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Handbuch Jüdische Studien


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Zeichen der Volkszugehörigkeit. In der Bibel taucht sie zuerst als ein Ritual der Vorbereitung auf die Hochzeit auf (Gen 34,14–24; Ex 4,24–26), und sie bezieht alle Männer des Hauses ein, auch Sklaven, gleichgültig, ob sie dem Judentum angehören oder aus einer anderen Kultur stammen. Während des babylonischen Exils im 6. Jahrhundert v. u. Z. wurde die Beschneidung religiös „kanonisiert“. Dass dies ausgerechnet im Exil geschah, deutet darauf hin, dass sie – wie später die Matrilinearität – unter Juden auch als Erkennungszeichen dienen sollte.

      9.Der durch die Beschneidung symbolisierte Einschnitt in den männlichen Körper wird manchmal auch als Teil eines Opferaktes verstanden, der der Gewährung von Fruchtbarkeit – geistiger wie leiblicher Fruchtbarkeit – vorausgeht. In den Erzählungen der Bibel ist von der Beschneidung zum ersten Mal im Zusammenhang mit der (verhinderten) Opferung Isaaks die Rede (Ex 13,13). In dieser Erzählung ersetzt ein Opfertier den Sohn. Erst auf der Basis einer solchen Opferbereitschaft segnet Gott die Fruchtbarkeit und verspricht Abraham, dass sich sein Samen im Land Kanaan vermehren wird.74

      10.Auch das Christentum eignete sich die Symbolik der Beschneidung an, lenkte den Sinn allerdings auf das Opfer der Passionsgeschichte Christi. Wenn Paulus von der „Beschneidung des Herzens“ sprach (Rom 2,25–29) und damit die Reinheit von Seele und Geist meinte, so griff er damit noch eine Analogie des beschnittenen Glieds mit dem beschnittenen Herz auf, von der schon bei Jeremia (Jer 4,4) die Rede war. Wenn jedoch der Heilige Ambrosius (339–397) in der Beschneidung Jesu den Beginn der Passionsgeschichte sah, so war damit eine Christianisierung des Ritus verbunden. In einem ähnlichen Sinne bezeichnete auch der englische Benediktinermönch Beda (673–735) die Beschneidung als Vorwegnahme der endgültigen Reinigung „von allen Flecken der Sterblichkeit“. Wir freuen uns, so verkündete er, auf „unsere wahre und völlige Beschneidung, wenn am Tag des Jüngsten Gerichts alle Seelen die Verderbnis des Fleisches überwunden haben“.75

      Die Debatten in der Antike um die Beschneidung haben einige Ähnlichkeiten mit den heutigen in Deutschland: Damals wie heute ging es um die Frage der Verletzung des Körpers. Die antike Ablehnung der Beschneidung nahm in dem Maße zu, in dem sich der Hellenismus als Kultur und das Römische Reich als Staat etablierten. Die Griechen wussten – vor allem durch Herodot (5. Jahrhundert v. u. Z.) – vom Ritus der Beschneidung bei „anderen Völkern“. Herodot, der sich kaum eine Chance entgehen ließ, die Überlegenheit der Griechen gegenüber anderen Völkern hervorzuheben, sah darin einen barbarischen Brauch, der allenfalls mit der „Hygiene“ zu erklären sei. Er verwechselte Reinheit (die in der Religion auf das Sakrale verweist) mit Hygiene (Sauberkeit).76 Einige Völker, so etwa die Phönizier, schreibt Herodot, übernahmen den Brauch zunächst von den „Syrern aus Palästina“ (womit er die Juden meinte), gaben ihn aber auf, als sie mit der höheren Kultur der Griechen in Kontakt kamen.

      Als sich mit den makkabäischen Unruhen der Konflikt zwischen Hellenismus und Judentum zuspitzte, gab ein Teil der Juden die Beschneidung auf, manche verbargen sogar das beschnittene Glied mit Hilfe falscher Vorhäute, bis diese Praxis verboten wurde. In den Jahrzehnten vor der Zerstörung des Tempels, zur Zeit des griechischen Geschichtsschreibers Strabo (63 v. u. Z.–23 u. Z.) verschärfte sich die Ablehnung der Beschneidung; sie wurde nun explizit mit der Kastration verglichen – ein Vergleich, der von römischen Schriftstellern wie Tacitus aufgegriffen und in eine allgemeine antijüdische Polemik überführt wurde.77

      Nach der Zerstörung des Tempels mussten die Weisen von Jabne um das Recht auf Beschneidung kämpfen. Es wurde ihnen von Rom schließlich unter der Bedingung eingeräumt, dass ausschließlich die eigenen Söhne – aber weder Sklaven noch Konvertiten – davon betroffen seien. Auch der Priesterschaft in der römischen Provinz Ägypten, die die Beschneidung praktizierte, bereitete Rom Schwierigkeiten. Ab dem 2. Jahrhundert wurde der Ritus unter die Aufsicht der römischen Autorität gestellt, die willkürlich vorging: Ein kaiserlicher Prokurator, der die religiösen Kultgemeinschaften kontrollieren sollte, erteilte die Genehmigung – oder auch nicht. Es kam zu aufwendigen Verfahren, weil es sich um eine „Ausnahme von einer reichsweiten gesetzlichen Bestimmung“ handelte, mit der die zunehmende Praxis der Kastration von Sklaven bekämpft werden sollte. Unter Nerva im Jahr 97 erging ein Senatsbeschluss:

      Er drohte die Konfiszierung der Hälfte des Vermögens einer Person an, die einen Sklaven der Kastration ausliefert. Ebenfalls durch einen Senatsbeschluß, der wohl unter Trajan gefaßt wurde, erhöhte man die Strafe für Kastration auf Deportation und gleichzeitig komplette Konfiszierung des Vermögens. Dies stützte sich auf die lex Cornelia de sicariis et ueneficiis, ein altes Gesetz von Sulla (81 vor unserer Zeitrechnung), das Mord und Vergiftung unter Strafe stellte und bis in die Zeit von Justinian in Kraft blieb.78

      Unter Kaiser Hadrian (76–138) wurde das Verbot nochmals verschärft: Chirurgen, die den Eingriff vornahmen, und Personen, die sich dazu bereit erklärten, drohte die Todesstrafe. In dem hadrianischen Edikt wurde zur Bezeichnung der Kastration der Begriff excidere (ausschneiden, abschneiden) verwendet. Da dieser Begriff auch auf die Beschneidung Anwendung fand, war diese nun auch vom Gesetz betroffen. „Das Recht schrieb so die Verwechslung fest, die bezüglich der ‚genitalen Manipulationen‘ in den Köpfen herrschte und die sich bei den griechischen und römischen Autoren widerspiegelt.“79

      Die Proteste gegen das Gesetz führten schließlich zu Ausnahmeregelungen, die zunächst den ägyptischen Priestern (um 120), später auch den Juden zugestanden wurden. Modrzejewski weist zu Recht darauf hin, dass das Edikt des Hadrian nicht zwingend in Verbindung gebracht werden kann mit dem Kampf gegen die jüdische Selbstbestimmung: Es wurde mehr als eine Dekade vor dem Bar-Kochba Aufstand (132–135) erlassen. Doch das Gesetz trug dazu bei, die Vorurteile gegen die Juden zu schüren, indem es die Verwechslung von Beschneidung und Kastration beförderte. Unterschwellig griff es damit auch schon einen Gedanken auf, der später sowohl im christlichen Antijudaismus als auch im rassistischen Antisemitismus eine wichtige Rolle spielen sollte: der Gedanke, dass die Andersheit der Juden „irgendwie im genitalen Bereich“ zu verorten sei.80 Diese Vorstellung war wiederum geprägt von der Wahrnehmung, dass Begriffe wie Vater und Mutter – und damit einhergehend die Blutslinie – im Judentum eine andere Bedeutung hatten, als dies für Griechenland, Rom und das Christentum der Fall war. Indem die jüdische Gemeinde das Prinzip der Matrilinearität einführte, bestätigte sie, dass ihrer „Andersheit“ auch geschlechtliche Codes zugrunde lagen. Ihr selbst ging es aber um das Überleben der Gemeinschaft: Für Juden ergänzte die Entscheidung zur Matrilinearität das Zeichen der Beschneidung – auf symbolisch-religiöser wie auf historischer Ebene.

      Die Entscheidung zur Matrilinearität war auch aus anderen historischen Gründen überlebenswichtig, und hier zeigte sich deutlich der Zusammenhang zur Beschneidung. Während der Kriege gegen die Römer waren viele jüdische Frauen vergewaltigt worden; ihre Kinder mussten in geordneter Weise ins Judentum überführt werden. Zugleich gab es einen dramatischen Männermangel; viele Witwen und unverheiratete Frauen blieben unversorgt. Dieses Problem hätte zwar vorübergehend durch Polygynie, wie sie auch schon die Einrichtung der levitischen Ehe vorsah, behoben werden können. Aber dagegen sträubten sich die Juden im Römischen Reich. So gab es nur die Möglichkeit, fremde Männer in die Gemeinschaft aufzunehmen. Vorher wurden, wie oben beschrieben, nichtjüdische Frauen zu Jüdinnen, indem sie einen Juden heirateten. Seit dem 2. Jahrhundert v. u. Z. gab es auch ein Reglement, das es Männern erlaubte, bei der Heirat mit einer Jüdin zum Judentum zu konvertieren. Es funktionierte „wie eine Art ‚Einbürgerung‘“.81 Die Konversion setzte aber zwingend die Beschneidung voraus, und durch die Ergänzungen des hadrianischen Edikts, die die Beschneidung für jüdisch geborene Söhne, nicht jedoch für Konvertiten zuließen, stand diese unter schwerer Strafe. In dieser demographischen Situation, die das faktische Verschwinden des Judentums impliziert hätte, blieb den Rabbinen also kaum eine andere Wahl, als die mütterliche Abstammungslinie einzuführen.82 Wäre aber alleine diese historische Situation der Grund für die Einführung der Matrilinearität gewesen, dann hätte sie nach einigen Generationen wieder verworfen werden können. Da dies nicht der Fall war, ist davon auszugehen, dass die Matrilinearität auch weiterhin eine wichtige Funktion für das Überleben der Gemeinde spielte – und der Grund dafür war zweifellos das Aufkommen des Christentums.

      Judentum und Christentum: