Günther Stemberger, waren „anfangs noch eine sehr kleine Gruppe, ohne direkten Rückhalt im Volk, eine elitäre Intellektuellenschicht, die mit öffentlichen Aufgaben nichts zu tun haben wollte“.69 In gewissem Sinne wiederholte sich also die Situation des 5. Jahrhunderts v. u. Z. – nur in Umkehrung. Damals kam eine kleine Elite von babylonischen Gelehrten, die der jüdischen Bevölkerung ein neues Identitätsmodell nahezubringen versuchten. Nun waren es nicht die Priester, sondern gewissermaßen „Autodidakten“, die das neue Prinzip formulierten. Und diese intellektuelle Elite kam nicht aus Babylon, sondern bestand aus dem Judentum des alten Palästinas. Einige der überlebenden Priester, Leviten und Tempelbeamten, die nach der Zerstörung des Tempels ohne Amt, Funktion und öffentliche Macht waren, schlossen sich der Gruppe von Jabne an. „So versuchte ein Teil der Priesterschaft neben der aufstrebenden jüdischen Laiengelehrsamkeit, insbesondere durch die pharisäische Bewegung verkörpert, als konsolidierte Gemeinschaft fortzubestehen.“ In Jabne setzte man „das Studium der Tora an die Stelle des Tempelopfers“ und maß ihm eine vergleichbare religiöse Bedeutung zu.70 Es waren diese Intellektuellen, denen nichts anderes geblieben war als ihre Gelehrsamkeit, die die jüdische Lehre in eine „portative Religion“ verwandelten.
Der Status der Gelehrten von Jabne legt noch eine dritte Erklärung für den Wandel zur Matrilinearität nahe. Micha Brumlik vertritt die Ansicht, dass er auch mit der Entmachtung der traditionellen Priesterschaft zusammenhing. Schon in den 200 Jahren vor dem Beginn der Diaspora war mit den Pharisäern eine neue Elite von Gelehrten herangewachsen, die in Jerusalem mit dem Hohepriester, den Kohanim und den Leviten um die Macht konkurrierten. Aus dieser Schicht rekrutierte sich ein Gutteil der Rabbinen von Jabne. Nach der Einführung der Matrilinearität wurden die geistlichen Ämter zwar weiterhin in männlicher Linie vererbt, doch es verband sich damit keine Macht mehr. „Von der einstigen Macht der Kohanim blieb im rabbinischen Judentum nicht mehr übrig als das Privileg, als erste zur Tora aufgerufen zu werden. Damit wurde auch die judäische Kastengesellschaft in eine meritokratische, d. h. in eine auf dem Verdienst des Lernens beruhende Gelehrtenrepublik umgewandelt.“71 Diese Erklärung leuchtet ein, zudem sie typisch ist für den Aufstieg neuer Bildungsschichten in alphabetischen Gesellschaften. In Griechenland stellte der Aufstieg der Sophisten ein ganz ähnliches, „auf dem Verdienst des Lernens“ beruhendes Phänomen dar. Ausschlaggebend für das Prinzip der Matrilinearität dürfte jedoch die Frage des Zusammenhalts der Gemeinschaft in der Diaspora gewesen sein.
Auf der einen Seite kanonisierte diese neue geistige und geistliche Elite die jüdische Bibel, auf der anderen schuf sie die Grundlage für einen zweiten heiligen Text, den Talmud mit seinen Diskussionsbeiträgen, Geboten und Verboten, Interpretationen und Kommentaren. Dieser wurde zur Basis der Halacha, dem neuen Verhaltenskodex, der die Gesetze der Tora ergänzte oder auslegte. Daneben entwickelten sie auch neue Formen des Gottesdienstes, die zu Hause oder in der Synagoge stattfinden konnten, um den Tempelkult zu ersetzen. Die einzelnen jüdischen Gemeinden gewannen an Autonomie: Die einzige Voraussetzung für einen Gottesdienst war die Anwesenheit von zehn jüdischen Männern. Tatsächlich lebten Juden schon bald in unterschiedlichen Sprachgebieten und Kulturen und integrierten einige der fremden Traditionen in die eigene. Erst nach der Erfindung des Buchdrucks gab es mit dem Schulchan aruch („Gedeckter Tisch“) des Josef Karo (1488–1575) und den ergänzenden Kommentaren von Moses Isserles den Versuch, einen einheitlichen jüdischen Kodex zu erstellen (siehe hierzu auch den Beitrag von Walter Homolka, S. 227). Das Buch wurde 1565 in Venedig gedruckt.
Das Lehrhaus von Jabne wurde zur Keimzelle eines neuen normativen Judentums, das sich in den ersten zwei nachchristlichen Jahrhunderten herausbildete. Zwar bestand das angesehene und erbliche Patriarchat von Jerusalem noch über fast vier Jahrhunderte, doch es hatte immer weniger Gewicht und erlosch endgültig im Jahr 429, als es durch das römische Gesetz beendet wurde. „Erst mit der Gründung des Staates Israel 1948 entstand ein neues, potentiell konkurrierendes Objekt der kollektiven Identifikation“,72 das das in Jabne entstandene Konzept des „portativen Vaterlands“ – als heiliger Text und als „Heimatboden“ im mütterlichen Leib – ablöste oder ergänzte (je nach Perspektive).
Die Beschneidung
Das römische Privileg zur Einführung der Matrilinearität „erscheint als Gegenstück zu der Erlaubnis, die Beschneidung an jüdischen Jungen vorzunehmen, die die Juden um 150 unserer Zeitrechnung durch das Reskript des Antoninus Pius erhielten“, schreibt Modrzejewski.73 Dies waren die beiden großen Konzessionen des Römischen Reichs an die „jüdische Identität“. Die Beschneidung widersprach dem römischen Denken noch mehr als die Matrilinearität. Das hing einerseits mit der Rolle zusammen, die sie für die jüdische Zusammengehörigkeit (und die damit einhergehende jüdische Autonomie) hatte, andererseits aber auch mit deren vielschichtiger Symbolik: Die Beschneidung wurde, manchmal explizit, mit der Kastration gleichgesetzt – ein Eingriff, der in einer patriarchalen und patrilinearen Gesellschaft als Verbrechen galt. Das jüdische Recht auf Beschneidung folgte ganz offenbar einer anderen Vorstellung von Männlichkeit. Es hing nicht unmittelbar mit dem Prinzip der matrilinearen Abstammung zusammen, aber wurde gerade in der Diaspora zum zweiten leiblichen Distinktionsmerkmal.
Bevor auf die Auseinandersetzungen um die Beschneidung in Griechenland und Rom einzugehen ist, noch einige allgemeine Bemerkungen zur Symbolik dieses Ritus. Bei den (zum Teil heftigen und polemisch geführten) Debatten in Deutschland stand die Frage der Religion im Mittelpunkt. Faktisch ist der Ritus der Beschneidung aber viel älter als die jüdische Religion, geschweige denn als der Islam. Ägyptische Darstellungen zeigen, dass die Beschneidung schon vor ca. 4500 Jahren praktiziert wurde, d. h., der Ritus existierte schon mindestens 1500 Jahre, bevor von Monotheismus und Judentum die Rede sein kann. In einer späteren Zeit wurde sie zu einem Privileg ägyptischer Priester, als welche sie dann auch im griechischen und römischen Ägypten erhalten blieb.
Heute sind weltweit – die Zahlen schwanken – ca. drei von 20 Männern beschnitten. Aber nur bei den Juden ist der Eingriff religiöse Vorschrift (Gen 17,10–14; Lev 12,3). Bei Muslimen entspricht er keinem zwingenden Gebot, ist aber sozial erwünscht. Auch in den USA und England ist eine Mehrheit der Jungen beschnitten (jüdischer wie nichtjüdischer Herkunft), weshalb in Amerika und Großbritannien wie auch in Frankreich die deutsche Diskussion auf Unverständnis stößt. Die Begründungen, die die Befürworter der Beschneidung anführen, sind sehr unterschiedlich. Man kann rund zehn solcher Begründungen ausmachen, von denen einige aus dem Denken in Stammesgesellschaft kommen, andere einen religiösen Hintergrund haben und wieder andere den Ansprüchen einer modernen Wissenschaft und Psychologie geschuldet sind.
1.Durch die Beschneidung werde der Unterschied zwischen Männern und Frauen betont.
2.Die sexuelle Potenz und Fruchtbarkeit des Mannes werde durch die Beschneidung gesteigert. (In Rom und Griechenland galt die Beschneidung dagegen eher als Symbol der Entmannung.)
3.Eine psychologische Begründung lautet, dass durch die Beschneidung die Trennung des Sohnes von der Mutter vollzogen werde. Indem der Vater dafür sorgt, dass der Sohn beschnitten wird, werde eine männliche Linie etabliert, die von Vater zu Sohn weitergegeben wird. Dass diese Begründung weder in Rom noch in Griechenland herangezogen wurde, kann als Beleg dafür gelten, dass die „Patrilinearität“ in diesem Fall auf einem anderen Konzept von männlicher Linie beruhen muss.
4.In Gesellschaften, in denen die Beschneidung majoritär ist, kommt eine weitere psychologische Begründung dazu: das Bedürfnis, nicht anders auszusehen als andere Männer/Jungen.
5.In den modernen säkularen Gesellschaften wird die Beschneidung oft mit Hygiene begründet, was als Versuch zu lesen ist, sie in einen „aufgeklärten“ Kontext zu überführen (siehe hierzu auch den Beitrag von Werner Treß, S. 335).
6.Im Islam signalisiert die Beschneidung vornehmlich Zugehörigkeit zum Clan, zur Familie oder zur Volksgemeinschaft.
7.Im Kampf gegen den Kolonialismus symbolisierte die Beschneidung auch die Abgrenzung gegen den kolonialen Eroberer und wurde zum Symbol für nationale oder kulturelle Autonomie. Das galt vor allem für den arabischen Raum.
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