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Qualitative Medienforschung


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erkennen, die die einzelnen Rezeptionshandlungen beeinflussen. Diese Themen nehmen das Denken und Fühlen von Individuen intensiv »in Beschlag« und führen – wie erwähnt – zu thematischen Voreingenommenheiten. Rezipienten steuern die Auseinandersetzung mit Medien durch ihre Auswahl, selektive Zuwendung und ihre thematisch voreingenommene Auffassung vor, während und nach der eigentlichen Rezeption.

      Die Medienrezeption im engeren Sinne lässt sich in prozessualer Perspektive in drei Phasen unterteilen, nämlich in eine Vorphase (soziale Einbettung der Rezeption), eine zweigliedrige Hauptphase (thematisch voreingenommenes Sinnverstehen und Rezeptionssteuerung) und eine zweigliedrige Nachphase (Aneignung und Vermittlung zwischen Medienangebot, Biographie und sozialer Lage sowie Folgekommunikation).

      Ganz am Anfang der Rezeption – in der Vorphase – steht häufig ein Entscheidungspunkt, welche Medien man in welcher Situation wie und mit wem nutzen möchte. Der Gebrauch von Medien definiert Handlungssituationen in spezifischer Weise sozial – auch im Falle der Alleinnutzung: Die Nutzung eines MP3-Players in öffentlichen Verkehrsmitteln zum Beispiel schafft dem Hörer nicht nur ein persönliches sinnliches Musikvergnügen, sondern strukturiert gleichzeitig auch seine Beziehungen zur Mitwelt, gegenüber der er sich in diesem Fall sozial abgrenzt. Werden Medien gemeinsam genutzt, wenn beispielsweise Fotos auf dem Smartphone gezeigt werden, bedarf es expliziter sozialer Abstimmungsprozesse (vgl. Keppler 2013). Solche Abstimmungen können routinisiert sein, sie können aber auch aktueller Aushandlungen bedürfen. Virulent werden dann die Handlungsdimensionen der (1) Handlungskoordination (z. B. Herstellen eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus, Steuerung von Dialog und Auseinandersetzung, Erhalt bzw. Aufbau von Rollenverteilungen in Kleingruppen), (2) Macht und Selbstbehauptung (z. B. Ausüben von sozialem Druck, Beweisen von Kompetenz und Überlegenheit, Kontrollieren von Gruppenstimmungen, sich im Kontext der Mediennutzung dem Einfluss anderer entziehen) sowie (3) affektiven Beziehungsgestaltung (z. B. sich selbst mit Bezug auf Medienangebote mitteilen, sich mit Mediengeschichten versorgen/verwöhnen lassen [individuelle Playlisten erstellen, oder den eigenen Video-on-Demand-Account teilen], Herstellung von emotionaler Gemeinsamkeit über einen Medienbezug, Ablenken von sich selbst und seinen Bedürfnissen). Ganz unabhängig von einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit einem Medienangebot kommen demnach im Verlauf eines Rezeptionsvorgangs sehr vielfältige soziale Bedürfnisse und Motive zum Tragen. Es lässt sich folgern, dass es im Mediengebrauch immer auch darum geht, soziale Beziehungen in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen.

      Wenn es dem Rezipienten mehr um die Inhalte als um die sozialen Rahmenbedingungen geht, gewinnt die zweite Rezeptionsphase besondere Bedeutung: Rezipienten gehen entsprechend ihren handlungsleitenden Themen thematisch voreingenommen in die Rezeptionssituation. Sie wählen zunächst aus einem breiten Angebot ein bestimmtes Medium bzw. einen bestimmten Medieninhalt aus. Selbst wenn ein Medienkonsument den Fernseher einschaltet und sich scheinbar gedankenverloren dem »programflow« mit der Fernbedienung in der Hand zu überlassen scheint, verfügt er doch normalerweise über wirksame Strategien der Aufmerksamkeitssteuerung – und sei es, dass er dem Reiz des Spektakels folgt und bei spektakulären Bildern »hängen bleibt«. Untersuchungen zeigen, dass Rezipienten tendenziell überwiegend die Themenwahl nach überdauernden thematischen Vorlieben vornehmen, es besteht aber auch die Möglichkeit, sich auf neue Inhalte assimilativ (d.h., Inhalte werden verändert, um sie der eigenen Weltsicht anzupassen) oder akkomodativ (d.h., Inhalte werden in die eigene Weltsicht integriert und verändern diese partiell) einzulassen.

      Der Auswahl eines Medienangebots folgt die eigentliche Auseinandersetzung mit dem Medieninhalt auf der Basis thematisch voreingenommenen Sinnverstehens sowie unter Anwendung von Strategien der Rezeptionssteuerung: Der Rezeptionseinstieg kann direkt oder mit Unterbrechungen erfolgen. Weiterhin kann zwischen verschiedenen illusiven (hier nicht als Täuschung, sondern als ergriffener Mitvollzug einer fiktiven Welt gemeint) respektive inlusiven (distanziertes Miterleben) Rezeptionsmodi (Rapp 1973) gewählt werden (TV-Programme können kommentiert oder passiv-selbstversunken angeschaut werden etc.). Darüber hinaus sind verschiedene Formen der Distanzierung zum Mediengeschehen (vorübergehende Distanzierung, Parallelhandlungen, vorübergehende Unaufmerksamkeit etc.) und der Beendigung des Medienkonsums (vorzeitiger Rezeptionsabbruch etc.) praktizierbar, gefolgt von der Frage, wie sich das Anschlussgeschehen gestaltet (erneuter Medienkonsum, andersartige Beschäftigung etc.).

      Auf einer abstrakteren Ebene lassen sich spezifische Rezeptionshaltungen und -stile unterscheiden: Man kann sich dem Medienangebot – wie erwähnt – emotional gleichsam überlassen, womit es zu einer Form von unmittelbarem Miterleben kommt, das ganz im Zeichen von Illusion und Identifikation steht (aber auch hier lassen sich im Übrigen die soeben beschriebenen Distanzierungsstrategien zur Nähe-Distanz-Regelung einsetzen), oder der Rezipient setzt sich während des Sehens oder Hörens immer wieder reflexiv mit dem Medienangebot auseinander (etwa wenn er mit den Medienakteuren, laut oder leise, zu diskutieren beginnt), oder ein Rezipient kommentiert das Gesehene in den sozialen Medien oder auch mit anwesenden Ko-Rezipienten, deren Anwesenheit ihm wichtig ist (z. B. die Freundinnenclique, die zusammen eine Soap anschaut, resp. die Freundesclique, die zusammen Horrorfilme goutiert) – hier können sich individuelle Rezeptionsstile herausbilden wie z. B. der »coole Analytiker«, der die Mörder immer findet, oder der »hartgesottene Profi«, der auch die schlimmsten in einem Horrorfilm gezeigten Grausamkeiten ohne Wimpernzucken erträgt.

      Ein Blick in die Handlungspraxis gemeinsamen Fernsehens zeigt, dass die Zuschauer dabei viel sprechen, wobei die Kommunikation meist knapp und komprimiert erfolgt, was dazu geführt hat, sie als »Häppchenkommunikation« zu bezeichnen. Diese »empraktische«, d. h. handlungsbegleitende Ko-Kommunikation, erfüllt situativ und ökonomisch angemessen spezifische Funktionen (z.B. Kooperationsorganisation, Verstehen und Deuten, Bewerten, sich Vergnügen [Lästern]), ohne dass dabei das Fernsehgeschehen verpasst würde) (Baldauf/Klemm 1997). Dies gilt übrigens auch für die Kommentierungen von Fernsehangeboten in den sozialen Medien (Michel 2015).

      Das Ende eines Filmanschauens oder einer Lektüre darf nicht mit dem Ende des Rezeptionsprozesses gleichgesetzt werden. Es schließt sich in der Nachphase eine Aneignungsphase an, die für die Identitätsbewahrung von besonderer Bedeutung ist. In dieser Phase wird das Rezipierte an die eigene Lebenssituation assimiliert, oder der Rezipient akkomodiert seine Sicht der Dinge an die dargebotene Perspektive des Medien-anderen (parasoziale Interaktion mit einem medialen anderen i.S. des generalized other nach George H. Mead). Die Vermittlungstätigkeit zwischen Subjekt und kulturellem Angebot ist zeitlich nicht begrenzt: Häufig geht das Gespräch mit sich selbst (intrakommunikative Medienverarbeitung) in ein Gespräch mit anderen (interkommunikative Medienverarbeitung) über. Dies kann während der Rezeption (s. o.), unmittelbar nach ihr oder oft auch zeitversetzt erfolgen (am nächsten Morgen am Arbeitsplatz oder beim nächsten Treffen im Freundeskreis). Solche Re-Thematisierungen im Rahmen von Folgekommunikationen können aspekthaft vorgenommen werden (kurze Medienverweise) oder großflächig erfolgen (umfangreiche Medienrekonstruktionen), implizit (Medienspuren) oder explizit. Für viele Serienfans gehört das »Gespräch danach«, oder auch das Twittern zum Tatort, konstitutiv zum Anschauen der jeweiligen Sendung dazu, sie rezipieren die aktuelle TV-Folge also schon auf das spätere Gespräch oder das begleitende Twittern hin. Dann ist es bereits zu einer Verknüpfung von eigentlicher Rezeptionssituation und späterer Kommunikationssituation mit relevanten anderen gekommen, auf der Basis dessen, dass man etwas mit ihnen teilen möchte, sich also im Gespräch mit einem Gegenüber sozial verorten will. Die Förderung resp. Beeinträchtigung dieser Vermittlungsaktivität hängt insbesondere von der Art und Weise ab, wie gewohnte Darstellungs- und Denkschablonen bei der ästhetischen Gestaltung des Medienthemas transzendiert werden und eine Auseinandersetzung mit der Sachwelt, der sozialen Umwelt sowie mit sich selbst und seiner sozialen Positionierung monologisch oder dialogisch angeregt wird.

      Die Medienkommunikation eröffnet wichtige Handlungsoptionen, die in natürlichen Face-to-Face-Situationen nicht gegeben sind: So entlastet z.B. die Fernsehrezeptionssituation von Handlungsverpflichtungen, das heißt, man kann fiktiv am Handlungsgeschehen teilnehmen, ohne dass man in dieses real verstrickt wäre und spezifischen Handlungsverpflichtungen nachkommen müsste. Die Rezeption von Medienangeboten ermöglicht somit eine besondere Art von identitätsrelevantem »Probehandeln«: Der Rezipient kann sich in seinem Prozess der Identitätsaushandlung aus der Sicht konkreter Bildschirmakteure resp. intersubjektiver