sich auch fragen, ‚wer war Jude‘“?4 Indem Davies die Frage so formuliert, ändert der Terminus „Judentum“ seine Bedeutung in seinem Text – von der Bezeichnung einer angeblichen „Religion“, aus der andere angebliche „Religionen“ hervorgegangen sind, zu einer wie auch immer gearteten Volkszugehörigkeit. Am Schluss kommt er zudem zu folgender (bahnbrechender) Erkenntnis:
Das Ergebnis dieser […] Entwicklungen ist die nunmehr breit (wenn auch zugegebenermaßen nicht einstimmig) akzeptierte Wahrnehmung, dass das „Judentum“ in dem Zeitabschnitt vor dem Fall des Zweiten Tempels (und faktisch auch noch lange danach) in Wirklichkeit eine Zusammenstellung kultureller und religiöser Einstellungen war. Diese überschnitten sich zuweilen oder standen zueinander im Wettstreit; sie reichten von dem, was Soziologen heute „Zivilreligion“ nennen, bis zu ziemlich isolierten Sekten.5
Von „Judentum“ kann also nur in Anführungsstrichen gesprochen werden – oder könnte es sich um einen Hinweis darauf handeln, dass diese Bezeichnung von anderen verwendet wurde? Wenn diese Gruppe in der Antike nicht „Judentum“ genannt wurde (wie nachfolgend gezeigt werden soll, hatte Ioudaismos eine ganz andere Bedeutung sowohl in den Büchern der Makkabäer als auch bei Paulus, die einzigen beiden antiken Kontexte, in denen dieser Begriff auftaucht) – woher kommt dann der Name „Judentum“ für diese Gruppe? Die Frage, wann sich „eine Zusammenstellung kultureller und religiöser Einstellungen“ formierte, ist ein weiteres gewichtiges analytisches Problem, besonders, wenn zumindest einige dieser Einstellungen im Widerstreit zu den anderen stehen.
Davies ist sich dieser Probleme wohl bewusst: Moderne Wissenschaftler, die das Konzept des einzig wahren, ewigen Judentums zweifellos de-essentialisieren und von „Judaismen“ sprechen, sieht er als feste Bestandteile eines Systems von „Judaismen“, die miteinander konkurrieren, oder eines Genus, der sich aus verschiedenen „judaistischen Spezies“ zusammensetzt. Gleichzeitig wirft er denselben Wissenschaftlern vor, sich nicht die Mühe gemacht zu haben, den Begriff „Judentum“ zu definieren. Wie Davies selbst anmerkt, ist die Definition des Judentums als Genus mit verschiedenen judaistischen Spezies ebenso problematisch wie die Bedeutung, die sich aus der Vorstellung ergibt, dass ein einziges Judentum individuelle Spezies hervorbrachte, die dann die Gemeinschaften bildeten. Im Hinblick auf eine andere Studie, die scharf zwischen dem Judentum als ungebrochener „religiöser Tradition“ und den „Hellenisierern“ unterscheidet, bemerkt Davies zu Recht: „Sind die Judentümer des Philon oder im 2. oder 4. Buch der Makkabäer traditioneller oder hellenistischer Art? Wenn solche Mischungen in Ägypten möglich waren, warum dann nicht in Palästina?“6
Die Frage, ob „das Judentum“ die Religion des „jüdischen Volkes“ sei oder ob zum „jüdischen Volk“ gehöre, wer sich zu dieser Religion bekennt, beantwortet Davies dahingehend, dass viele Juden in der Antike Konvertiten gewesen seien, die freiwillig oder unter Zwang zu einer „bereits bestehenden Religion“ übertraten.7 Die Ansatzpunkte, auf die sich diese Feststellung stützt, werfen eine ernsthafte Frage auf. Wie jüngst dargestellt, war die Frage der Konversion in der Zeit des Zweiten Tempels und selbst noch einige Zeit später alles andere als geklärt.8 Für bedeutende Gruppen (wie etwa für den Autor des Buchs der Jubiläen) trifft keiner dieser Ansätze zu: Jude ist, wer als Jude geboren ist, nicht mehr und nicht weniger (wenn auch für einige dieser Gruppen ein Junge, der nicht am achten Tag nach der Geburt beschnitten wurde, kein Jude war und auch nie einer werden konnte!). Überdies, was soll man sich unter einer Religion vorstellen, die „bereits existiert hat“, wenn sie von niemandem im Volk je so benannt wurde, und wie können Konvertiten ein Teil davon sein, wenn ein Großteil der Gläubigen die Möglichkeit der Konversion gar nicht anerkannte?
Davies kennt die Problematik, die Existenz einer kulturellen Einheit vorauszusetzen, wenn diese behauptete Einheit weder direkt noch indirekt in der Sprache der Mitglieder dieser Gemeinschaft benannt wird: „Erst wenn ein Konzept wie ‚Judentum‘ ins Bewusstsein rückt, das heißt in Begriffe gefasst wird, kann auch erklärt werden, was diese Begriffe bedeuten […] Doch das bewusste ‚-tum‘ ist eine Vorbedingung oder zumindest ein Symptom für den Eintritt von ‚Judentum‘ in das historische Bewusstsein.“ Die Frage ist also eine philologische: Davies legt dar, dass dieses bewusste Konzept in einem Werk entwickelt wurde bzw. belegt ist, das als das 2. Buch der Makkabäer bekannt wurde. Insofern könne von einer Einheit gesprochen werden, die „Judentum“ genannt wird. Wie aber kann man feststellen oder behaupten, dass der extrem seltene, kaum belegte hellenistische Begriff Ioudaismos„Judentum“ bedeutet und nicht „Loyalität gegenüber dem Gemeinwesen und den Bräuchen des Volkes von Judäa“?
Ioudaismos ist nicht gleich „Judentum“
Steve Mason hat zweifellos Recht, wenn er behauptet, dass die sogenannte Konversion zum sogenannten Judentum (sofern sie überhaupt anerkannt wurde) ein – wie gesagt freiwilliger oder erzwungener – Aufnahmeprozess in ein der Nation analoges Gebilde war – ein Genos oder Ethnos (alle diese Begriffe in ihrer antiken Bedeutung). Was hat Religion damit zu tun? Mason schreibt dazu Folgendes:
Es gibt ein simples Modell der Ethnizität (Athener sind Athener, Tyrianer sind Tyrianer etc.), aber in diesem Fall – wie es Josephus auch in Gegen Apion betont – sind die Judäer anders als die Athener und Spartaner, die streng auf ihre Staatsbürgerschaft achteten. Im Gegensatz dazu nahm Moses bereitwillig jeden auf, der bereit war, unter judäischen Gesetzen zu leben. Philo macht dieselbe Aussage: Wer seine Familie, seine Polis, seine Gesetze und seine Bräuche gegen unsere eintauscht, sollte als unser Fleisch und Blut angenommen werden. Andere zeichnen nach, wie die Idumäer zu Judäern wurden, weil sie die judäischen Gesetze annahmen. Epiktet, Tacitus und Juvenal kommentieren dieselbe Erscheinung als Außenstehende: Leute anderer Ethnizität werden merkwürdigerweise zu Judäern, indem sie den ganzen Satz ihrer normalen Identitätsmerkmale aufgeben (was aus der Sicht von Tacitus nicht wünschenswert ist). Es geht hier nicht um religiöse Konversion, sondern um den Wechsel der Ethnie, was in der Tat bemerkenswert ist (man hätte dasselbe tun können, indem man Römer wurde, außer dass die römische Staatsangehörigkeit die ursprüngliche Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft nicht in dem Maße gemindert hätte, wie man die Traditionen der eigenen Vorväter hätte aufgeben müssen, um Judäer zu werden).
Wie Mason weiter ausführt, zeigt auch der folgende Text von Josephus Flavius (Der Jüdische Krieg 7,45), dass der Autor die Konversion nicht im christlichen Sinne interpretierte:
Ferner übte auch ihre Religion [thrēskeiai im griechischen Original] stets eine große Anziehung auf viele Griechen aus, die durch deren Annahme in gewisser Hinsicht selbst wieder ein Stück jüdischen Volksthums wurden.9
Zunächst beweist der Plural thrēskeiai, dass es sich hier nicht um Judentum handelt, also nicht um eine Religion, sondern um die Ausübung von Kulten verschiedener Art (einschließlich möglicherweise auch der Einhaltung von Speisegesetzen wie Kaschrut, des Schabbat u. ä.). Noch deutlicher schließt die Aussage „die durch deren Annahme in gewisser Hinsicht selbst wieder ein Stück jüdischen Volksthums wurden“ jede Vorstellung einer religiösen Konversion aus, ganz im Gegensatz zu einer „ethnischen“ Verbindung, da man bei der Konversion zu einer „Religion“ nicht in gewisser Hinsicht, sondern ganz Teil der Gruppe und der Institution wird, der man sich anschließt.
Es gab also Mason zufolge kein „Judentum“, zu dem man konvertieren konnte. Was also ist dann im 2. Buch der Makkabäer (und in einigen verwandten Texten) mit Ioudaismos gemeint? Mason zeigt, dass dieser Begriff weder die angebliche jüdische Religion noch die Ausübung des Kults der Juden benennt. Diese These zur Bedeutung des seltenen hellenistischen-jüdischen Wortes Ioudaismos, das nur in einem Kontext erscheint, ist jedoch entscheidend, da Davies sein äußerst anspruchsvolles System der Suche nach den Ursprüngen des „Judentums“ genau auf diesen Ioudaismos aufbaut. In seinen Augen ist Jüdischsein vor dem Auftritt des Ioudaismos (und hier schließt er sich Daniel Schwartz an) „[…] grundsätzlich eine Frage der Lokalität oder der Rasse [Ethnos oder Genos, DB]. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass es unter ihnen mehr Übereinstimmung bei einem Glauben oder einem Brauch gab als etwa unter allen Franzosen oder allen Frauen“.10 Doch nach dieser angeblichen Transformation gebe es durchaus Grund zu genau dieser Annahme. Davon leitet Davies drei Phasen der Entwicklung des „Judentums“