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Handbuch Jüdische Studien


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aller Entscheidungen beinhaltete eine verstärkte Kontrolle der Frauen der christlichen Gemeinschaft.119

      Dieser Wandel ging mit einem verschärften Antijudaismus einher. Auf dem Konzil von Elvira wurden auch die ersten kirchlichen Regeln erlassen, die sich ausdrücklich gegen das Judentum richteten – Regeln, die später in staatliches Recht überführt wurden. Vier der 81 canones von Elvira sahen eine Distanzierung vom Judentum vor: Ehen mit jüdischen oder heidnischen Partnern wurden verboten; Großgrundbesitzern wurde untersagt, ihre Feldfrüchte von Juden segnen zu lassen, und Gläubige sollten keine Tischgemeinschaft mit Juden pflegen. Auf der anderen Seite hatte sich zu dieser Zeit aber auch das rabbinische Judentum etabliert – und mit ihr die Halacha, der Verhaltenskodex für gläubige Juden. Zwar galt dies zunächst nur für Palästina (die Verbreitung der neuen Lehre in der erweiterten Diaspora sollte noch einige Jahrhunderte auf sich warten lassen, und erst im 8. Jahrhundert erreichte die Halacha Spanien und Italien, das Rheinland sogar erst im 9. Jahrhundert), doch mit der Halacha war ein Instrument geschaffen worden, „das in der Lage war, den wechselnden historischen Herausforderungen entsprechende Antworten zu geben“.120

      Mit dem Übertritt von Konstantin dem Großen zum Christentum zu Beginn des 4. Jahrhunderts fiel im Römischen Reich das Verbot gegen die christliche Religion. Fortan wurde aus dem religiösen Konflikt ein politischer. Waren Judentum und Christentum im vorkonstantinischen Römischen Reich gleichermaßen Außenseiter, so erhielt nun die christliche Gemeinschaft durch die Verbindung mit der kaiserlichen Macht politisches Gewicht – und das veränderte die Rivalität zwischen den beiden Religionsgemeinschaften beträchtlich. Als im Jahr 380 das Christentum im Römischen Reich zur offiziellen Religion wurde, wurden Juden zu doppelten Außenseitern: der Religionsgemeinschaft wie des Staates. Im Jahre 438 dekretierte der Codex Theodosianus den Ausschluss von Juden von öffentlichen Ämtern und das Verbot der Mission unter römischen Bürgern oder Sklaven.121

      So wie sich die jüdische Ablehnung des Christentums zunächst vor allem gegen die Abtrünnigen in den eignen Reihen richtete, hatte auch der christliche Antijudaismus oft innerreligiöse Hintergründe und Auswirkungen – und dieses Wechselspiel zog sich bis in die Moderne. Die antijüdische Literatur des 7. Jahrhunderts z. B. stand in enger Beziehung zum Bilderstreit, der innerhalb der christlichen Religion tobte, als dort neben die traditionelle Rechtfertigung der Kreuzesverehrung die Rechtfertigung des Bildes im christlichen Gebrauch trat.122 Andersherum verschärfte sich mit der Entwicklung der christlichen Bilderverehrung das jüdische Bilderverbot (siehe hierzu auch den Beitrag von Inka Bertz, S. 399).123 Die kirchlichen Debatten des 11. und 12. Jahrhunderts um die Bedeutung von Brot und Wein bei der Messe wurden auf dem Laterankonzil von 1215 zugunsten der Transsubstantiationslehre entschieden. Zugleich wurde die Bestimmung erlassen, dass Juden einen gelben Fleck zu tragen hatten. Während bei der Messe aus dem Symbol Brot und Wein das reale Fleisch und Blut Christi wurde, verwandelte die Markierung den „Juden“ in einen sichtbaren, physiologischen Anderen. Die Fixierung auf die andere Religion zog sich durch die gesamte Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehung: vom 1. Jahrhundert über das Mittelalter bis in die Moderne. Andersherum war auch die Haskala, die jüdische Aufklärung, eine Reaktion auf die Aufklärung des christlichen Kulturraums, wie auch die jüdische Orthodoxie, die sich dieser Entwicklung verweigerte (siehe hierzu auch den Beitrag von Julius H. Schoeps, S. 289).

      Neue jüdische Identitäten

      Mit der Entstehung des Staates Israel im Jahre 1948 änderte sich die Situation des Judentums grundlegend. Zum ersten Mal seit fast 2000 Jahren gab es neben der Diaspora auch einen festen Ort, ein „jüdisches Territorium“. Die jüdische Bevölkerung wurde 1945 auf 11 Millionen Personen geschätzt und umfasst heute 14,1 Millionen.124 Während der Diaspora 1945 noch ca. 10,5 Millionen Personen zugerechnet wurden, sank dieser Teil der jüdischen Weltbevölkerung auf heute 8,1 Millionen. Die meisten von ihnen leben in den USA. In demselben Zeitraum wuchs die jüdische Bevölkerung Israels von einer halben auf 6,1 Millionen Personen an.125 Israel hat heute die USA als größte jüdische Gemeinde verdrängt. 2050, so die Prognose, werden 57 Prozent aller Juden in Israel und 34 Prozent in den USA leben. Der europäische Anteil werde in demselben Zeitraum von 9 Prozent (1,2 Millionen) im Jahr 2006 auf sechs Prozent (0,8 Millionen) im Jahr 2050 zurückgehen.126 Man rechnet also mit einem weiteren Wachstum zugunsten von Israel und zulasten der Diaspora. Würde die jüdische Bevölkerung der USA nach halachischen Kriterien bemessen, wäre die Disproportion noch größer.127

      Israel bedeutet nicht zwingend eine Zunahme der religiösen Definition des Judentums. Schon die zionistische Emigration nach Palästina war mehrheitlich säkular oder sogar atheistisch und plante einen „säkularen jüdischen Nationalstaat“, in dem die Religion „nur ein Bestandteil des nationalen kulturellen Erbes“ sein sollte – eine Vision, die von den religiösen Zionisten freilich nicht geteilt wurde.128 Zu einem religiösen Gebilde entwickelte sich der israelische Staat eigentlich erst seit dem Sechstagekrieg von 1967, der die Notwendigkeit einer einheitsstiftenden Kraft deutlich machte – und für diese kam in erster Linie die Religion in Frage (siehe hierzu auch den Beitrag von Micha Brumlik zum Thema Zionismus, S. 371). Dennoch bezeichnet sich noch heute eine deutliche Mehrheit (60 Prozent) der Israelis als säkular. Allerdings lebt diese Mehrheit, wenn auch nicht explizit, nach einem reformjüdischen Modell: Sie bekennt sich zum Judentum und hält sich an Rituale und Feiertage wie Schabbat, Beschneidung, Bar Mitzwa, Pessach, Jom Kippur etc. Diese werden aber nicht unbedingt als Rituale der jüdischen Religion wahrgenommen, sondern als „Bestandteile der Kultur in der israelisch-jüdischen Mehrheitsgesellschaft. Insofern heißt säkular leben, insbesondere in Israel, immer auch durch Sprache und Kultur dem Judentum verbunden bleiben“.129 Die meisten areligiösen Israelis, so Amos Oz, seien „Reformjuden, ohne es zu wissen“.130 Auch der „säkularste“ Israeli sei täglich mehr „Jiddischkeit“ ausgesetzt, als es ein orthodoxer amerikanischer Jude je sein wird; allein die hebräische Sprache sei eine stete Erinnerung an die eigenen Wurzeln.131 Was Israel also garantiert, ist die „Selbstverständlichkeit“ des Jüdisch-Seins – eine Erkenntnis, zu der viele Israelis erst kommen, wenn sie im Ausland zum ersten Mal erleben, dass ihre jüdische Identität minoritär ist.

      Die Entstehung des Staates Israel bedeutete für einen Teil der jüdischen Weltbevölkerung das Ende der Diaspora. Das gilt heute nicht nur für Israelis, sondern auch für Juden in anderen Ländern. Für sie ist Israel zu einem Ort der Sicherheit im Fall von Verfolgung geworden. Er bedeutet die Bindung an ein Land, auch wenn sie nicht dort leben. Israel hat nicht die Bibel als Mittel der Kohäsion ersetzt; der Staat hat nicht das „portative Vaterland“ verdrängt. Doch das „Heilige Land“ ergänzt die „Heilige Schrift“. Dadurch besteht nicht mehr in demselben Maße die Notwendigkeit, den weiblichen Körper zur „Heimstätte“ des Judentums zu machen. Zwar gilt auch in Israel das matrilineare Prinzip jüdischer Identität, doch in der Praxis wird es teilweise durchbrochen, etwa durch die Immigrationsgesetze von 1970, die auch die Ehepartner, Kinder und Enkel eines Juden, den Ehepartner des Kindes eines Juden und den Ehepartner eines Enkels eines Juden in das Rückkehrrecht einbeziehen. Dadurch sollte explizit die Einheit von Familien, in denen es zu religiös gemischten Familien kam, bewahrt werden. Eigentlich ist es erstaunlich, dass Israel an der mütterlichen Linie festhält, obwohl diese eine Erfindung der Diaspora und durch die Diaspora bedingt war. Mit der Entstehung eines jüdischen Staats mit eigenem Territorium wäre das „Ersatzterritorium“ Mutter eigentlich verzichtbar. Wenn der Staat Israel dennoch daran festhält, so mag dies daran liegen, dass die Frage der Territorialität weiterhin als prekär empfunden wird.

      In vielen Ländern, in denen noch 1970 Juden lebten, gibt es heute so gut wie keine jüdischen Gemeinden mehr – darunter Belarus, Moldawien, Usbekistan, Iran, Rumänien, Georgien, Marokko, Aserbaidschan. In anderen, wo 1970 kaum Juden lebten, gibt es jetzt jüdische Gemeinden – darunter Deutschland, Mexiko, Belgien, Niederlande, Italien, Chile, die Schweiz, Uruguay. Was die Diaspora betrifft, „deutet alles auf eine Verwestlichung des globalen jüdischen Kollektivs“.132 Die Verlagerung innerhalb des Judentums von Religion zu Kultur