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Qualitative Medienforschung


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oder bestätigt.

      Demnach werden Beobachtungsprotokolle in einem gerichteten hermeneutischen (und auch selbstreflexiven) Deutungsprozess in mehreren Phasen so codiert, dass die Elemente der Beobachtung und der Beobachtungstexte sich zu einem bedeutungsvollen Ganzen zusammenfügen. Am Ende ist man angekommen, wenn ein hoch aggregiertes Konzept, eine Sinnfigur gefunden bzw. mithilfe des Bildtextes konstruiert wurde, das alle Elemente zu einem sinnvollen Ganzen integriert und im Rahmen einer bestimmten Interaktionsgemeinschaft verständlich macht.

      Anwendungsbeispiel

      Auswahl der Daten

      Gegenstand der beispielhaften Analyse ist ein Foto, das sich (zumindest in den Jahren 2003 und 20042) auf der ersten Seite der Homepage einer österreichischen Firma befand. Bei dieser Firma handelt es sich um die Beratergruppe Neuwaldegg, die sich mit viel Erfolg auf die strategische Beratung von Großfirmen spezialisiert hat (zur Interpretation der Neuwaldegger Homepage siehe Reichertz 2010: 243 ff).

      Noch eine letzte Bemerkung vorweg: Die hier vorgestellte Interpretation gibt in keiner Weise den wirklichen, äußerst langwierigen und mühseligen Interpretationsprozess wieder. Der besseren Lesbarkeit wegen, aber auch in der Absicht, Leser von der Auslegung zu überzeugen, wurde oft schon sehr früh verdichtet, zugespitzt und pointiert.

      Die im Bild gezeigte Handlung

      Das Bild, das auch im Original auf der Homepage in Schwarz-Weiß erscheint, zerfällt deutlich in einen Vorder- und Hintergrund: Letzterer besteht aus gebüsch- oder baumartigen Strukturen an beiden Seitenrändern und einer hellen, fast weiß strahlenden Fläche, die etwa zwei Drittel des verbleibenden oberen Hintergrunds ausfüllt. Im Vordergrund befindet sich am unteren Bildrand eine Gruppe von dreizehn Menschen zwischen 30 und 50 Jahren (neun Männer und vier Frauen).

      Die Personen, die leicht gestaffelt nebeneinanderstehen und von denen jeweils nur der Oberkörper (etwa bis zur Hüfte) sichtbar ist, sind etwa gleich groß, schlank und weisen keine sichtbaren körperlichen Mängel auf. Alle abgebildeten Personen wirken gepflegt und weisen Zeichen des beruflichen Erfolgs auf: Sieben Männer tragen zum dezenten Anzug einen Schlips und eine Kurzhaarfrisur (zwei haben auf den Schlips verzichtet und tragen ihr gebügeltes Hemd offen), die Frauen tragen zum Kostüm Halskette und sichtbar vom Friseur gestaltete Haare. Obwohl die 13 Menschen teilweise eng nebeneinanderstehen, berührt niemand den anderen. Jeder steht allein und für sich und doch in einer Gruppe.

      Alle Gesichter sind nach vorn gewandt. Mit hochgezogenen Augenbrauen schauen sie lächelnd und optimistisch nach vorn, ohne dass sich die Blicke aller auf ein einziges vor ihnen gemeinsam liegendes Ziel richten würden. Die ganze Gruppe scheint sich in einer Bewegung nach vorn zu befinden, die vor einiger Zeit inmitten des leuchtend hellen Hintergrunds begonnen hat, jedoch noch andauert und nur im Moment des Fotografierens und durch das Fotografieren kurz angehalten und eingefroren wurde. Insbesondere die bewegten Arme und die angedeutete Drehung aus der Körpermitte heraus unterstützen den Eindruck fortdauernder Dynamik. Durch diese Bewegung nach vorn erhält das eingefrorene Geschehen eine Zeitstruktur: Es gab ein Vorher im Bildhintergrund (in der Helligkeit), es gibt eine Gegenwart (die Gruppe ist am vorderen Bildrand angekommen), und es wird eine Zukunft geben (dort, wo der Betrachter ist).

      Auf diese Weise vermittelt sich dem Betrachter folgende Gesamthandlung: Eine Gruppe von gut situierten und beruflich erfolgreichen und somit auch machtvollen Männern und Frauen kommt zusammen (als Gruppe, also nicht einzeln oder in kleinen Grüppchen) aus der Helligkeit (evtl. Waldlichtung). Jetzt strebt allerdings jeder Einzelne (zwar noch in der Gruppe, aber doch schon jeder für sich) voller Tatendrang nach vorn auf jemanden, den Betrachter, zu. Ihn lächelt man freundlich an und ihm bietet man sich (aber nicht als Gruppe, sondern als Einzelner) an, um (mit ihm) das vor ihnen Liegende voller Optimismus anzugehen. Alle kommen sie aus dem Licht. Das Licht hat etwas mit ihnen gemacht, hat sie verändert. Jeder Einzelne von ihnen ist erleuchtet worden. Das unterscheidet sie von anderen.

      Die Handlung des Zeigens mit der Bildgestaltung

      Schon auf den ersten nur flüchtigen Blick erkennt der Betrachter, dass die Abgebildeten von dem Akt des Abbildens Kenntnis haben, dass sie mit ihrer ganzen Erscheinung darauf reagieren, sich sogar zum Zweck der Abbildung in besonderer Weise aufgestellt und mittels Gesichtsausdruck, Körperhaltung, Körperspannung und Kleidung entweder selbst typisiert haben oder von anderen so hingestellt und gestaltet wurden. Das Arrangement der Einzelnen fügt sich zu einem eigenen Ornament, zu einem Symbol für einen Bund egalitärer Gleichgesinnter und Gleichkompetenter. Insofern handelt es sich bei dem Bild um eine hochgradig typisierte Inszenierung.

      Erst auf den zweiten Blick kann man erkennen, dass es sich bei den Abgebildeten nicht um Models, also typisierte Modelle von Körper und Persönlichkeitstypen, handelt, sondern um wirkliche Personen mit individuellen Besonderheiten und Eigentümlichkeiten, die sich selbst nur entlang gesellschaftlicher Modelle modelliert haben.

      Auf den dritten Blick erkennt man, dass es sich bei dem Gruppenbild nach der Erleuchtung um eine mit den Mitteln der computergestützten Bildverarbeitung erzeugte echte Simulation handelt, also um die Montage verschiedener disparater Elemente zu einem neuen, scheinbar einheitlichen Bild – wenn auch mit wirklichen Personen und nicht mit Models. Die hier vorliegende Simulation ist insofern eine besondere, da sie sich zwar ein wenig tarnt, aber nicht wirklich viel Mühe gibt, als solche nicht erkannt zu werden. Im Gegenteil: Schaut man genauer hin, dann entdeckt man an vielen Stellen die massiv gestaltende Hand des (korporierten) Fotografen.

      Hier ein paar der markantesten Eingriffe in das Geschehen (vor dem Bild): (1) Dreizehn Personen in Reihe und aus einer solchen Nähe wären nur mit einem starken Weitwinkelobjektiv zu erfassen gewesen, was aber zu erheblichen Verzeichnungen der Gesichter und Personen geführt hätte; (2) trotz der weißen, sehr hellen Strahlung von hinten und oben sind die Gesichter gut durchgezeichnet, was bei Gegenlichtaufnahmen ohne Aufhellungsblitz unmöglich wäre; (3) die Gesichter sind, wie der Schlagschatten zeigt, nicht von einer und zentralen, sondern von unterschiedlichen und unterschiedlich positionierten Lichtquellen beleuchtet worden und (4) die Schärfentiefe der 13 Gesichterabbildungen variiert (das Bild hat keinen einheitlichen Raum).

      Zu diesen eher fototechnisch bedingten Eingriffen, die Sinn machen, wenn man viele Personen möglichst deutlich und unverzeichnet abbilden will, die also im Dienste der Wirklichkeitsabbildung stehen, finden sich andere Eingriffshandlungen, die Sinn machen, wenn der Fotograf eine bestimmte Deutung erzeugen bzw. nahelegen will und die so weder fototechnisch noch durch die Wirklichkeit bedingt sind, die also der strategischen Wirklichkeitsveränderung dienen. Hier zeigt sich die erzählerische Aktivität des Fotografen besonders deutlich, und deshalb ist deren Ermittlung und Deutung für jede Bildauslegung unabdingbar.

      Der auffälligste Eingriff des fotografischen Autors ist vielleicht die teilweise Umrahmung einiger Personen mit einer diffusen weißen Linie, die aus den Lichtverhältnissen (Lichtbrechung am Rand) so nicht erklärbar ist und die auch nicht als moderne Form des christlichen Nimbus angesehen werden kann. Auch fällt auf, dass die Personen, verlängert man ihren Körper, nicht auf demselben Boden stehen (besonders deutlich bei Person 3 und 4): Manche scheinen auf Fußbänken zu stehen. Offensichtlich wurden zu große Unterschiede der Körperlänge so ausgeglichen, dass eine dynamische Gipfellinie der Köpfe entstehen konnte. Auffällig an dieser Gipfellinie ist nicht nur das stetige Auf und Ab, sondern die Randpositionen (also Person 1 und 13): Sie bilden die äußeren hoch aufragenden Gipfel, die sich als Einzige von der Gruppe weg, also nach außen neigen, was auf deren besondere Stellung hinweist. Drittens zeigen die abgebildeten Körper trotz ihrer Nähe zueinander keinerlei Ko-Orientierung. Die Körper reagieren nicht aufeinander, sondern stehen wie Puppen nebeneinander. Man könnte das Abbild einer Person wegnehmen und ein anderes Abbild einfügen, ohne dass dies auffallen würde.

      Nimmt man all diese Hinweise zusammen, so muss man davon ausgehen, dass es niemals ein Gruppenfoto der abgebildeten Personen gab, sondern dass alle Personen erst einzeln digital fotografiert wurden, und später dann der Fotograf oder ein Designer die Einzelfotos mithilfe von Photoshop oder einer vergleichbaren Software vor einem ebenfalls gesondert erstellten Hintergrund