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Handbuch Jüdische Studien


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147). Erst ab dem 4. Jahrhundert, als sich diese unterschiedlichen Formen der Verschriftung und Exegese etabliert hatten, kann von zwei getrennten Religionen die Rede sein. Damals war „einerseits das Christentum die hegemoniale Macht des römischen Imperiums geworden und die christliche ‚Orthodoxie‘ entstanden“; andererseits hatte sich das rabbinische Judentum gefestigt und trat nun „mit seiner eigenen Orthodoxie und Hegemonie“ hervor100 (siehe hierzu auch den Beitrag von Joachim Valentin, S. 125).

      Auch andere Judaisten und Historiker betonen, es sei nicht mehr möglich, „das Judentum ohne Christentum zu denken“.101 Israel Yuval schreibt: „Wo immer Ähnlichkeiten zwischen Judentum und Christentum zu beobachten sind, dürfte es sich um christlichen Einfluss auf das Judentum handeln und nicht umgekehrt, es sei denn, die jüdischen Wurzeln des betreffenden Phänomens liegen nachweislich früher als die christlichen.“102 Michael Hilton, ein an der Universität Manchester lehrender Rabbiner, zögert nicht, das rabbinische Judentum sogar als „Tochterreligion des Christentums“ zu definieren.103 (Offenbar fällt es schwer, das Verhältnis der beiden Religionen anders als in Verwandtschaftsmetaphern zu denken!) Auch Peter Schäfer weist auf viele Parallelen zwischen christlichen und jüdischen Messias-Vorstellungen hin.104 Wie kommt es dann, fragt Olmer, „dass die Unterschiede zwischen aschkenasischem und nordafrikanischem oder babylonischem Judentum so relativ gering sind“?105 Yuvals Antwort: Der christliche Einfluss auf das Judentum begann eben nicht erst im Mittelalter, als die Kirche fest etabliert war. Vielmehr trat bereits das judäische wie auch das babylonische Judentum die Erbschaft einer kulturellen Tradition an. In beiden Fällen kam es zu einer Ablehnung der christlichen Antwort auf die Krise, die die Tempelzerstörung ausgelöst hatte.

      Am Anfang ging es den rabbinischen Gelehrten vor allem um die Abgrenzung gegen die jüdischen Anhänger des Christentums:

      Die rabbinische Politik gegen das Christentum war in erster Linie gegen die Judenchristen gerichtet. Mit Erfolg grenzten sie sie aus und hielten sie von der jüdischen Gemeinde (Kehilat Israel) fern. Die Geschichte der Trennung ist im Wesentlichen die Geschichte des Triumphs der Rabbinen und das Versagen der Judenchristen, eine Mehrheit der palästinensischen Juden von den Zielen der Evangelien zu überzeugen.106

      Das von den Rabbinen geschaffene Regelwerk verbot es, mit Judenchristen zu essen, Handel zu treiben, Geschäfte zu tätigen. Sie durften auch nicht ihre Bücher lesen, die als Ketzerei eingestuft wurden. Es war ihnen sogar verboten, sich von „Minim“ (innerjüdischen Ketzern) behandeln zu lassen – wegen der Gefahr, dass eine Heilung als christliches Wunder bezeichnet werden könnte (siehe hierzu auch den Beitrag von Charlotte Fonrobert, S. 173).107 Zur Abgrenzungsstrategie gehörte auch das Prinzip der Matrilinearität, das eindeutig etablierte, wer der jüdischen Gemeinde angehörte und wer nicht. Zwar gab es weiterhin Konversionen, aber sie hatten weniger Gewicht als die mütterliche Deszendenz. Zudem wurde festgelegt, „dass der jüdische Status praktisch unauflösbar war“.108 Dies galt auch für Konvertiten, die mit dem Übertritt eine neue Existenz annahmen. Durch das vollständige Eintauchen in „reines Wasser“ (Lev 11,36) wird ein Schlussstrich unter das vergangene Leben gesetzt und die Person als Jude oder Jüdin in ein neues Leben überführt: „Ein Proselyt ist wie ein neugeborenes Kind (bYev 22a).“109 Aus diesem innerjüdischen Konflikt zwischen traditionellen Juden und den Jesus-Anhängern wurde später, als Heidenchristen die ursprünglich innerjüdische Polemik übernahmen, die Basis des Antijudaismus und „eines nun christlich geprägten Antagonismus, der bis in die Gegenwart reicht, gegen ‚die Juden‘“.110

      Wegen der Abgrenzung gegen die Judenchristen sahen sich die rabbinischen Gelehrten gezwungen, die Frage zu klären: Wer ist Jude? Wie ist der halachische Status der Anhänger dieser Religion.111 Das stärkt „die Vermutung, dass eine wesentliche Ursache der Einführung der Matrilinearität im 2. Jh. u. Z. die Auseinandersetzung mit dem Christentum war“.112 Der christlichen Gemeinschaft war viel daran gelegen, sich selbst als die legitime Erbin der Heiligen Schrift auszugeben, und der Anspruch der Kirche auf das Auslegungsmonopol verband sich mit dem Ziel, die legitime Erbin des Bundes zu sein. Als im Jahr 554 – das war zu einer Zeit, in der die Kirche schon Staatskirche war – der Codex Justinianus veröffentlicht wurde, erhob dieser den Vorwurf, dass die Juden die Bibel nicht nur anders, sondern falsch lesen. „Die Juden interpretieren verrückt“, stand dort zu lesen.113 Fortan wurde den Juden unter Androhung der Todesstrafe untersagt, Widerspruch gegen die Doktrin der Auferstehung, des Jüngsten Gerichts und der Erschaffung der Engel zu erheben. Das kaiserliche Dekret diente dazu, Juden als „Söhne des Teufels“ zu brandmarken,

      […] weil ihre Genealogie eine von der Wahrheit des Textes her als solche erkennbare falsche Genealogie, das heißt, ein Betrug ist. Die Juden sind falsch, juristisch falsch, wie gefälschte Schriftstücke; sie sind die falschen Nachkommen Abrahams, sie haben den Text falsch verstanden, die Formel Abrahams ‚et semen eius‘ falsch interpretiert.114

      In dieses Schema der „legitimen Erbschaft“ gehörte auch die Frage der Blutslinie. Um Anspruch auf die jüdische Erbschaft zu erheben, legten die Christen mehrere Erzählungen der Hebräischen Bibel als Prophetien aus, in denen die Ankunft des Messias in der Gestalt von Jesus Christus angekündigt wurde.

      Durch ein paar abenteuerliche Deszendenzkonstruktionen wurde Jesus Christus zum legitimen Erben des davidischen Throns, also des Königs der Juden, erklärt. Allerdings gab es ein entscheidendes Problem: Der Thron Davids wurde in männlicher Linie vererbt – und das matrilineare Prinzip, das die Rabbinen aus den Tora-Bestimmungen abgeleitet und als göttliches Gesetz legitimiert hatten, widersprach dem. Wie konnte sich das Christentum unter diesen Umständen der Rechtsnachfolge sicher sein? Indem es eine männliche und eine weibliche Deszendenlinie für Jesus Christus entwickelte. Die männliche Abstammung entsprach den Stammeslinien der Bibel und wurde darüber hinaus durch die göttliche Herkunft Christi, in eine Art von „geistiger Vaterschaft“ überführt, die ab dem 3. Jahrhundert auch für seine göttliche Herkunft stand. Für die weibliche Linie war dagegen die Jungfrau Maria die richtige Lösung: Erstens war sie ein „Sprössling“ aus dem Hause Davids, und da zweitens kein leiblicher Vater ins Spiel kam, handelte es sich eindeutig um eine weibliche Deszendenz, zumindest was die „menschliche Natur“ Christi betraf.115 Ob die Rabbinen die Absicht hatten, den Christen durch die Matrilinearität die Erbschaft ihrer Heiligen Schrift streitig zu machen oder nicht: Rückblickend kann man sich zumindest fragen, ob es ohne die Einführung der Matrilinearität auf jüdischer Seite überhaupt zu den christlichen Lehren der Jungfrauengeburt und dem Dogma der unbefleckten Empfängnis gekommen wäre.

      Viele Differenzen zwischen rabbinischem Judentum und frühem Christentum betrafen Fragen der Sexualität und Fortpflanzung. „Die neue Denkweise, die im 2. Jahrhundert in christlichen Kreisen aufkam“, so Peter Brown, „verschob den Schwerpunkt des Denkens über die Natur menschlicher Schwachheit vom Tod auf die Sexualität. Denn die Sexualität wurde nicht mehr als freundliches Mittel gegen den Tod dargestellt.“ Vielmehr wurde sie „privilegiertes Symptom dafür, daß die Menschheit in Knechtschaft verfallen war“.116 Das christliche Ideal der Askese und die hohe Bewertung der Jungfräulichkeit117 waren der jüdischen Religion fremd: Am Schabbat hat der jüdische Mann „die Pflicht“ mit seiner Frau Geschlechtsverkehr zu haben; die sexuelle Vernachlässigung wurde von den Rabbinen als Grund akzeptiert, wenn eine Frau sich von ihrem Mann trennen wollte. Auch war ein Rabbi, im Gegensatz zu den christlichen Geistlichen, immer ein verheirateter Mann. Der ganzen antiken Welt war der christliche „Boykott des Schoßes“118 fremd. Die Sexualität galt Griechen wie Römern und Juden als Tribut, den Männer und Frauen für den Erhalt der Gemeinschaft zu erbringen hatten.

      Das christliche Askese-Ideal übte allerdings eine hohe Anziehungskraft auf Frauen aus, weil es zugleich Geschlechtergerechtigkeit und Zugang zu einem geistigen Leben versprach. Diese Frauen genossen im frühen Christentum ein hohes Ansehen. Doch ab dem 4. Jahrhundert – d. h. in der Zeit, in der sich die christliche „Staatskirche“ allmählich herausbildete – verzog sich das Askese-Ideal in die Klöster, und in der Welt „draußen“