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Qualitative Medienforschung


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über die Routinen des Alltags hinausweisen, erfährt der Rezipient die Chance einer Horizonterweiterung. Medienerfahrungen sind also entsprechend von anderer Qualität als die in Face-to-Face-Beziehungen gewonnenen. Im Alltag werden diese beiden Formen von Erfahrung in spezifischer Weise verknüpft: Was im »stillen Kämmerlein« aus einem spezifischen Grund angeschaut wird (z. B. Soaps und das Vergnügen an Klatsch-Kommunikation), kann in der interpersonalen Folgekommunikation ganz anders begründet werden (z. B. Rechtfertigung der Soap-Rezeption durch berufliche Gründe im Kontext späterer Gespräche mit Kollegen). Damit wird ersichtlich, dass die Rezeption von Medienangeboten als ein längerer Prozess, als eine »Kaskade von Rezeptionsakten« (Krotz, 1997, S. 82) aufzufassen ist, die über die Rezeption einer einzelnen TV-Sendung weit hinausgehen, in dem mediale und interpersonale Kommunikationen sowie intra- und interkommunikative Prozesse in ein komplexes Verschränkungsverhältnis eintreten.

      Für die beschriebenen Rezeptionsphänomene ist die Annahme der Aktivität und Autonomie des Rezipienten eine notwendige Voraussetzung. Nur wenn davon ausgegangen werden kann, dass Rezipienten über ihre Medienauswahl und den Verlauf der Auseinandersetzung mit einem Medienangebot wirklich selbst bestimmen können, macht es Sinn, von der Rezeption als einem komplexen und vor allem auch selbstverantworteten Geschehen zu sprechen. Die Frage ist jedoch, ob diese Annahme unter den Bedingungen des gegenwärtigen Mediensystems überhaupt zu halten ist. Insbesondere die Anhänger der so genannten Cultivationhypothesis (Gerbner/Gross 1976) gehen davon aus, dass das Angebotsspektrum an Medienthemen in unserer heutigen Mediengesellschaft aufgrund von politisch-wirtschaftlichen Interessen eine spezifische Engführung und Gleichschaltung erfährt: Unpopuläre Informationen geraten in den Hintergrund, während modische Themen doppelt und dreifach in den Medien verhandelt werden (»Schweigespirale«). Entsprechend wird die These formuliert, die inhaltliche Konsonanz der boulevardisierten Medienkommunikation übe eine nivellierende Wirkung auf die Rezipienten aus. Die Autonomie des Zuschauers finde demnach seine Grenzen an dem vereinheitlichten, entpolitisierten Themenangebot der Sender (»mainstreaming«). Der Weg wäre dann nicht mehr weit, bis der Medienkonsument im »kommunikativen Patt des Orientierungszirkels der Quotenmedien« (Schulze 1995) selbst aufgehe. Die Gegenposition wird z.B. durch dem Cultural-Studies-Ansatz verpflichtete Autoren (Stuart Hall, John Fiske) vertreten, die auf Seiten der Rezipienten die Rezeptionselemente von Eigensinn und Widerstand betonen: Medienprodukte, die sich als offene Texte (Umberto Eco) verstehen lassen, bieten einen großen Spielraum für Interpretationen, die einen souveränen und tendenziell bereichernden Umgang geradezu nahelegen. Auch das Rezeptionsvergnügen wird hier anders gesehen: Das Vergnügen der Zuschauer oder Hörer (»die Leute«) an der Rezeption von Unterhaltung kann geradezu als eine Art von Politik des Alltags gegen den Machtapparat von Medien, Wirtschaft und Politik (»der Machtblock«) angesehen werden. Wie so häufig scheint die Wahrheit in der Mitte zu liegen: Die Autonomie des Zuschauers ist eine Freiheit in Grenzen. Das Publikum wird in beiden Perspektiven zumindest prinzipiell doch als – mehr oder weniger stark ausgeprägt – aktiv, widerständig und autonom angesehen. Der minimale Widerstand besteht darin, bestimmten Themen und Programmen ausweichen zu können, er liegt also letztlich (immerhin) in der Nein-Stellungnahme zum ungeliebten Medienangebot (ausschalten). Er geht als maximale Variante darüber hinaus, wenn Medienthemen kritisch reflektiert bzw. selbst Medienangebote hergestellt werden (im Rahmen z. B. verschiedener Online-Video-Portale, Blogs und Webseiten oder auch der Angebote der »Offenen Kanäle«). Individuelle und gesellschaftliche Konstruktionen wirken immer in einem Prozess der Ko-Konstruktion zusammen, wenn Menschen sich im Spannungsfeld von »medialer Überwältigung und kritischer Rezeption« (Sutter 1995) mit Medienangeboten beschäftigen und auseinandersetzen.

      Diskussion und Weiterentwicklung des Modells der Strukturanalytischen Rezeptionsforschung

      Die handlungs- und subjekttheoretische Perspektive in der Massenkommunikationsforschung sieht die Rezeption von Medienangeboten als Teil der Alltagspraxis. Auf diesen grundsätzlichen Ausgangspunkt hin sind zwar alle inzwischen entwickelten handlungstheoretisch orientierten Modelle und Theorien ausgerichtet, in ihrer theoretischen Fundierung sind sie jedoch recht unterschiedlich konzipiert (Charlton 1997, S. 22 f.). Das bislang vorgelegte, vor allem frühe, empirische Material der Strukturanalytischen Rezeptionsforschung bezieht sich überwiegend auf die Rezipientengruppen der (Klein-) Kinder und Jugendlichen. Diese Fokussierung ist jedoch keineswegs theorieimmanenten Gründen oder Zwängen geschuldet, was z. B. biographietheoretische Analysen (Neumann-Braun/Schneider 1993), Studien zur Rundfunkkommunikation, Untersuchungen von Unterhaltungsangeboten für Erwachsene (Neumann-Braun 1993), jüngere Arbeiten zur Lesesozialisation (Charlton/Pette 1999, Groeben/ Hurrelmann 2002) oder zum Medienhandeln junger Erwachsener (Höfer, 2012) zeigen. Die Entwicklungspotenziale des Ansatzes der Strukturanalytischen Rezeptionsforschung zum Ende der 1990er Jahre hin wurden von Charlton (1997, S. 32 f.) skizziert. Darin wird insbesondere auf die Untersuchung der Frage nach Aktivität und Autonomie von Rezipienten sowie auf die Bedeutung von Ko-Texten und sozialen Kontexten für die Medienaneignung verwiesen und schließlich für eine Fortführung einer forciert interdisziplinären Rezeptionsforschung plädiert (vgl. Charlton u.a. 1995). In jüngerer Zeit werden in theoretischer Perspektive zentrale Begrifflichkeiten des Modells präzisiert (z.B. Pseudoadressierungen als eine Form von parasozialer Interaktion, vgl. Sutter 1999) sowie Anschlüsse an Konstruktivismus und Systemtheorie (Sutter/ Charlton 1999, 2001) sowie an Wissenssoziologie und einer Theorie des Alltags (Weiß 2001) diskutiert. In methodischer Perspektive erfahren die Verfahren von Ethnographie und Konversationsanalyse für die empirische Medienrezeptionsforschung eine Fortentwicklung (Schmidt/Neumann-Braun 2003b; Schmidt 2004).

      Es ist insbesondere die Gleichzeitigkeit aus der Fokussierung des Individuums als Medienhandelnder und dessen radikaler Kontextualisierung (jede Medienhandlung wird im Kontext seiner sozialen Situation betrachtet und zwar stets vor, während und nach dem Medienkonsum einschließlich der gemachten Erfahrungen und eingebrachten Erwartungen des Mediennutzers), die die strukturanalytische Rezeptionsforschung insbesondere auch für Untersuchungen des aktuellen Medienwandels so wertvoll macht. Denn im Zuge der Mediatisierung erfährt das individuelle Medienhandeln in seiner Komplexität eine Intensivierung, was sowohl die Medienumgebung des Rezipienten betrifft als auch die Anforderungen, die damit für das Individuum (z. B. bei den je eigenen Identitätsbildungsprozessen, Schmidt/Neumann-Braun 2003a) mit einhergehen. Portable Smartphones, Tablets und immer erschwinglicher werdende Flatrates lassen Medienrezeptionsprozesse in ganz verschiedenen sozialen Situationen stattfinden und alltäglich werden. Diese zunehmende mediale Vernetzung des Individuums sowie die allgegenwärtige Verfügbarkeit verschiedenster Medienangebote (Games, Filme, Clips, Musik, Nachrichten etc.) erfordert eine Rezeptionsforschung, die zum einen den Rezipienten dort wahr- und ernst nimmt, wo sich sein Medienhandeln ereignet, nämlich im Alltag und zum anderen den Rezeptionskontext in seiner Komplexität und Unberechenbarkeit nicht außen vorlässt.

      Literatur

      Baldauf, Heike/Klemm, Michael (1997): Häppchenkommunikation zur zeitlichen und thematischen Diskontinuität beim fernsehbegleitenden Sprechen. In: Zeitschrift für angewandte Linguistik/GAL-Bulletin, H. 2, S. 41–69.

      Charlton, Michael (1987): Möglichkeiten eines sozialwissenschaftlichen Handlungsbegriffs für die psychologische Forschung. In: Zeitschrift für Sozialpsychologie, Jg. 18, H. 1, S. 2–18.

      Charlton, Michael (1997): Rezeptionsforschung als Aufgabe einer interdisziplinären Medienwissenschaft. In: Ders./Schneider, Silvia (Hrsg.): Rezeptionsforschung. Opladen, S. 16–39.

      Charlton, Michael/Neumann(-Braun), Klaus (1986): Medienkonsum und Lebensbewältigung in der Familie. München.

      Charlton, Michael/Neumann(-Braun), Klaus (1990): Medienrezeption und Identitätsbildung. Tübingen.

      Charlton, Michael/Neumann(-Braun), Klaus (1992): Medienkindheit – Medienjugend. München.

      Charlton, Michael/Pette, Corinna (1999): Lesesozialisation im Erwachsenenalter: Strategien literarischen Lesens in ihrer Bedeutung für Alltagsbewältigung und Biographie. In: Groeben, Norbert (Hrsg.): Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (10. Sonderheft). Tübingen, S. 102–117.

      Charlton, Michael/Goetsch,