Sie setzt voraus, dass der forschend Lernende in eine kritische Distanz zum Unterrichtsalltag und zu seiner eigenen Praxis tritt: „Praxis wird aus der Distanz heraus ‚beobachtet‘ und die Untersuchungsergebnisse werden reflektiert, um daraus Konsequenzen für die nächsten Handlungsschritte abzuleiten.“14 Bereits 2008 hat die Evangelische Kirche „religionspädagogische Reflexionsfähigkeit“ als „Schlüsselkompetenz“ bezeichnet, die im Studium angebahnt wird und in allen weiteren Ausbildungsphasen elaboriert werden muss.15
•Respektierung der in die Untersuchungen involvierten Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler impliziert eine berufs- und forschungsethische Komponente. Schülerinnen und Schüler dürfen ebenso wenig wie Lehrkräfte zu Objekten gemacht und forschungsmäßig ‚ausgebeutet‘ werden. Deshalb sind Aspekte wie Freiwilligkeit, Einverständnis, Transparenz, Anonymität und Wertschätzung im Umgang unverzichtbare Elemente forschenden Lernens.16
1.3 Forschendes Lernen – wie macht man das?
Wer forschend lernen will, hält sich am besten an eine idealtypische Abfolge von Forschungsschritten, die speziell für Praxisstudien entwickelt wurde, darüber hinaus aber auch in weiteren Feldern genutzt werden kann:17
Abb. 1: Schritte forschenden Lernens in Praxisstudien; Wildt, 2009, Nr. 2, 4-7; 6
Die Grafik unterscheidet zwischen dem inneren Lernprozess und der Forschungstätigkeit; beides hängt spiegelbildlich zusammen.
Schritt 1:18 Der forschend Lernende ‚taucht‘ in die Praxis ein, findet sich zunächst in einem Strudel von Situationen, Prozessen, Ereignissen, Begegnungen etc. wieder und beobachtet – mit den im Studium ‚eingesetzten Augen‘ (s.o.) – das Berufsfeld. Dabei fallen ihm Phänomene auf, die seine Neugier wecken, weil sie inkongruent zu seinem Theoriewissen sind oder Fragen und Probleme aufwerfen. Natürlich kann und soll der Blick für solche Ereignisse auch bereits im begleitenden Seminar geschärft werden.
Schritt 2: Er formuliert das Thema eines Forschungsprojekts. Weil es dabei auf Präzision, hinreichende Konkretheit und Machbarkeit im Rahmen des Praxissemesters ankommt, empfiehlt es sich, dafür Beratung einzuholen.
Schritt 3: In diesem Schritt wird eine konkrete Forschungsfrage entwickelt. Methodisch schließt sich daran eine Hypothesenbildung an, die bereits auf theoretische Konstrukte bezogen ist. Das Forschungsprojekt hat das Ziel, diese Hypothese entweder zu bestätigen, zu falsifizieren oder zu korrigieren bzw. zu erweitern.
Schritt 4: Der theoretische Rahmen der Untersuchung wird differenziert dargestellt und die Forschungsfrage in diesen Rahmen eingeordnet.
Schritt 5: Das Design bezieht sich auf die Auswahl sachgemäßer und praktikabler Methoden, die insbesondere in der hermeneutischen und empirischen Forschung standardmäßig verwendet werden. Auch bei diesem Schritt sind Unterstützung und Hinweise durch Lehrende empfehlenswert.
Schritt 6: Bei der Durchführung des Vorhabens ist ein Forschungstagebuch hilfreich. Wichtig ist es, auf möglichst exakte Dokumentation zu achten, damit bei der anschließenden …
Schritt 7: … Auswertung genügend valide Daten vorliegen. Die Auswertung umfasst eine systematische (nicht selektive) Datenerhebung, deren Interpretation vor dem gewählten theoretischen Hintergrund, die Überprüfung der eingangs erhobenen Hypothesen, die bilanzierende Evaluation des Vorgehens und der Ergebnisse sowie die Darstellung von Prozess und Produkt im Forschungsbericht.
Schritt 8: Abschließend werden die Ergebnisse an das in Schritt 1 entdeckte Praxisproblem rückgebunden. Leitfrage ist dabei: Können die Ergebnisse zur Lösung des Problems beitragen und helfen, die Qualität des Unterrichts oder der Schulentwicklung zu verbessern? Natürlich werden die Ergebnisse im Seminar vorgetragen und diskutiert.
1.4 Welche Themen eignen sich für ein Studienprojekt im Fach Religionslehre?
Grundsätzlich sollten solche Themen gewählt werden, bei denen im Schulalltag Probleme auftreten, bei denen Sie Widersprüche beobachten, Konflikte wahrnehmen, fragwürdiges Verhalten oder uneindeutige Situationen bemerken. Solche Beobachtungen zu problemhaltiger Praxis eignen sich, um sie mit theoretischen Ansätzen abzugleichen, zu überprüfen und ggf. auch eine theoriegestützte Lösung zu entwickeln. Dafür kommen fast alle Bereiche der Religionspädagogik in Betracht, insbesondere aber die Didaktik und Methodik des Unterrichts.19
Im Folgenden finden Sie einige Beispiele, die unterschiedlichen Praxissituationen zugeordnet sind.
Bei Projekten, die sich auf den Unterricht beziehen, ist zu unterscheiden, ob fremder Unterricht oder eigener Unterricht beobachtet wird. Im letzteren Fall befindet sich der oder die forschend Lernende in einer nicht ganz einfachen Doppelrolle als Akteur und gleichzeitig als Beobachter. Daher ist es sinnvoll, eine zweite Person als Beobachter oder Beobachterin hinzuzuziehen.
•Anlass: Bei der Thematisierung der Jona-Geschichte spekulieren Schüler einer dritten Klasse wild über den großen Fisch, über eine Möglichkeit, in einem Wal zu überleben und über die Rizinusstaude, ohne dass die Lehrkraft interveniert.
Thema des Forschungsprojekts: Warum werden Schülerinnen und Schüler von ‚wunderbaren‘ Aspekten biblischer Geschichten besonders angezogen und wie können Lehrkräfte diese Motivation konstruktiv nutzen?
•Anlass: Die Abraham-Geschichte wird in einer Klasse 5 als Glaubensvorbild für den Mut zum Aufbruch in eine ungesicherte Zukunft vorgestellt. Die Lerngruppe beteiligt sich nur träge und zieht sich auf ‚richtige‘ RU-gemäße Antworten zurück, lässt aber erkennen, dass sie mit der theologischen Pointe der Geschichte nicht viel anfangen kann.
Thema des Forschungsprojekts: Warum reagieren Schülerinnen und Schüler häufig reserviert und uninteressiert auf Versuche, den theologischen ‚Gehalt‘ biblischer Geschichten herauszustellen und wie kann eine Lehrkraft dieser Verhaltensweise begegnen?
•Anlass: Jesus wird in einer Klasse 5 als Muster an Gutherzigkeit, Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit dargestellt.
Thema des Forschungsprojekts: Warum werden bestimmte Aspekte der bibelwissenschaftlichen Erkenntnisse zu Person und Wirken Jesu ausgeblendet und welche Folgen hat das für das Jesusbild der Schülerinnen und Schüler?
•Anlass: Eine Lehrperson verweigert den Schülerinnen und Schülern der Klasse 9 die Antwort auf die Frage: „Was meinen Sie denn? Ist Jesus tatsächlich auferstanden?“
Thema des Forschungsprojekts: Welche Probleme stellen sich für Lehrpersonen, wenn sie persönlich nach ihrem Glauben gefragt werden und welche Lösungsansätze bieten sich pädagogisch und theologisch an?
•Anlass: In einer Lerngruppe 8 werden die Altarbilder von Lukas Cranach aus der Stadtkirche zu Wittenberg eingesetzt. Die Lehrkraft führt ein mit dem Satz: „In diesen Bildern könnt ihr die gesamte Theologie Luthers finden. Was könnt ihr beobachten?“ Die Schülerinnen und Schüler bemühen sich nach Kräften, die Bilder zu beschreiben, ihnen gelingt es aber nicht, deren theologische Implikationen herauszuarbeiten.
Thema des Forschungsprojektes: Wie ist der Bruch zwischen Beobachtung, Beschreibung von alten Bildern auf der einen Seite und deren Einordnung und Deutung auf der anderen zu erklären und wie kann ihm entgegengewirkt werden?
•Zum Thema Kasualien/Trauung im Rahmen ‚liturgischen Lernens‘ im RU wird ein Traubekenntnis vor der Klasse 7 vorgespielt. Die Situation eskaliert in allgemeinem Gekicher und spöttischen Bemerkungen.20 Thema des Forschungsprojektes: Warum reagieren Schülerinnen und Schüler in dieser Weise auf ein szenisches Spiel und welche Konsequenzen hat dies für Auswahl und Inszenierung von szenischen Spielen?
•Anlass: Eine