zu Schriftkundigen werden, daher die Verlesung der Tora vor den Toren der Stadt. Erst durch diesen Akt schufen sie die Grundlagen für die Tradition der „mündlichen Tora“ – und tatsächlich sollte sich bald zeigen, dass diese für das Überleben des Judentums von essentieller Bedeutung war. Das offenbarten schon die Konflikte unter der Herrschaft der Seleukiden. Hatten die Perser den Juden große Freiheit in der Ausübung ihrer Religion gelassen, so schränkten diese die jüdischen Gesetze ein und gaben z. B. den Handel am Schabbat frei. Als Antiochus Epiphanes (215–164 v. u. Z.), der in Rom eine griechische Erziehung genossen hatte, ein Edikt erließ, das es Juden untersagte, an ihrer Religion festzuhalten (die Beschneidung wurde verboten, die Tora sollte verbrannt werden), und sie zum Beweis ihres Gehorsams heidnische Opferhandlungen vollziehen ließ, kam es zum Aufstand der Hasmonäer, die einen eigenen jüdischen Staat gründeten. Die geflohenen Aufständischen gehörten zum großen Teil der Unterschicht von Jerusalem und der verarmten Landbevölkerung an. Angeführt wurden sie von einer niederen Priesterfamilie, den Makkabäern. Gehörte diese Schicht also einst den „Ungebildeten“ an, so bildete sie nun das Rückgrat einer Bewahrung des Judentums.
Von dieser Zeit an wurde der „Befreiungskampf der Juden gegen die hellenistische Umklammerung“44 auch zu einem innerjüdischen Konflikt zwischen den hellenisierten Juden und den Juden, die sich an die Tradition hielten. Das zeigte sich erneut im letzten vorchristlichen Jahrhundert: Als hellenistisch gesinnte Aristokraten in Jerusalem eine Stadt nach dem Vorbild der Polis schaffen wollten – mit Gymnasium und Ephebeion, d. h. Elite-Institutionen –, wurden sie von den anderen Juden bekämpft, die nicht nur ihrem Glauben treu bleiben wollten, sondern auch das allgemeine Recht auf Bildung einforderten.45 Es kam also zum Aufstand gegen die „Schriftgelehrten“, aber die Befähigung zu diesem Aufstand war letztlich den babylonischen Schriftgelehrten selbst zu verdanken, die schon im 5. Jahrhundert die allgemeine Zugänglichkeit der Tora durchgesetzt hatten.
Das Konzept der matrilinearen Definition von Jüdisch-Sein wurde allerdings erst nach der zweiten Zerstörung des Tempels im Jahr 70, als das gesamte jüdische Volk den Konditionen der Diaspora unterworfen wurde, von den Rabbinen aufgegriffen. Die Tatsache, dass man sich in dieser Situation eines Entwurfs erinnerte, der im babylonischen Exil entwickelt worden war, macht besonders deutlich, dass es bei der matrilinearen Blutslinie um die Diasporafähigkeit des Judentums ging. Die Rabbinen mussten nach Mitteln suchen, den Zusammenhalt einer verstreuten Gemeinschaft zu sichern, und Ende des 2. Jahrhunderts u. Z. legten die Verfasser der Mischna endgültig fest, dass Jude ist, wer eine Jüdin zur Mutter hat. Ihren Ursprung hatte diese Entwicklung in einer Zeit, als sich Juden im babylonischen Exil gegen die Anpassung an die fremde Kultur und den hellenistischen Einfluss zu schützen suchten. Als das matrilineare Konzept der babylonischen Gelehrten in den ersten Jahrhunderten zum zweiten Mal ausformuliert wurde, hieß der Gegensatz freilich nicht mehr Hellenismus, sondern Rom und vor allem Christentum.
Der Wechsel zur Matrilinearität im rabbinischen Judentum
Der Übergang von einer matrilinearen zu einer patrilinearen Gesellschaft fand in der Geschichte mehr als einmal statt. In vielen Fällen wurde er als Prozess der Vergeistigung beschrieben, so wie auch Sigmund Freud darin einen „Kulturfortschritt“ sah. Seine Einschätzung ist umso erstaunlicher, als das Judentum, zu dem Freud sich bekannte, zu den wenigen Beispielen gehört, bei denen eine Gesellschaft von Patrilinearität zu Matrilinearität wechselte. Mit der Frage des jüdischen Übergangs zur Mutterlinie hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Forschern beschäftigt.46 Einige von ihnen stellen sich heute die Frage, ob, angesichts des erheblichen demographischen Rückgangs jüdischer Bevölkerungsanteile in den Ländern der Diaspora, nicht die Zeit gekommen sei, das strenge Regelwerk der matrilinearen Blutslinie aufzugeben und durch ein patrilineares Prinzip zu ergänzen – also auch die Kinder jüdischer Väter als Juden anzuerkennen. In einigen Gemeinden, etwa des amerikanischen oder britischen Reformjudentums wie auch im liberalen deutschen Judentum, hat sich dieses Prinzip schon durchgesetzt. Die Reformer machen freilich zur Bedingung, dass religiöse Bildung, Erziehung und Verständnis für das Judentum diese Möglichkeit ergänzen.
Die Erzählung über das biblische Judentum orientiert sich an der Patrilinearität und Patrilokalität: Die Söhne von Moses werden beschnitten, obwohl ihre Mutter Midianiterin ist. Der Tötungsbefehl des Pharao bezieht sich ausschließlich auf die männlichen Kinder (Ex 1,22). Historisch gab es in dieser Zeit für Frauen keine Konversion; entscheidend war der Familienstand. „Die ‚Konversion‘ einer fremden Frau zum Judentum bestand eben einfach darin, einen jüdischen Mann zu heiraten.“47 Auch die jüdische Frau, die in ein anderes Volk heiratete, wurde Teil der Kultur ihres Mannes. In einer Zeit, in der mehr oder weniger alle Gesellschaften dieses Kulturraums nach dem patrilinearen Prinzip organisiert waren, ergaben sich dadurch überschaubare Verhältnisse. Die Probleme traten erst mit der christlichen Religion auf, die die Taufe für Männer wie für Frauen zum „Entréebillett“ in die Gemeinschaft machte – unabhängig von der Religionszugehörigkeit des Vaters oder des Ehemannes. Diese Neuerung implizierte für Frauen eine erhöhte Entscheidungsmacht, die dem frühen Christentum auch viel Zulauf von Frauen brachte (alleinstehenden wie verheirateten),48 bis auch hier ein Regelwerk geschaffen wurde, das die Frauen entmündigte. Genau genommen schuf erst das christliche Versprechen der freien Entscheidung jenes Entweder-oder-Prinzip, das Jan Assmann als „mosaische Unterscheidung“ und als das Ende der religiösen Toleranz der Antike bezeichnete.49 Zwar ist es richtig, dass die jüdische Religion die Götter der anderen Religionen nicht duldete, aber wie das Beispiel der „weiblichen Konversion“ zeigt, war es faktisch einfach, von einer anderen Religion, genauer: von einer anderen Gemeinschaft in die jüdische zu wechseln – und umgekehrt. Zwar galt diese Flexibilität nur für die Frauen, doch musste dies notwendigerweise Auswirkungen auf die Wahrnehmung religiöser Exklusivität haben. Vor allem aber: Religion wurde in dieser Zeit nicht als eine eigene Sphäre betrachtet, sondern war Teil eines Konglomerats von Sitten, Gesetzen, Wirtschaftsformen, die eine politische Gemeinschaft konstituierten (siehe hierzu auch den Beitrag von Daniel Boyarin, S. 59). Der Bezug war also weniger transzendental als der heutige Begriff von „Religion“ unterstellt. Erst mit dem Christentum, das den Glauben in den Mittelpunkt stellte, nahm der Monotheismus wirklichen Ausschlusscharakter an.
Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels, der Zerschlagung der jüdischen Gemeinde im alten Judäa und dem seit Hadrian sogenannten Palästina sowie dem Übergang zu einer Existenz in der Diaspora, vollzog sich im Judentum der Übergang von Patrilinearität zu Matrilinearität, den schon die babylonischen Gelehrten angestrebt hatten. Zu dieser Zeit, so Dohmen und Stemberger, entwickelten die Gelehrten auch einen neuen Umgang mit der Heiligen Schrift. „Die Schriftauslegung vor 70 u. Z. war von einer gewissen Freiheit im Umgang mit dem Bibeltext geprägt, der noch in gewissem Maß fluktuierte und auch für die Auslegung vorbereitet werden konnte.“50 Man weiß nicht, so die Autoren, warum es damals so plötzlich zu einer Vereinheitlichung des Textes gekommen sei, aber sie vermuten, dass dies mit der Katastrophe im Jahr 70 „irgendwie zusammenhing“, allerdings nicht unbedingt auf einen autoritativen Beschluss der frühen Rabbinen in Jabne zurückzuführen sei.51 Jedenfalls kam das Prinzip der Matrilinearität in der Midrasch-Literatur der zweiten Tempelperiode praktisch nicht vor, was dafür spricht, „dass dieses Schrifttum mit dem matrilinearen Prinzip eben nicht vertraut war“.52
Der Wandel von Patrilinearität zu Matrilinearität vollzog sich nicht von einem Tag auf den anderen. Philon von Alexandrien (20 v. u. Z.–50 u. Z.), der als Jude im hellenisch beeinflussten Ägypten lebte, formulierte in seinen philosophisch-pädagogischen Schriften ein Modell, das dem des Perikles für Athen nicht unähnlich war: Nur die Ehen sollten gültig sein, in denen beide Partner jüdisch sind.53 Die Rabbinen entschieden sich schließlich für ein anderes Modell. Dabei versuchten sie, sich soweit wie möglich auf die biblischen Quellen zu beziehen, darunter Deuteronomium 7,3–4, wo von einer der gemischten Ehe innewohnenden Gefahr der Götzenverehrung die Rede ist. Ein explizites Verbot der Mischehe gab es nicht; schließlich war Moses selbst mit einer Fremden verheiratet: Zippora, Tochter des midianitischen Priesters Jetro (Ex 2,21). Die Aussagen von Deuteronomium zu den Gefahren der Mischehe sind jedoch so formuliert, dass vom nichtjüdischen Schwiegersohn eine „Gefahr“ für die