solche Vorstellung ist für die jüdische Religion, in deren Zentrum die unüberwindbare Grenze zwischen Gottes Ewigkeit und menschlicher Sterblichkeit steht, undenkbar. Dieses theologische Konzept findet seine Parallele im Schriftsystem. Beim semitischen Alphabet blieb die geschriebene Sprache auf die gesprochene angewiesen, „um zur Welt zu kommen“.10 Diese Offenheit gegenüber der Oralität schuf einerseits die Voraussetzungen für die Flexibilität der Interpretation, war aber auch nicht irrelevant, als sich das Judentum in den ersten zwei Jahrhunderten für ein matrilineares Prinzip der Zugehörigkeit entschied. Dass die Schriftzeichen ohne eine (als weiblich) definierte Oralität nicht „funktionieren“ konnten, hat es zweifellos erleichtert, dem weiblichen Körper auch eine Bedeutung für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft beizumessen.
Die Septuaginta stellte die Unterscheidung zwischen griechischem und hebräischem Alphabet zunächst in Frage. Es handelt sich um die älteste Übersetzung der hebräisch-aramäischen Bibel in die griechische Alltagssprache; sie entstand ab ca. 250 v. u. Z. im hellenistischen Judentum. Zuerst befassten sich die Übersetzer nur mit der Tora, dann aber auch mit den anderen Büchern, deren Übersetzung bis etwa 100 u. Z. vorlagen. Handschriften, die frühere Versionen der jüdischen Bibel wiedergeben, sind nur in Fragmenten erhalten. War die griechische Bibelübersetzung einem innerjüdischen Bedürfnis entsprungen (viele Juden, vor allem die von Alexandrien, verorteten sich selbst in der Kultur des Hellenismus) und von den Rabbinen zunächst gerühmt worden, so änderte sich das: „Als manche ungenaue Übertragung des hebräischen Textes in der Septuaginta und Übersetzungsfehler die Grundlage für hellenistische Irrlehren abgaben, lehnte man die Septuaginta ab.“11 Nach der Spaltung zwischen Christentum und rabbinischem Judentum im 1. Jahrhundert wurde im Judentum ausschließlich das hebräische Alphabet verwendet.
Die alleinzeugende Macht, die das volle griechische Alphabet der Schrift zuwies – die gesprochene Sprache sollte „nach ihrem Ebenbild“ gestaltet werden – hatte nicht nur Rückwirkungen auf Philosophie und Wissenschaft, später auch auf die theologischen Lehren des Christentums; sie fand auch in den Zeugungstheorien der griechischen Klassik ihren Ausdruck. Laut Aristoteles enthält der männliche Samen alle Komponenten des Lebenskeims in sich, während der mütterliche Körper die „Materie“ (von mater, Mutter) liefert, die durch dieses Prinzip „geformt“ wird.12 Aus diesem Konzept entwickelte sich wiederum die Vorstellung einer männlichen Blutslinie, die vom Prinzip einer geistigen Zeugung bestimmt ist. Von Griechenland ging sie später aufs Christentum über. Während einerseits die Rabbinen das Prinzip jüdischer Matrilinearität auszuformulieren begannen, entwickelte Paulus die Grundlinien einer „christlichen Genealogie“. Zu diesen gehörte auch ein spezifisches Geschlechterverhältnis, das die Frau zur Schöpfung des Mannes erklärte. So lautete seine Begründung für die Forderung nach der Verschleierung der Frau im Gotteshaus: „Zwar darf der Mann seinen Kopf nicht verhüllen, denn er ist Abbild und Abglanz Gottes; die Frau aber [muß es tun, denn sie] ist Abglanz des Mannes. Es stammt ja [ursprünglich] nicht der Mann aus der Frau, sondern die Frau aus dem Manne.“13 Dass Paulus die biologische Realität derartig umkehren konnte, wird nur verständlich, wenn man an die Stelle von „Mann“ und „Frau“ die Begriffe „Schrift“ und „Mündlichkeit“ setzt: Im vollen, griechischen Alphabet ist die gesprochene Sprache nicht die Mutter der Schrift, sondern ihr „Abglanz“. Die Schrift ist es, die die Sprache gestaltet, und diese Umkehrung wird an den Geschlechterrollen exemplifiziert. Kurz, die männlich-zeugende Macht, die dem geschriebenen Wort beigemessen wurde, war einer der Gründe dafür, dass in Griechenland und Rom das patrilineare Prinzip dominierte und dann auch vom Christentum übernommen wurde, das seine Schriftkultur vom Hellenismus und der lateinischen Sprache ableitete.
Die Bedeutung des Sprechens, das von der Leiblichkeit nicht zu trennen ist, bewirkte im Judentum, dass die leibliche Fortpflanzung von zentraler Bedeutung war, während für das Christentum die geistige (väterliche) Genealogie in den Vordergrund rückte und die leibliche ihr nachgeordnet wurde. Die Kirche interessierte sich wenig für die biologische Fortpflanzung – oder nur insofern, als diese dem Geist Realitätsmacht verlieh. Sie galt bestenfalls als „Investition“ des Geistes.14 Auf beiden Seiten übten die Geistlichen, Rabbinen wie christliche Priester, eine strenge Kontrolle über Sexualität und Genealogie aus. Doch das geschah mit unterschiedlicher Zielsetzung. Die Rabbinen wollten auf diese Weise den Erhalt der Gemeinschaft sichern. Bei den christlichen Priestern ging es eher um die geistige Fortpflanzung: im theologischen und später auch im akademischen Sinn von Vätern, die geistige Söhne zeugen.15 Natürlich ist diese Darstellung „jüdischer“ und „christlicher“ Genealogien schematisch gedacht; die historische Realität war vielschichtiger. Entscheidend ist jedoch, dass diese Modelle eng mit den Schriftsystemen zusammenhingen und diese eine erhebliche Wirkmacht entfalteten.
Das Konsonantenalphabet war aber nur ein – und nicht einmal der entscheidende – Faktor bei der Entstehung jüdischer Matrilinearität. Wäre dies der Fall, hätte sich für den Islam eine ähnliche Entwicklung zur mütterlichen Abstammungslinie vollziehen müssen. Denn das arabische Alphabet schreibt ebenfalls nur die Konsonanten. Auch in der muslimischen Kultur spielt die Oralität eine wichtige Rolle und das hat auch einen gewissen Einfluss auf die Geschlechterordnung,16 führt aber nicht zu einer weiblichen Erblinie. Die jüdische Matrilinearität hing vor allem mit den Bedingungen der Diaspora zusammen.
Das Prinzip Patrilinearität
Patrilinearität ist nicht gleich Patriarchat, ebenso wenig wie Matrilinearität mit Matriarchat verwechselt werden darf. Im einen Fall geht es um die genealogische Folge und die Einordnung der Kinder in eine Genealogie mit einer väterlichen oder mütterlichen Erblinie, im anderen um die soziale oder politische Vorherrschaft des einen Geschlechts. In matrilinearen Gesellschaften, die ihre Verwandtschaftsverhältnisse nach dem Gesetz der „Mutterlinie“, „Mutterfolge“ oder „uterinen Deszendenz“ definieren, orientiert sich die Abstammung – mithin auch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft – an einer weiblichen Genealogie. Das Judentum, von dem die Hebräische Bibel erzählt, war patrilinear. Genau genommen handelte es sich bei der von den Rabbinen entwickelten jüdischen Matrilinearität auch um eine Mischform: Zwar wird die Zugehörigkeit zum Judentum seit der Diaspora in weiblicher Erbfolge bestimmt, doch die Familienzugehörigkeit orientiert sich an der väterlichen Seite. So etwa die Zugehörigkeit zum Stamm der „Kohanim“, der in der Nachfolge von Aaron, dem Bruder von Moses, steht. Ähnliches gilt für die Zugehörigkeit zu den „Leviten“, benannt nach dem Stammvater Levi, aus denen sich traditionell die Gelehrten der Gemeinde rekrutierten. Auch die Zugehörigkeit zum sephardischen oder aschkenasischen Judentum orientiert sich am Vater.
Im Fall der Patrilinearität werden Eigentum, soziale Eigenschaften (Ämter) und Familiennamen in väterlicher Linie vererbt. Diese definiert sich zwar als „Blutsverwandtschaft“, faktisch ist dies aber kaum möglich, denn der sichere Vaterschaftsnachweis ist erst seit den 1980er Jahren möglich, dank der Erkenntnisse der Genetik. Die Unsicherheit der Vaterschaft ist einerseits der Grund für die strenge Monogamie patrilinearer Blutslinien; sie impliziert die Forderung nach einer strikten Bewachung der Frau. Andererseits tendieren patrilineare Gesellschaften zu einer „Vergeistigung der Manneskraft“ oder zu Zeugungstheorien, wie sie von Aristoteles formuliert wurden. Im Rahmen der Patrilinearität entstehen so auch „genealogische Fiktionen“, die etwa einem Herrscher (Alexander dem Großen) eine göttliche Herkunft bezeugen oder ein Herrscherhaus (die christlich-europäischen Dynastien) von „sakralem Blut“ ableiten.17 Das Phänomen bewirkt auch sogenannte genealogische Amnesien im Interesse einer Legitimierung gegenwärtiger Machtstrukturen. Die „genealogische Fiktion“ erlaubt es, Idealmodelle zu entwerfen, die wiederum auf die realen Verwandtschaftsstrukturen zurückwirken. Das gilt etwa für die christliche Gesellschaft, der das Konzept einer „geistigen Zeugung“ Christi als Rechtfertigung für kirchliche Genealogien diente.18 Die „genealogische Fiktion“ kann sehr viel leichter in patrilinearen Kulturen entstehen: Da diese den Beweis der Vaterschaft nicht erbringen können, entstehen Freiräume für Imaginationen.
Allgemein lässt sich sagen, dass die Patrilinearität Ausdruck einer Dominanz der Kultur über die Natur darstellt. Diese war prä-alphabetisch, wurde aber durch die der phonetischen Schrift inhärente Abstraktion verstärkt. Sigmund Freud hat den Zusammenhang zwischen kultureller