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Handbuch Jüdische Studien


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wieder und tiefgehend geprägt hat. Zu den Jüdischen Studien gehören auch Gebiete wie Memorialkultur, Recht, Ökonomie und Geschlechterrollen, die allesamt in den jüdischen Traditionen spezifische Ausprägungen erfuhren. Auch das Verhältnis von Schrift und Oralität ist Teil dieses Forschungsfelds. Die gesprochene und die geschriebene Sprache hatten einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung der jüdischen Religion und Kultur. Weil zu den Jüdischen Studien auch viele „säkulare“ Gebiete gehören – wie etwa Philosophie und Literatur, Zionismus und Diaspora – haben sie sich neben der traditionellen Judaistik etabliert, die, wenn nicht ausschließlich, so doch weitgehend, von den Fragen der Religion bestimmt ist. Die Jüdischen Studien bilden gewissermaßen das Ende einer historischen Entwicklung, die mit der Haskala, der jüdischen Aufklärung, begann, sich über die – vor allem in Berlin und Breslau entwickelte – „Wissenschaft des Judentums“ fortsetzte, bevor der Nationalsozialismus dieser religiösen wie auch bekenntnisneutralen Tradition „des Jüdischen“ ein brutales Ende setzte. Die Flucht vieler deutscher intellektueller Jüdinnen und Juden in die USA, nach Palästina oder nach Lateinamerika führte in diesen Regionen zur Weiterentwicklung dieses Gedankenguts des deutschen Judentums und trug in einigen Ländern schließlich zur Entstehung der Jewish Studies bei. Die sich seit ca. 1980 allmählich auch im deutschsprachigen Raum etablierenden Jüdischen Studien stellen einen Re-Import dieses aus Deutschland und Europa vertriebenen Gedankenguts dar.

      Allerdings lässt sich im Land der Täter das Wort „jüdisch“ kaum ohne den Begriff der „Shoah“ denken. Insofern eignet den Jüdischen Studien des deutschen Sprachraums eine Dimension, die auch die Reflexion über die nichtjüdische deutsche Geschichte voraussetzt – mit einem Rückblick nicht nur in die nationalsozialistische, sondern auch die davorliegende Vergangenheit. Die „Wissenschaft des Judentums“ etablierte sich in einem historischen Zeitalter, in dem an den deutschen Universitäten das Fach Geschichte seinen Einzug hielt – mit dem impliziten und oft auch expliziten „Auftrag“, ein Bewusstsein und die psychologische Basis für die „deutsche Nation“ zu schaffen. In Deutschland entwickelte sich der Nationalgedanke zunächst in akademischen Kreisen, bevor er auch bei anderen Bevölkerungsschichten Fuß fasste. Eines der Mittel, dem Nationalismus breite Zustimmung zu verschaffen, bestand darin, das „Jüdische“ zu einem Synonym für „undeutsch“ zu erklären. Gleichzeitig verlangte die Aufklärung nach Rationalität und nach neuen Kriterien der „Wissenschaftlichkeit“ in der akademischen Forschung und Lehre. Die Entstehung der „Wissenschaft des Judentums“ entsprach dem Versuch, sowohl dem Anspruch an Vernunft und Wissenschaftlichkeit gerecht zu werden als auch einen Rahmen zu entwickeln, der die Bewahrung jüdischer Traditionen innerhalb eines neuen antijüdischen Nationalismus zuließ. Die modernen Jüdischen Studien versuchen, an diese Tradition anzuschließen, doch angesichts des Zivilisationsbruchs durch die Shoah kann nur von einem Versuch die Rede sein. Vor allem aber werden sie – anders als ein Teil der Jewish Studies des anglophonen Raums – notwendigerweise immer die nichtjüdische Geschichte explizit oder implizit mitreflektieren.

      Jüdische Studien gehören mittlerweile zum festen Bestandteil des akademischen Lebens an vielen deutschen, österreichischen und schweizerischen Universitäten. (Im Anhang haben wir die Studien-, Lehr- und Forschungsbereiche, im deutschsprachigen Raum aufgelistet. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, S. 493.) 2012 wurde mit Unterstützung des Bundesforschungsministeriums sowie der beteiligten Universitäten das Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg (seit Oktober 2017 Selma Stern Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg) gegründet, das der Entwicklung der Jüdischen Studien im deutschsprachigen Raum Rechnung zu tragen versucht. Zu den Gründungsmitgliedern gehören die Humboldt-Universität zu Berlin, die Freie Universität, die Technische Universität, die Universität Potsdam, die Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar sowie das Abraham Geiger Kolleg und das Moses Mendelssohn Zentrum an. 2013 wurde die Viadrina (Universität Frankfurt/Oder) zu einem Mitglied des Verbundes (www.zentrum-juedische-studien.de). Während mit der an der Universität Potsdam angesiedelten School of Jewish Theology ein theologisch-religionswissenschaftlicher Zweig geschaffen wurde, orientiert sich der größere Teil des Zentrums an den bekenntnisneutralen akademischen Disziplinen, für die Stellen für Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen geschaffen wurden. Einige dieser Stellen wurden inzwischen von den Universitäten verstetigt und werden für eine dauerhafte Verankerung der Thematik an den Berliner und Brandenburger Universitäten sorgen. In Heidelberg existiert schon seit 1979 die Jüdische Hochschule, an der ebenfalls „säkulare“ wie theologische Inhalte vermittelt werden. In Hamburg wurde 1966 das Institut für die Geschichte der deutschen Juden gegründet, in Leipzig entstand 1995 das Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur und in Graz das Centrum für Jüdische Studien. Diese Zentren sind nur einige der prominentesten Beispiele für das Interesse an Jüdischen Studien im deutschsprachigen Raum und deren Präsenz in akademischen Einrichtungen. Einige Universitäten – etwa die Universität Potsdam – haben auch Studiengänge für Jüdische Studien eingerichtet, die das Fach im BA und im MA anbieten.

      Das Handbuch richtet sich an Studierende, für die die Jüdischen Studien oft Neuland darstellen. Es wird aber auch vielen Promovierenden, denen die inter- und transdisziplinäre Perspektive der Jüdischen Studien nicht notwendigerweise vertraut ist, ein Begleiter während des Promotionsstudiums sein. In übersichtlichen Aufsätzen, die nach den wichtigsten Stichworten geordnet sind, bietet das Handbuch eine erste Einführung und einen Überblick über die Gebiete, die sich in den Jüdischen Studien immer wieder als relevant erweisen. Für diese Beiträge konnten exzellente Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verschiedener Universitäten und akademischer Einrichtungen gewonnen werden. Einer von ihnen, der evangelische Theologe und Filmexperte Werner Schneider-Quindeau, ist zu unserer großen Betroffenheit verstorben – nur kurz, nachdem er uns seinen Beitrag geschickt hatte. Unsere Zielgruppe sind sowohl die Studierenden in den rabbinischen und christlich-theologischen Curricula und Lehreinrichtungen, für die neben ihrer geistlichen auch eine allgemein akademische Ausbildung erforderlich ist, als auch Studierende, die den Themen der Jüdischen Studien in einem bekenntnisneutralen Fach wie etwa der Geschichte nachgehen. Darüber hinaus gibt es auch viele Studierende der Kulturwissenschaft, der Philosophie, der Kunstgeschichte oder der Literaturwissenschaften, die im Laufe ihres Studiums immer wieder auf Fragen der deutsch-jüdischen und europäisch-jüdischen Kultur und Geschichte stoßen. Und es gibt andere, die sich im Verlauf ihres Studiums der bedeutenden jüdischen Anteile an der deutschsprachigen Kultur bewusst werden und darüber Näheres zu erfahren suchen. In zahlreichen Fächern sind heute Texte und Fragestellungen aus dem Bereich der Jüdischen Studien zu einem Teil des Kanons geworden, ohne dass sich die Studierenden dieser Tatsache immer bewusst sind. Wir hoffen, dass dieser Band dazu beiträgt, den Blick für diese Einflüsse zu schärfen.

      In einigen Disziplinen und Einrichtungen, in denen Jüdische Studien zum Lehrplan gehören, wie auch in der Öffentlichkeit ist in den letzten Jahren eine Verschiebung des Interesses spürbar geworden: Galt bis in die 1980er Jahre das Interesse vor allem dem Dialog zwischen Judentum und Christentum, so richtete es sich seit den 1990er Jahren auf das Verhältnis der drei monotheistischen Religionen und Kulturen zueinander – und dies auf theologischer wie auf säkularer Ebene. Deshalb wird im Handbuch auch diese interreligiöse/interkulturelle Perspektive einbezogen. Diese Interessenverschiebung hat viel mit aktuellen und weltweiten Entwicklungen zu tun, die Themen wie Diaspora, Migration oder transkulturelle Erfahrungen immer weiter in den Vordergrund treten ließen. In diesem Kontext kommt den Jüdischen Studien eine besondere Rolle zu.

      Wie ist es möglich – so könnte man eine der Fragen formulieren, die sich an die jüdische Geschichte richten – wie ist es möglich, dass eine Kultur so lange und gegen so viele Widrigkeiten und Verfolgungen Bestand haben konnte – und dies auch noch in der Zerstreuung? Aus den Sichtweisen, die sich in den verschiedenen Beiträgen auftun, ergeben sich einige mögliche Antworten auf diese Frage. Sie verweisen einerseits auf die Beharrlichkeit eines religiös-kulturellen Konzepts, das schon im 6. Jahrhundert v. u. Z. mit dem Exil in Babylon begann, wo ein Gutteil der biblischen Texte wie auch die Lehren des Monotheismus ausformuliert wurden, und dann mit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 und dem Beginn der Diaspora von den Rabbinen entwickelt wurde. Sie offenbaren andererseits aber