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Handbuch Jüdische Studien


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Schüler-Springorum, S. 363) erzwingen heute, den Blick auf die Unterschiede zwischen „jüdisch“ und „christlich“ zu richten. Doch für die ersten Jahrhunderte waren diese nicht evident. Christentum und rabbinisches Judentum entstanden fast zeitgleich, sie entwickelten sich nebeneinander – oft in Abgrenzung gegeneinander, manchmal aber auch unter Übernahme von Gedankengut aus der anderen Religion. Je mehr die christliche Religion Zulauf hatte, je mehr sie sich mit Staat und weltlicher Macht verband, je mehr sie also über ein eigenes Territorium verfügte, desto schärfer wurde die Ablehnung des Judentums formuliert. Das Christentum tat sich schwer mit der Tatsache, dass sich sowohl die Heilige Schrift als auch die jüdisch-rabbinischen Lehren auf eine explizit jüdische Religion bezogen. Die Kirche berief sich zwar auf denselben heiligen Text, musste diesen jedoch im Sinne der eigenen Religion umdeuten, um den „alten Bund“ zwischen Gott und Israel zum Vorläufer des „neuen Bundes“ erklären zu können. Ein Beispiel für eine solche Umdeutung: Das in Exodus formulierte Konzept, dass Gott „inmitten Israel wohnt“ wurde von Paulus fast wörtlich aufgegriffen und auf die christliche Gemeinde übertragen: „Wißt ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wer den Tempel Gottes vernichtet, den wird Gott vernichten; denn der Tempel Gottes ist heilig, und der seid ihr.“83 Ähnlich auch in der Johannes-Offenbarung. Im Abschnitt „Das himmlische Jerusalem“ wird ebenfalls das Exodus-Bild christlich umformuliert. „Siehe, das Zelt Gottes unter den Menschen. Und er wird bei ihnen sein Zelt aufschlagen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein.“84 Trotz – oder vielleicht wegen – solcher Aneignungen gab es eine tiefe Verunsicherung im Christentum: Die Tatsache, dass der Großteil der antijuadistischen Texte formuliert wurde, nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war, zeigt deutlich, dass nicht einmal die Tatsache, majoritär zu sein, der christlichen Religion die Sicherheit der eigenen Überlegenheit verschaffte. Auch die zentrale Heilsbotschaft des Christentums, die Vergöttlichung Jesu, wurde erst im 3. Jahrhundert ausformuliert. Das Judentum dagegen musste sich neu ausrichten.

      Das Judentum in seiner heutigen Gestalt ist eine vergleichsweise junge Religion, die ihre definitive Gestalt im frühen 3. Jh. in Abgrenzung und gegen verschiedene Gruppen von Jesusanhängern und Gnostikern, in Auseinandersetzung und Übereinstimmung mit dem römischen Imperium und: nicht zuletzt unter dem Einfluss der griechischen Philosophie gewonnen hat; ein in die Sprache des biblischen Glaubens gekleidetes System von ethisch gebundenen Lebensregeln, das sich in seinem menschheitlichen Universalismus von der stoischen Philosophie kaum unterscheidet, aber aufgrund bitterer historischer Erfahrungen einem politischen Quietismus anhängt und gleichwohl – anders als das Christentum nach Augustus – nicht bereit war, die moralische Verantwortlichkeit des einzelnen Menschen preiszugeben.85

      Kurz, beide Religionen entwickelten ihre Lehrgebäude in Abhängigkeit von und in Ablehnung gegeneinander. Bei der jüdischen Abgrenzung gegen das Christentum hatten Zugehörigkeitsmerkmale wie Beschneidung und Matrilinearität eine wichtige Funktion.

      Die ersten Christen kamen einerseits aus den Traditionen des Judentums, traten andererseits aber auch die Erbschaft von Griechenland und Rom an. Letztere, die heidnischen Christen, brachten die Ablehnung der Beschneidung mit. Anders als die Judenchristen drängten sie auf eine Hellenisierung des Judentums. Paulus kam ihnen entgegen: Er wollte die Beschneidung durch die Askese ersetzen. „So sind wir also, Brüder, dem Fleisch nicht schuldig, daß wir fleischlich leben. Denn wenn ihr fleischlich lebt, werdet ihr sterben. Wenn ihr aber mit dem Geist die Werke des Fleisches tötet, werdet ihr leben.“86 Da die Beschneidung Zeichen des Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel war, ließ die paulinische Aufkündigung der Beschneidung erkennen, dass man hier um einen neuen Gottesglauben, wenn nicht gar um einen neuen Gott rang. Gewiss, den Christen heidnischer Herkunft erleichterte der Verzicht auf die Beschneidung den Anschluss an die Gemeinde.87 Doch Paulus, der auch den Judenchristen entgegenkommen wollte, erklärte, dass Christus einen „neue(n) Bund in meinem Blute“ geschlossen hat.88 Wir Christen, so schreibt er, „sind die Beschneidung“.89 Mit dieser neuen Auslegung der Beschneidung wird die Beschneidung durch das Selbstopfer Christi ersetzt; dieses sollte fortan alle anderen Formen des Opfers ersetzen.90 Mit anderen Worten: Nicht nur implizierte der christliche Verzicht auf die Beschneidung eine völlig neue Gottesvorstellung, sondern es wurde hier auch ein Gott angerufen, der sich selbst, in Gestalt seines Sohnes, für das Opfer einbringt, das in der jüdischen Religion vom Menschen erbracht werden muss. Im Christentum kann der Gläubige allenfalls dadurch seinen Anteil am Opfer erbringen, dass er sich ganz dem Herrn verschreibt. „Die Gabe des Gläubigen ist zuerst die Gabe seiner selbst durch den Glauben, die Geste absoluten Vertrauens.“91

      Die Beschneidung wurde zu einem wichtigen Referenzpunkt der Spaltung zwischen den zwei Religionen: Beide bezogen sich auf den „Bund mit Gott“, doch auf sehr unterschiedliche Weise, was sie in einen unauflöslichen Auslegungskonflikt brachte. Das römische Gesetz verstärkte die Spaltung. „Indem es die Beschneidung für unzulässig erklärte, hat das römische Recht machtvoll dazu beigetragen, den Prozess der Loslösung der Anhänger des Jesus von Nazareth aus ihrem ursprünglich jüdischen Milieu, der schon in der Mitte des ersten Jahrhunderts begonnen hatte, zum Abschluß zu bringen.“92 Mit der Ablehnung der Beschneidung übernahm das Christentum auch diese Erbschaft – neben Schriftsystem und Patrilinearität – von Hellenismus und Rom. Sie erweiterte die christlich-jüdische Spaltung um eine politische Dimension. Die Konflikte zwischen Rom und dem jüdischen Volk hatten vor allem darauf beruht, dass die religiösen Bestimmungen des Judentums zugleich einen Rechtskodex darstellten, mithin die Basis einer politischen Gemeinschaft bildeten. An sich gewährte das Römische Reich Religionsfreiheit; unter seinem Dach fanden sich auch viele unterschiedliche religiöse Strömungen wieder. Doch im Fall des Judentums implizierte religiöse Autonomie auch politische Selbstbestimmung, und die war schwer vereinbar mit den Ansprüchen römischer Herrschaft. Matrilinearität und Beschneidung verstärkten diese Differenz.

      In den ersten Jahrhunderten nach der Entstehung des Christentums konkurrierten Judentum und Christentum um die religiöse Definitionsmacht. Dabei wurden auch viele Lehren in Anlehnung an die andere Religionsgemeinschaft entwickelt. Während dies für die christliche Seite schon länger anerkannt wurde, zeigt erst die neuere Forschung, wie sehr auch die Neudefinition des Judentums unter dem Einfluss des frühen Christentums stand. Beginnend in Jabne, dem ersten Ort rabbinischer Gelehrsamkeit, zogen jüdische Gelehrte klare Grenzlinien gegen das aufkommende Christentum. Einige unter ihnen – darunter hochrangige – sympathisierten aber auch mit den Jesusanhängern. Die traditionelle Metapher einer Mutter-Tochter-Religion zur Beschreibung von Judentum und Christentum sei vollkommen unsinnig, schreibt David Biale. Es handle sich eher um Zwillinge. „Man könnte die Metapher sogar erweitern und von identischen Zwillingen sprechen: ein Embryo, das sich später geteilt hat.“93 Andere bestreiten sogar die Spaltung und sprechen von „the ways that never parted“.94 Dagegen sieht Micha Brumlik im Christentum „ein älteres Geschwister“ des Judentums, eine „Ausformung des biblischen Glaubens, die das rabbinische Judentum in seiner heutigen Form provozierte“.95 Das rabbinische Judentum sei jünger als das paulinische Christentum und stelle zugleich eine Protestaktion dagegen dar.96 Biale nennt die Mischna und andere Texte des rabbinischen Judentums ein „Zweites Testament“,97 weist zugleich aber auch darauf hin, dass die Polarisierung zwischen Christentum und Judentum zu einer „Rejudaisierung“ Palästinas führte.98 In dieser Lesart werden das Neue Testament und der Talmud zu zwei miteinander konkurrierenden „Kommentaren“. In den Worten von Heinz-Günther Schöttler: „Beide – Juden und Christen – hören die gleiche ‚Ur-Kunde‘ des Einen Gottes: die als Tanach rezipierte Bibel Israels, verbunden mit Mischna und Talmud als Kommentar, bzw. die als Altes Testament rezipierte Bibel Israels, verbunden mit dem Neuen Testament als Kommentar.“99

      Ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Arten der Exegese ergab sich durch die Art der Verschriftung. Sowohl die Evangelien als auch die rabbinischen Texte haben zunächst orale Form. Doch während im Christentum, nach dogmatischen Kämpfen, die Befürworter einer geschriebenen Fassung den Sieg davontrugen, entwickelte das rabbinische Judentum eine Form von Verschriftung, in der die Eigenschaften der Oralität erhalten