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Handbuch Jüdische Studien


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Parallelisierung: „Die Mutterschaft ist durch das Zeugnis der Sinne erwiesen, während die Vaterschaft eine Annahme ist, auf einen Schluß und auf eine Voraussetzung aufgebaut.“19 Der Vater repräsentiert also das „Prinzip Geist“ aus dem einfachen Grund, dass sich die Vaterschaft nicht feststellen lässt. Die Zuweisung des Geistigen an den männlichen Körper basiert damit auf dem Prinzip des pater semper incertus est, das schon das römische Recht kannte. Das ist ein Indiz, dass die Patrilinearität nur so lange aufrechtzuerhalten ist, als sich die Vaterschaft nicht feststellen lässt. Da also die Patrilinearität auf dem Unwissen über die leibliche Vaterschaft beruht, wird sie heute – mit einer genaueren Kenntnis der Zeugungsvorgänge – auch in Frage gestellt. Dieser Hintergrund des patrilinearen Prinzips ist wichtig, um zu verstehen, warum das Judentum bei der Frage der erblichen Zugehörigkeit eine Richtung einschlug, der dem Rest der antiken Welt und auch der eigenen Vorgeschichte konträr war. Es könnte aber auch erklären, warum heute – zumindest im Reformjudentum – das rein matrilineare Prinzip in Frage gestellt wird.

      Judentum und Hellenismus

      Die Entscheidung zu einer „anderen“ Erblinie hing eng mit der historischen Situation zusammen, in die das Judentum durch die Diaspora geriet. Diese begann schon lange vor der zweiten Zerstörung des Tempels, mit dem Exil in Babylon, wo nicht nur ein Teil der Bibeltexte formuliert und kanonisiert wurde, sondern auch ein Regelwerk entstand, durch das die jüdische Gemeinschaft in der Fremde zusammengehalten werden sollte. Die Kultur Babylons stellte eine geringere Bedrohung für die jüdische Gemeinschaft dar als der Hellenismus, dessen Kultur auf einem ähnlichen Schriftsystem und damit auf einem hohen Grad an Abstraktion basierte. Lange vor der Entstehung des Christentums war der spätere christlich-jüdische Konflikt im Gegensatz griechisch-jüdisch angelegt. Eines seiner Symptome waren die unterschiedlichen Rechtskulturen, die sich – wie später auch beim Verhältnis von Judentum und Christentum – sowohl in Parallele als auch in Konkurrenz zueinander herausbildeten.

      Im 7. Jahrhundert v. u. Z. erklärte Josija das „Buch der Lehre“ von Moses, Grundstock von Deuteronomium, zum Gesetzbuch. Laut Israel Finkelstein und Neil A. Silberman erhielt das Buch Exodus in der zweiten Hälfte des 7. oder Anfang des 6. Jahrhunderts v. u. Z. seine endgültige Form.20 Das entspricht in etwa dem Beginn des babylonischen Exils (597 v. u. Z). Nur kurze Zeit später vollzog sich auch in Griechenland ein Prozess der Gesetzeskanonisierung: Ca. 575 v. u. Z. setzte Solon in Athen ein Regelwerk durch, das prägend werden sollte für die griechische Kultur. Josijas Kanonisierung der Tora markiert den Beginn eines praktizierten Monotheismus. Dieser war durchsetzbar, weil er auf der Wirkmacht der (bleibenden) Schrift basierte: Mit einem Buch des Gesetzes aus Mose Hand wurde es möglich, „ein für allemal vollendete Tatsachen zu schaffen, also jeden Versuch einer Kritik an den Maßnahmen bzw. einer Revision als gegen den erklärten und schriftlich nachprüfbaren Willen JHWHs zu brandmarken“.21 Nicht nur bestätigte die unvergängliche Schrift das ewige Wort Gottes, sondern als „Wort Gottes“ konnte die Schrift auch ihrerseits Anspruch darauf erheben, für eine unwiderlegbare Gültigkeit zu stehen. Ähnlich konnte sich Solons Gesetzesreform, die in derselben Epoche und zu einer Zeit formuliert wurde, in der das griechische Alphabet auf das Denken Athens Einfluss nahm,22 nur deshalb durchsetzen, weil sie schriftlich fixiert wurde.

      Die Zerstörung des davidischen Tempels und der Beginn des Exils in Babylon – eine erste diasporische Erfahrung – trugen zur Entwicklung einer spezifisch jüdischen Kultur bei und bewirkten, dass jüdische und griechische Denkwelten schon bald in Konkurrenz zueinander gerieten. Im babylonischen Exil entstand etwas Neues: „Ein Volk und eine Religion, die ihre Identität nicht von einem Land und einem Staat ableiten, sondern von Normen wie Beschneidung, Schabbat, Speisegesetzen und einer allgemeinen gemeinsamen Tradition, die unabhängig von einem bestimmten Land ist und überall gelebt werden kann.“23 Gerade weil einige jüdische Gelehrte in der „Babylonisierung“ (Anpassung an Babylon) eine Gefahr sahen, verstärkten sie das von Josija geschaffene religiöse Regelwerk. Die jüdische Gemeinschaft erhielt so eine erste diasporakompatible Konstitution mit Verfassung, Richtlinien usw. (siehe hierzu auch den Beitrag von Liliana Feierstein, S. 99).

      Noch im 5. Jahrhundert trat der Unterschied zum Griechentum deutlich zutage. Im Jahr 457 v. u. Z. entsandte der persische Großkönig Artaxerxes I. zwei hohe Staatsbeamte, die der jüdischen Priesteraristokratie angehörten, darunter Esra, nach Jerusalem. Die Perser wollten eine Region beruhigen, deren Aufständische von Athen und dem Attischen Seebund unterstützt wurden. Esra wurde erlaubt, mit einer „Anzahl von Israeliten, Priestern, Leviten, Sängern, Torwächtern und Tempeldienern nach Jerusalem“ zu reisen.24 Im Jahr 440 riefen er und Nehemia die Bevölkerung von Jerusalem vor die Tore der Stadt und ließen die Tora laut verlesen. Hatte es vorher die Propheten gegeben, so begann mit Esra die Epoche der „Schreiber“ und Schriftgelehrten. Sie legten den Grundstein für die Überlieferung der Schrift und machten sie zugleich verständlich.25 Diese Tradition wird seither von den „Bibellesern“ weitergeführt.

      Bis zu dieser Aktion blieb die Heilige Schrift Insider-Wissen und ihr Inhalt den Priestern vorbehalten. Nun jedoch wurde die Tora nicht nur laut verlesen, sondern auch ausgelegt: Die Heilige Schrift wurde zum Allgemeinwissen der Gemeinde, und die Befähigung zum Lesen und Schreiben wurde zur Pflicht, zumindest für ihre männlichen Mitglieder. Bis dahin hatte keine andere Kultur oder Religion der alten Welt die allgemeine Schriftkundigkeit propagiert. Im Gegenteil: Je mehr sich die ägyptische Priesterkaste in ihrer Macht bedrängt fühlte, desto unzugänglicher machte sie die heiligen Texte – etwa durch die Vermehrung der Schriftzeichen.26 Ganz anders bei der jüdischen Gemeinschaft. Dort lebte von nun an Gottes Wort in jedem einzelnen Körper seines Volkes, nicht nur bei den Gelehrten und Geistlichen. Im Buch Exodus, das in eben dieser Zeit verfasst wurde, heißt es: Die Israeliten „sollen erkennen, daß ich der Herr, ihr Gott bin, der sie aus Ägypten herausgeführt hat, um in ihrer Mitte zu wohnen“.27 Das bedeutet, so Alfred Marx, dass Gott sein Volk nicht aus Ägypten herausgeführt hat, „um seinem heimatlosen und unterdrückten Volk ein eigenes Land zu geben“, sondern „um in seiner Mitte zu wohnen“. Das Novum gegenüber der vorexilischen Zeit bestehe darin, dass Gott nicht im Tempel, sondern „inmitten Israel“ wohnt. „Diese Wohnung wird jetzt zum Ort schlechthin der Begegnung zwischen Gott und seinem Volk.“28

      Für Toragelehrte wie Esra und Nehemia, die selbst der Herrscherschicht angehörten, bedeutete die allgemeine Zugänglichkeit der Heiligen Schrift einen erheblichen Machtverlust. Warum trafen sie dann eine solche Entscheidung? Vermutlich blieb ihnen gar keine andere Wahl: Im Mittelmeerraum hatte sich eine andere Kultur auszubreiten begonnen, und auch sie beruhte auf einem alphabetischen Schriftsystem. Die hellenistische Idee von Kultur erreichte zwar erst mit Alexander dem Großen den Punkt, „wo es möglich wurde, zu sagen, man sei Hellene nicht durch Geburt, sondern durch Bildung, so daß auch ein als Barbar Geborener ein wahrer Hellene werden konnte“.29 Doch schon lange vorher hatte der Hellenismus eine „kosmopolitische“ Dimension und das griechische Denken eine „universalistische“ Form angenommen, deren spezifisch „logische“ Strukturen in das Denken des östlichen Mittelmeerraums einzudringen begann. Der Hellenismus breitete sich nicht in Form von Kolonisierung oder militärischer Unterwerfung aus, wie sie die Griechen zwar immer noch (aber immer weniger) betrieben; vielmehr stellte er eine Form von „geistiger Eroberung“ dar, wie sie sich weder militärisch noch politisch je hätte herbeiführen lassen. Tatsächlich entfaltete der Hellenismus erst dann seine höchste Wirksamkeit, als Griechenland schon längst kein politisches oder militärisches Schwergewicht mehr war. Dadurch ergab sich eine weitere Ähnlichkeit von Hellenismus und Judentum. Nicht durch Zufall ist der Begriff „Diaspora“, der heute zumeist mit dem Judentum verbunden wird, der griechischen Sprache entnommen: Die Magna Graecia stellte ein diasporisches Modell dar, das auf die damalige Welt großen Einfluss ausübte.30 Eben weil es sich beim Hellenismus um eine geistige Eroberung und „universelles Modell“ handelte, gab es eine bemerkenswerte Bereitschaft der „Besiegten“, diese Kultur anzunehmen. Obgleich die Nichthellenen den Hellenen zahlenmäßig weit überlegen waren, kam es zur raschen Verbreitung der griechischen Sprache.31 Sofern der Osten „überhaupt nach literarischem Ausdruck strebte“, so Hans Jonas, musste er sich „in griechischer Sprache