65 Millionen Menschen auf der Flucht oder in Migrationskontexten befinden, erweist sich diese Frage auch für andere Kulturen von hoher Relevanz. Die aktuellen Bevölkerungsbewegungen – sowohl bei denen, die zur Migration gezwungen sind, als auch bei denen, die Migranten aufnehmen – erzeugen kulturelle Begegnungen, die oft spannungsgeladen und konfliktreich sind, sich in vielen Fällen aber auch als bereichernd erweisen. So bietet die jüdische Erfahrung, die vieles von anderen Kulturen integriert, in diesen aber auch ihre Spuren hinterlassen hat, Erkenntnismöglichkeiten für eine Welt, in der sich keine Kultur mehr gegen die andere abzuschotten vermag. In den letzten 2000 Jahren haben jüdische Gemeinschaften vorgelebt, wie es gelingen kann, das Eigene zu bewahren, das Andere aber auch in die eigene Erfahrung zu integrieren. Auf diese Weise werden die Jüdischen Studien zum Vorbild für politische Handlungsweisen und universitäre Forschungen, die sich mit Migration, Stereotypenbildung, Minderheitenschutz und interkulturellen Verflechtungen beschäftigen. Diesen Modellcharakter haben sie auch für die neu entstehenden Islamzentren, die u. a. klären müssen, wie eine europäische Kultur, die in der Nachfolge der Aufklärung steht, einer Kultur begegnet, für die die Aufklärung heute – wenn auch nicht früher – in erster Linie eine „westliche“ oder „christliche“ Erfindung ist. Die christliche Gesellschaft hatte viele der großen wissenschaftlichen wie philosophischen Innovationen der Renaissance den Importen aus dem islamischen Raum zu verdanken. Doch heute scheinen – aus Gründen, die modernen politischen Einflüssen zu verdanken sind – Begriffe wie „Emanzipation“‚ „Selbstbestimmung“ oder „Aufklärung“ vielmehr Konfliktpotential zu bergen.
Das Handbuch teilt sich in zwei große Gebiete: Im ersten wird ein historischer Überblick über die Geschichte und Grundlagentexte des Judentums gegeben. Welche Rolle haben Tora und Talmud? Wie entwickelte sich das Judentum, als es unter den Bedingungen der Diaspora zu leben begann? Was waren die Bedingungen für eine Existenz, die von der Begegnung mit anderen Religionen, Kulturen und Traditionen bestimmt war? Und näher an unserer Zeit: Welche Verschiebungen fanden statt, als – unter den Bedingungen der Haskala – aus dem religiösen Begriff „jüdisch“ ein kultureller wurde? Wie definierten Jüdinnen und Juden, die nicht mehr die Synagoge besuchten und sich dennoch als jüdisch verstanden, ihre Zugehörigkeit? Manchmal ist der Übergang von der einen zur anderen Definition fließend. In anderen Fällen – beim Begriff „Ritual“ z. B. – war die Grenzziehung zwischen der religiösen und der kulturellen Selbstdefinition so groß, dass wir dem Begriff zwei getrennte Beiträge gewidmet haben: Im ersten wird das Ritual unter den religiösen Bedingungen beschrieben, im zweiten lässt sich nachverfolgen, wie religiöse Gewohnheiten eine neue, „aufgeklärte“ Begründung erfuhren.
Solche kulturellen Verlagerungen vollzogen sich innerhalb jüdischer Denktraditionen schon lange vor dem Beginn der Aufklärung. Sie waren auch der Diaspora inhärent und wurden von den Rabbinen zunächst in mündlicher Exegese entwickelt, dann im Talmud verschriftet, bevor die Flexibilität der Auslegung zu einem integralen Bestandteil jüdischen Denkens wurde. Man könnte sogar behaupten, dass die Selbstreflexion einen festen Bestandteil der jüdischen Religion ausmacht und dass eben dieser Wesenszug auch den Schock der Aufklärung, die mit der Religion aufzuräumen versuchte, zu überstehen vermochte. Auf der einen Seite entstand in Reaktion auf die Aufklärung die jüdische Orthodoxie, die sich einer weiteren Flexibilität der Auslegung verweigerte – übrigens ein Prozess, der auch in der christlichen Gesellschaft sein Pendant fand: Der Begriff „Fundamentalismus“, das sollte man nicht vergessen, taucht zunächst in der christlichen Gesellschaft (um etwa 1900) auf und stellte die Selbstbezeichnung einer evangelikalen Bewegung innerhalb des amerikanischen Christentums dar. Auf der anderen Seite wurde die Selbstreflexion aber auch zu einem Teil der modernen jüdischen Selbstdefinition und fand in zahlreichen nichtreligiösen Zusammenhängen, die von der Literatur, über die Kunst bis zur Psychoanalyse reichen, ihren Ausdruck. Viele der Texte der jüdischen Aufklärung entstanden im deutschsprachigen Raum und sind auf Deutsch geschrieben. Um diese Texte im Original lesen zu können, haben eine Reihe von ausländischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der Jewish Studies Deutsch gelernt. Dieses Interesse für die deutsche Sprache und Kultur kam dem Austausch mit der Forschung im Ausland und dem Aufbau der Jüdischen Studien in Deutschland zugute.
Die Selbstreflexion ist heute auch zu einem integralen Bestandteil der Jüdischen Studien geworden – und in Deutschland verbindet sie sich oft mit der Reflexion, die der Beschäftigung mit der deutsch-jüdischen Geschichte inhärent ist. Das dürfte das Spezifische der Jüdischen Studien in Deutschland sein: dass die Selbstzweifel, die sich mit der Erbschaft des Nationalsozialismus verbinden, in der Selbstreflexion der Erben jüdischer Traditionen einen Widerpart findet. Daraus ergeben sich völlig andere Perspektiven und Forschungsfelder als in den Jewish Studies. Hinzu kommt, dass in den USA überwiegend Forscher und Forscherinnen auf dem Gebiet aktiv sind, die sich selbst dem (religiösen oder kulturellen) Judentum zurechnen. In Deutschland dagegen kommen viele Forscher und Forscherinnen nicht aus einem jüdischen Elternhaus. Das ist in erster Linie die Folge der Vertreibung und Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland. Es hat in zweiter Linie aber auch Folgen für die Fächergruppe selbst wie auch für jene, die sich auf die Jüdischen Studien einlassen.
Bei den nichtjüdischen Forschern der Jüdischen Studien in Deutschland tun sich einige Unterschiede auf. Manche von ihnen entscheiden sich zur Konversion (womit sie sich aus ihrem bisherigen Kontext herauslösen und zum religiösen Judentum hinwenden). Andere gehen diesen Schritt nicht und suchen eher nach den Möglichkeiten eines Zusammenwirkens von jüdischer Selbstreflexion mit einer Reflexion über die nichtjüdische Erbschaft. Beide Herangehensweisen sind in Deutschland deutlich ausgeprägt. Zwar gibt es auch in den USA eine hohe Anzahl von Konvertiten – jeder sechste Bürger, der sich zum Judentum bekennt, ist Konvertit.1 Aber diese Konversion hat zumeist einen ganz anderen Hintergrund. Oft hängt sie mit der Tatsache zusammen, dass der Ehepartner oder aber der Vater und nicht die Mutter jüdisch sind. Insgesamt sind die Jewish Studies in den USA weitgehend eine „jüdische Angelegenheit“, was manchmal sogar zum Vorwurf (aus den eigenen Reihen) führt, dass es sich um ein „selbstaffirmatives“ Studium einer „ethnischen“ Gruppe handle, vergleichbar den Afro-American Studies.2 Solche Debatten gibt es in den deutschen Jüdischen Studien höchstens in Andeutungen.
Generell stellt sich die Frage, ob ein Fach, das eine bestimmte Bevölkerungsgruppe mehr betrifft als andere, nur von Mitgliedern dieser Gruppe erforscht und gelehrt werden kann. Das entspricht etwa der Frage: Können katholische und protestantische Theologie nur von Gläubigen dieser Kirchen unterrichtet werden? In den meisten Fällen würde das wohl bejaht werden, weil es bei der Theologie auch um Glaubensinhalte geht. Ganz anders sieht es aber bei der Religionswissenschaft aus, die keineswegs erfordert, Mitglied der erforschten Glaubensgemeinschaft zu sein. Die deutsche und europäische Wissenschaft des 19. Jahrhunderts hat sich keineswegs schwer getan, den Islam oder den Buddhismus zu erforschen und Urteile über das Judentum zu fällen, ohne den Standpunkt dieser Religionen einzunehmen. Inzwischen hat die Religionswissenschaft einiges dazu gelernt – vor allem hat sie begonnen, die eigene Perspektive (und Voreingenommenheit) in die Forschung einzubeziehen und zu reflektieren. Diese Verschiebung der Sichtweise hat auch einen Teil der Theologie erfasst. An vielen (wenn auch keineswegs allen) theologischen Fakultäten des deutschen Sprachraums gibt es inzwischen auch religionswissenschaftliche Lehrstühle. Einige von ihnen sind weiterhin missionarisch ausgerichtet, andere richten aber auch einen (vorsichtigen) Blick zurück auf den eigenen Glauben. Diese Entwicklung ist einerseits die Folge des Säkularisierungsprozesses, der die Kirchen zwang, den eigenen Glauben historisch-kritisch zu lesen. Es hat andererseits aber auch zur Folge gehabt, dass nichtchristliche, also etwa jüdische Forscher begannen, das Christentum unter die Lupe zu nehmen. Wäre heute ein Handbuch Christliche Studien denkbar? Das ist anzunehmen: etwa in Israel oder auch in einigen islamischen Ländern, soweit diese religionswissenschaftliche Forschung (aus der auch immer Reflexion über die eigenen religiösen Traditionen resultiert) zulassen. Die Tatsache, dass ein Handbuch Christliche Studien nur in Gesellschaften denkbar ist, wo das Christentum zur Minderheit gehört, indiziert schon die spezifische Situation eines solchen Handbuchs: Es beschäftigt sich mit einer Minorität. Im deutschen Fall kommen jedoch zwei weitere Faktoren hinzu: Erstens die Selbstreflexion über die christliche Erbschaft, die das Wort „jüdisch“ nach der Shoah auslöst, und zweitens die Anerkennung, dass jüdische Denktraditionen (religiöser wie