familien mit niedrigem soziökonomischen Status häufiger vorkommt oder nicht. Einerseits ist es bei einer stark erblichen Störung wie der ADHS wahrscheinlich, dass Väter und Mütter, die selbst unter ADHS-Symptomen leiden, Probleme in Schule, Ausbildung, Beruf und somit geringere Aufstiegschancen im Job hatten, als Väter und Mütter, die keine ADHS hatten. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Kinder ebenfalls ADHS haben, steigt und gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der soziökonomische Status dieser Familien niedriger ist. Andererseits gibt es keine empirischen Studien, die belegen, dass ADHS mit einem bestimmten sozioökonomischen Status gekoppelt ist. Andererseits könnte man vermuten, dass positive Merkmale der ADHS (wie z. B. Kreativität), sofern diese zum Erscheinen gebracht werden, zu Erfolg führen könnten.
Migrationshintergrund
Die KiGGS-Studie zeigt auch, dass Familien mit Migrationshintergrund seltener über eine ADHS-Diagnose als Familien ohne Migrationshintergrund berichten. Jedoch gibt es mehr ADHS-Verdachtsfälle bei Familien mit als ohne Migrationshintergrund. Das bedeutet, dass Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund häufiger bezüglich der ADHS-Symptome (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität) auffällig werden (z. B. im Kindergarten und / oder der Schule), aber seltener Beratung, Diagnostik oder Interventionen in Anspruch nehmen. Lehrer sollten also Familien mit Migrationshintergrund genauer im Blick haben, um diese ggf. auf entsprechende Einrichtungen (z. B. Beratungsstellen, Beratungsstellen speziell für Familien mit bestimmten kulturellen Hintergründen) hinzuweisen.
Wohnort
Die KiGGS-Studie fand keine weiteren Unterschiede der Häufigkeit der ADHS-Diagnose zwischen den Wohnorten. Es werden also nicht häufiger ADHS-Diagnosen in Ost- oder in Westdeutschland ausgesprochen; ebensowenig macht es einen Unterschied für das Auftreten der ADHS, ob Kinder in kleinen oder großen Städten aufwachsen.
5.2 Vergleich der Prävalenz der ADHS in Deutschland und in anderen Ländern
„The worldwide prevalence of ADHD: Is it an American condition?“ – „Die weltweite Prävalenz von ADHS: Ist es eine amerikanische Störung?“ betiteln Faraone und Kollegen einen Artikel aus dem Jahr 2003. Für ihre Meta-Analyse haben sie in