sie dekretieren, dass das Prinzip der Matrilinearität schon in Deuteronomium niedergelegt worden sei. Dort heißt es: „Dein Sohn, der von einer Israelitin geboren wurde, wird ‚dein Sohn‘ genannt, aber dein Sohn, der von einer Götzendienerin geboren wurde, wird nicht ‚dein Sohn‘ genannt: es ist ihr Sohn.“ In der Mischna formulierten die Rabbinen: „Dein Sohn ist nicht dein Sohn, wenn seine Mutter nicht Jüdin ist.“54 Damit wurde einerseits das matrilineare Prinzip neu eingeführt, andererseits aber auch in der Heiligen Schrift verankert – und dies mit einem geschickten Schachzug, der sich einer „verwirrenden Syntax“ verdankte. „Diese Auslegung wäre nach dem griechischen Bibeltext nicht möglich gewesen, denn das darin enthaltene Futur apostesei, männlich und weiblich zugleich, kann sich gleichermaßen auf den heidnischen Schwiegersohn wie auf die heidnische Schwiegertochter beziehen“, so Joseph Mélèze Modrzejewskis Kommentar zu dieser Auslegung.55 Eine Zeitlang wurde die Neuordnung noch von Teilen des Judentums bekämpft; Spuren dieser intensiv geführten Debatte finden sich im Talmud. Dann hatte sich die Lehre durchgesetzt und gilt bis heute als Regel des normativen Judentums.
Die neue Richtlinie hatte auch auf den sozialen Status von Kindern aus „Mischehen“ Rückwirkungen. Laut der Mischna war der Nachkomme einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters ein „Mamser“ (Hurenkind).56 Dasselbe galt für alle Kinder, die aus verbotenen Verbindungen stammten – bestimmte Formen von Inzest und außereheliche Verbindungen.57 Das von den Tanna’im (den Weisen der Mischna) aufgestellte Gesetz bedeutete jedoch, dass das Kind einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters ein Jude ist, wie seine Mutter – obgleich die Eltern keine nach jüdischem Recht anerkannte Verbindung (kidduschin) eingegangen waren.58
Das veränderte jüdische Regelwerk wies einige Ähnlichkeiten mit dem römischen Recht auf: Bei Beziehungen zwischen Männern und Frauen von ungleichem Stand folgte der Status des Kindes dem Elternteil mit dem niederen Status.59 Im römischen Recht hieß dies, dass das Kind eines Sklaven oder einer Sklavin ebenfalls dem Sklavenstand angehörte, auch wenn einer der beiden Elternteile frei war. Im Judentum entschied diese Regel weniger über den sozialen Status als über die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft: Das Kind eines Juden mit einer Nichtjüdin folgt dem Status der Mutter.60 Allmählich wurde so die Beziehung vom Vater zum Sohn der Zugehörigkeit zur Mutter untergeordnet.61 Das römische Recht war jedoch nicht der Auslöser für die Veränderung.
Anhand der Zeugnisse der Papyri, der Apostelgeschichte und Flavius Josephus läßt sich belegen, dass bei den Juden im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung noch immer die patrilineare Abstammung geltendes Recht war. Ein Jahrhundert später, in der Mischna, gilt gerade die umgekehrte Regel: Das Prinzip der Patrilinearität ist zurückgetreten zugunsten der matrilinearen Abstammung, die die Halacha für die Zukunft, bis in unsere Tage, bestimmt.62
Es vollzog sich also eine völlige Umkehrung der Rechtsregeln, durch die die jüdisch-religiöse Identität neu definiert wurde. Allerdings galt dies nur für die Abstammung und Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft. Denn das rabbinische Familienrecht, das über Verwandtschaftsbeziehungen und Erbschaft bestimmte, hielt sich weiterhin an die überlieferte Patrilinearität. Der babylonische Talmud ist dazu ganz explizit: „Die Familie des Vaters wird als die Familie des Kindes angesehen, die Familie der Mutter nicht.“63 Auch das Priesteramt der Kohanim wurde weiter in väterlicher Linie vererbt. Eine solche Unterscheidung von Abstammungslinie und Verwandtschaftsverhältnissen blieb in der griechisch-römischen und christlichen Patrilinearität eher die Ausnahme; beim Judentum dagegen wurde es zur Regel und hing eng mit den Bedingungen der Diaspora zusammen.
Für die Motive der Rabbinen, diese Neuerung einzuführen, gibt es mindestens zwei sich ergänzende Erklärungen: erstens die neue Situation der „Staatenlosigkeit“, zweitens die Abgrenzung gegen die neu entstehende Religion des Christentums, das sich einerseits auf die jüdische Tradition bezog, von dieser aber auch in entscheidenden Teilen abwich. Außerdem wird der Einfluss des römischen Rechts geltend gemacht.
Entsprechend dem römischen conubium [durch das bestimmt wurde, welche Personen eine anerkannte Ehe eingehen können, CvB] gibt es im rabbinischen Recht die Bezeichnung Kidduschin. Die wesentliche Übereinstimmung, nämlich dass Kinder nach dem römischen Recht, die aus einer gemischten Ehe (also ohne conubium) hervorgehen, automatisch dem Status der Mutter folgen, entspricht genau dem Prinzip nach mKidd III,12.64
Sowohl im römischen als auch im jüdischen Recht gab es das Prinzip der rechtmäßigen Ehe, und in beiden Regelwerken richtete sich bei „Mischehen“ der Status der Nachkommen nach der Mutter, weil die legale väterliche Abstammung fehlte. Dennoch unterschieden sich die Gesetze: Das römische Recht sah neben dem conubium auch das justum matrimonium, die legal vollzogene Ehe, vor – eine Bestimmung, die das jüdische Recht nicht kannte. Die Ähnlichkeiten der Rechtsbestimmungen dürften dazu beigetragen haben, dass die römische Herrschaft der jüdischen Änderung des Personenstands stattgab, „indem sie zuließ, dass die Zugehörigkeit zum Judentum und damit Volk und Religion sich nach der Mutter richtet“.65 Diese Konzession widersprach zwar dem eigenen Patrilinearitätsprinzip, doch im Römischen Reich gab es auch andere Völker und Städte, denen dieses Privileg zugestanden worden war. In griechischen Städten wie Troja und Delphi z. B. wie auch in Antinoupolis, einer im Jahr 130 von Hadrian in Ägypten gegründeten Stadt, ergänzte die Matrilinearität das Recht, eine rechtswirksame Ehe mit „Ägyptern“ zu schließen.66
Das würde jedoch höchstens erklären, warum der Wandel durchsetzbar war, nicht die Motivation der Rabbinen zu dieser Entscheidung. Unbestreitbar waren gerade im 2. Jahrhundert die historischen Voraussetzungen für eine Orientierung am römischen Recht gegeben – Modrzejewski spricht von einer „zeitlichen Koinzidenz zwischen der Mischna, die um das Jahr 200 unserer Zeitrechnung schriftlich kodifiziert wurde, und dem römischen Recht im Zeitpunkt seiner größten Blüte“.67 Auch war das römische Recht gut vereinbar mit der Neuordnung des jüdischen Rechts. Gleichwohl dürften die Rabbinen andere Gründe für ihre Entscheidung gehabt haben. Ihr Hass auf die Römer, die Jerusalem zerstört und die Gemeinschaft zerschlagen hatten, war gewiss nicht geringer als ihre frühere Gegnerschaft zu den Griechen. Warum sollten sie sich dann ausgerechnet am römischen Recht orientieren?
Mehr Gewicht hat ein anderes Erklärungsmuster, das die Sicherheit der mütterlichen Abstammung in den Vordergrund stellte und über die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft entscheiden ließ. Auf diese „Sicherheit“ hätte schon das biblische Judentum setzen können. Dass es sich an die Patrilinearität der umgebenden Kulturen hielt, zeigt, dass es bei der Änderung um die Bedingungen der Diaspora ging. (Ganz aufgegeben wurde die Patrilinearität auch nicht, wie das Beispiel der geistlichen Ämter zeigt.) Allerdings wurde das neue matrilineare Prinzip nicht immer konsequent verfolgt. „Wurde eine Frau als Folge einer Vergewaltigung schwanger, so hat der Nachkomme den gleichen Status wie die Mehrheit der Bevölkerung, bei der die Vergewaltigung geschah. In diesen Fällen ist die Vaterschaft zwar sehr unsicher, aber die Rabbinen beurteilen die Nachkommen nicht matrilinear.“68 Aus diesem Beispiel lässt sich ableiten, dass mit der neuen Betonung der mütterlichen Deszendenz weniger die Sicherheit der Herkunft gemeint war als ein positives Bekenntnis zum Judentum. Diese Identität sollte als Teil einer Konstruktion verstanden werden, die das „portative Vaterland“ der Heiligen Schrift mit dem weiblichen Körper als „sakraler Heimstätte“ verband: Hatte Gott in der Exodus-Erzählung das Volk zu seinem Tempel gemacht, so fand sein Volk in der Zerstreuung eine neue „Wohnstätte“ im Körper der Frau – eine Symbolik, die in den Gemeinschaftsallegorien vieler Kulturen und Völker auftaucht (von der Ecclesia über Israel als „Braut Gottes“ bis zu den späteren Nationalallegorien). Hier jedoch hat sie nicht symbolischen Charakter, sondern verortet sich im realen Körper der einzelnen Frau.
Die neue Identitätskonstruktion war nur deshalb möglich, weil im Judentum durch die Staatenlosigkeit ein völlig neues Prinzip geistlicher Zuständigkeit entstanden war. Jochanan ben Zakkai gilt als der, der das jüdische Volk nach der Katastrophe von 70 in ein neues Zeitalter überführte. Schon seine Herkunft – er war nicht aus davidischem Geschlecht und auch kein Priester – prädestinierte ihn, Schöpfer einer neuen Sozialordnung zu werden. Dementsprechend stieß diese auch zunächst auf viele