aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen diese weltweite Dimensionen an. Für die jüdische Kultur entspricht sie einer mehr als 2000-jährigen Erfahrung, die jedoch im 20. Jahrhundert ihre größte Verdichtung erfuhr. Zwischen 1900 und dem Beginn des 21. Jahrhunderts migrierten rund 10 Millionen Juden „von, zu und quer durch Länder und Kontinente“, davon mehr als die Hälfte in den Jahren zwischen 1948 und 2013.170 Die jüdische Migrationserfahrung begann vor zweieinhalbtausend Jahren im babylonischen Exil, wo die theologischen Texte ausformuliert wurden. Seither ist sie der Religion selbst eingeschrieben. Denn schon in Babylon fand das Judentum in den Buchstaben der Schrift eine stellvertretende „Heimat“. Nach der zweiten Zerstörung des Tempels erwies sich diese Verlagerung des Gotteshauses in die Buchstaben erneut als überlebenswichtig. Auch heute scheint die jüdische Kultur besser als irgendeine andere für die Konsequenzen gewappnet, die sich auch aus der Verdichtung des Kommunikationsnetzes ergeben. Die jüdische Kultur hatte die Schrift zu ihrem „portativen Vaterland“ gemacht. Was aber ist das Internet anderes, als ein ins Schriftsystem verschobenes Heimatland? Im Cyberspace wird das Festland durch ein „bewegliches“ Territorium der Zeichen ersetzt. Mehr noch als die Migration von Menschen ist das Internet zu dem Symbol einer neuen global zusammengehörigen Welt geworden – und dieses Leben in den Buchstaben ist der jüdischen Kultur nicht nur vertraut, es ist ihr strukturell eingeschrieben.
Der amerikanische Kultur- und Kommunikationsforscher Jeffrey M. Peck, der ein Buch über die Frage der jüdischen Identität in Deutschland seit 1989 verfasst hat, vertritt die Ansicht, dass für Juden in der Diaspora die modernen Informationstechnologien zu einem wichtigen Vehikel der Vernetzung geworden sind. Das gelte insbesondere für die sich wandelnde jüdische Gemeinde in Deutschland in ihrer Beziehung zum Rest von Europa und zu Israel als der privilegierten „Heimat“ des jüdischen Volkes. „Das Erscheinen eines Cyber-Jew wäre nicht erstaunlich angesichts der wachsenden technischen Möglichkeiten, Informationen auszutauschen und, in diesem Fall, Identitäten zu konstruieren und ein neues Diaspora-Bewusstsein zu schaffen.“171 Er erwähnt einige Portale wie Jewhoo und ClickonJudaism, das von der Union of American Hebrew Congregations of Reform Movement in der Hoffnung geschaffen wurde, Menschen über Inhalte „als Eintrittsportal zur Synagoge“ zu erreichen.172 Es entstanden so Netzwerke, die sowohl eine „ethnische Gemeinschaft“ als auch eine „virtuelle Ethnizität“ herstellen. So der Medienwissenschaftler Mark Poster in seinem Buch What’s the Matter with the Internet? Als Beispiel zitiert er ein Foto, auf dem ein orthodoxer Jude an der Klagemauer zu sehen ist, der sein Mobiltelefon dem Heiligen Ort entgegenstreckt, damit ein weit entfernter Freund an diesem Ort mit ihm beten kann. Das Internet, so Poster, sei weit davon entfernt, ethnische Zugehörigkeit aufzuheben, vielmehr erlaube es „Juden, wo auch immer sie sich auf dem Planeten befinden mögen, miteinander in Kontakt zu treten“.173 Diese Faktoren, so Peck, spielen besonders in Deutschland eine Rolle: Einerseits wachse die deutsche jüdische Gemeinde rascher als irgendeine andere, hier befinde sich mittlerweile die drittgrößte Europas bzw. die neuntgrößte der Welt. Andererseits gebe es eine vollkommene Unklarheit über den Status jüdischer Identität in Deutschland. In seinen Augen ist das Internet zu dem Symbol für das Leben in der Diaspora geworden – das „portative Vaterland“ der Moderne.
Die neue jüdische Diaspora-Identität, die ich hier beschreibe, trägt zwar die Kennzeichen einer konventionellen, auf dem Blut beruhenden Affinität, verwandelt sich nun aber in eine andere Art von ziviler, politischer Gemeinschaft, die sich nach den Kategorien des globalen elektronischen Netzwerks bildet, das heute alle Identitäten reformiert.174
Auf dieser Art von Netzwerk und jüdischer Identität basiert Walter Jacobs Zuversicht über die Zukunft des Judentums: „Da uns für unsere jüdische Identität eine Vielzahl von Optionen zur Verfügung steht, sollten wir uns nicht allzu sehr um die Zukunft oder unsere demografische Entwicklung sorgen. Einige mögen für immer verloren gehen, aber die meisten werden in Nordamerika, Israel und Europa neue Formen der Jüdischkeit und des Judentums schaffen.“175
Dieses neue „soziale“ oder „virtuelle“ Konzept jüdischer Identität ist Globalisierung. Aber ohne die Entstehung des Staates Israel als territorialem Gegenpol wäre diese Entwicklung kaum vorstellbar. Das heißt, erst seitdem zum portativen Vaterland der Tora ein reales Territorium hinzugekommen ist, wurden einerseits die weltweite Diaspora, andererseits aber auch die Pluralisierung der Definitionen jüdischer Identität möglich. Zu letzteren gehören u. a. die nichtreligiösen, geistigen und kulturellen Definitionen. Diese Korrelation von Israel und Diaspora zeigt sich an einer erstaunlich hohen Übereinstimmung des Wertekanons: Sowohl in den USA (als die Repräsentation der Diaspora) als auch in Israel hat die Erinnerung an den Holocaust hohe Priorität – höher als der Glaube an Gott. Bei beiden nimmt auch die Familie einen hohen Stellenwert ein – höher als etwa die jüdischen Feiertage. Auch der wachsende Bildungsanspruch ist beiden Kulturen gemeinsam: 1957 hatten in den USA nur 26 % der jüdischen Männer und 10 % der jüdischen Frauen einen akademischen Abschluss. 2001 lag er schon bei 67 % der Frauen und 71 % der Männer – das ist erheblich höher als bei der restlichen Bevölkerung. Ähnlich in Israel, wo besonders der Anstieg unter den Frauen auffallend ist.176 Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Sorge um Israel. Nur in einem Punkt unterscheidet sich der Wertekanon: „Unter US-Juden hat die Identifizierung mit jüdischer Kultur, Geschichte und Politik einen ebenso hohen Stellenwert wie die Teilnahme an der Zivilgesellschaft für israelische Juden.“177 Man könnte das Ergebnis dieser Erhebung mit dem Satz interpretieren: Die Juden der Diaspora haben die Aufgabe übernommen, für den Bestand der geistigen Erbschaft des Judentums zu sorgen, die Juden in Israel dagegen, den Bestand der Gemeinschaft zu sichern.
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1„Biblisches Judentum“ ist ein Begriff der Moderne. Selbst der Begriff „jüdisch“ kommt in der gesamten Hebräischen Bibel nur zweimal vor. Ähnliches gilt auch für den Begriff „Religion“. Die Gemeinschaft des Alten Israel sah sich selber eher als ein Volk. Siehe hierzu auch den Beitrag von Daniel Boyarin, S. 59.
2Stock, Brian: The Implications of Literacy: Written Language and Models of Interpretation in the Eleventh and Twelfth Centuries, Princeton 1983.
3Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt/Main 1988.
4Biale, David: Blood and Belief: The Circulation of a Symbol between Jews and Christians, Berkeley 2007.
5Vgl. Braun, Christina von: Zum Begriff der Reinheit, in: Metis. Zeitschrift für Historische Frauenforschung I (1997), S. 7–25.
6Ong, Walter: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, übers. v. Wolfgang Schömel, Opladen 1987, S. 91.
7Kallir, Alfred: Sign and Design: The Psychogenetic Sources of the Alphabet, London 1961, S. 243 (dt.: Sign and Design. Die psychogenetischen Quellen des Alphabets, Berlin 2002).
8Die Anekdote ist dem Babylonischen Talmud entnommen, bekannt als „Lo Baschamajim hi“ („Sie ist nicht im Himmel“, die Tora). Es handelt sich um die Geschichte vom Ofen des Achnai (BM 59a–b). Den Hinweis verdanke ich Liliana Feierstein und Micha Brumlik.
9Erst im rabbinischen Judentum, dessen Vorstellungen sich oft in Parallele oder in Abgrenzungen gegen das Christentum entwickelten, taucht gelegentlich ein „Vater“ in Gebeten auf, so im Gebet zum Versöhnungstag Avinu Malkenu, das zwischen 500 und 1000 entstanden sein soll. Vgl. Elbogen, Ismar: Jewish Liturgy: A Comprehensive History, Philadelphia 1993. Es handelt sich um eine erweiterte Ausgabe des ursprünglich deutschen Titels Der Jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Leipzig 1913.
10Braun, Christina von: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, München; Zürich 2000; Gießen 2016.
11Verband der Deutschen Juden (Hg.) (neu hg. von Homolka, Walter; Jacob, Walter; Ben-Chorin, Tovia): Die Lehren des Judentums nach den Quellen, Bd. 3, München 1999, S. 43 ff.
12Aristoteles: Über die Zeugung der Geschöpfe, Buch I, Bd. 14, S. 71 f., S. 66 f.; Buch II, S. 81 f., 87 f.
131. Kor 11,7 f.
14Der Begriff der „Investition“ kommt, wie das Wort schon sagt, aus dem Textilbereich