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Handbuch Jüdische Studien


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haben muss. Doch Josephus standen keine derartigen Begriffe zur Verfügung, die sein Publikum hätte verstehen können. Er sagte lediglich, dass diese Gruppen oder Individuen sich mit Gottesfurcht, Bescheidenheit und einer gewissen Jenseitsvorstellung beschäftigen. Und genau damit beschäftigten sich philosophische Schulen, weshalb er sie auch Philosophien nannte. Es gab keinen Genus „Religion“, deren Spezies sie sein konnten.36

      In keiner Schrift des jüdischen Historikers Josephus aus dem Palästina des 1. Jahrhunderts findet sich ein Wort, das sich auf „Judentum“ oder „Religion“ bezieht. Spricht er über Ideen, Gedanken und Ideologien der Tora, dann bezeichnet er sie als „die Philosophie der heiligen Bücher“. Erwähnt er die in diesen Büchern und im jüdischen Brauchtum kodierten Gebote und Verbote, nennt er diese „Regeln/Bräuche der Vorväter“. Das entspricht auch dem Usus im 2. Buch der Makkabäer, das Josephus gelesen hatte. Martha Himmelfarb bemerkt hierzu: „Für das 2. Buch der Makkabäer ist Jerusalem eine Polis, die Juden ihre Bürger und ihre Lebensphilosophie die Politeia.“37 Die Nomoi oder, seltener, der Nomos, sind die Bräuche der Vorväter, denen die Bürger verpflichtet sind – genau wie bei Josephus.

      Nomos und Narrativ: Gegen Apion

      Wie bezog sich also ein auf Griechisch (bzw. im vorliegenden Fall auf Hebräisch oder Aramäisch) schreibender jüdischer Chronist auf den judäischen Lebenswandel, ohne einen übergeordneten Begriff wie Ioudaismos oder eine Bezeichnung für „Religion“ zu verwenden? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich zunächst einen Blick auf ein belastetes Wort werfen, das Josephus (und die hellenistischen Juden generell) verwenden, nämlich auf nomos und seinen Plural nomoi. Diese Begriffe werden in der Regel als „Gesetz“ und „Gesetze“ übersetzt, doch soll hier gezeigt werden, dass diese Übersetzung den Sinn bei Josephus verfehlt. In seiner bemerkenswerten Apologie der jüdischen Lebensweise, in Gegen Apion, dient einzig nomos zur Beschreibung dieser Lebensweise. Für Josephus und für antike Autoren allgemein sind Abstraktionen und Kategorien wie „Gesetz“, „Politik“ und „Religion“ keine hilfreichen analytischen Kategorien. Josephus verwendet den Ausdruck nomos für das „Buch“ und die gesamte judäische Lebensart, ein Begriff, der der hebräischen Tora und der aramäischen orayta entspricht. Das mag trivial sein, wird doch bereits in der Septuaginta „Tora“ in der Regel mit nomos übersetzt. Entscheidend ist aber nicht, dass die griechischen Übersetzer den Sinn der Tora falsch verstanden haben und den Begriff deshalb so übersetzten, sondern dass das griechische Wort nomos eine andere Bedeutung erhielt, indem es von den Juden als Entsprechung von Tora genutzt wurde.

      Am deutlichsten ist dieser Umstand in Josephus’ Schilderung und Apologie des judäischen nomos in Gegen Apion zu erkennen, ein Text, in dem er den judäischen nomos ausdrücklich gegen Angriffe einiger „heidnischer“ Autoren verteidigt, unter ihnen der alexandrinische Grammatiker und Homerphilologe Apion. An dieser Stelle schreibt Josephus ausführlich, was nomos/Tora in seinen Augen bedeutet:

      Weil aber auch Apollonius Molon und Lysimachus und manch andere teils aus Unkenntnis, größtenteils aber aus Feindschaft über unseren Gesetzgeber Mose und über die Gesetze [nomoi] weder gerechte noch zutreffende Äußerungen gemacht haben, indem sie jenen als einen Zauberer und Betrüger verleumdeten, von den Gesetzen aber behaupteten, sie seien für uns Lehrer der Schlechtigkeit, aber keiner einzigen Tugend, will ich kurz sowohl über die Verfassung [politeuma] unseres Gemeinwesens als ganze als auch über sie in ihren Teilen sprechen, wie ich es dann vermag.

       Ich glaube nämlich, dass offensichtlich sein wird, dass wir zur Frömmigkeit und zur Gemeinschaft miteinander und zur Menschenliebe allgemein, darüber hinaus aber zur Gerechtigkeit und der Ausdauer in Mühen und der Verachtung des Todes die am besten niedergelegten Gesetze haben. Ich bitte aber, dass die, welche die Schrift lesen, die Lektüre nicht missgünstig machen. Denn nicht ein Enkomium auf uns selbst zu schreiben hatte ich mir vorgenommen, sondern ich meine, dass uns, die wir oft und falsch angeklagt werden, diejenige Apologie am meisten gerecht wird, die von den Gesetzen ausgeht, nach denen wir beharrlich leben. [2,145–147]

      Obwohl hier Josephus für die fünf Bücher Mose den Terminus politeuma benutzt, der in etwa Verfassung bedeutet, also ein Begriff, den wir dem Politischen bzw. der Staatsgewalt zuordnen, sind es die nomoi, aus denen sich die politeuma zusammensetzt. Häufig verwendet er nomos auch im Sinne des gesamten übergeordneten Objekts, der politeuma. Innerhalb der politeuma gibt es zwar Gesetze, doch man beachte deren Wesensarten: Es handelt sich um Gesetze, die sich auf Frömmigkeit, Gemeinschaft und Menschenliebe beziehen, auf Gerechtigkeit, auf Ausdauer in der Arbeit sowie auf die Todesverachtung. Bei näherer Betrachtung stellen wir fest, dass der gesamte Komplex – gleichgültig wie er ihn nennt, er hat mehrere Begriffe dafür – aus etwas besteht, das wir als „rituelle Gesetze“ oder „Führungsstrukturen“ einstufen könnten. Sie erzeugen wiederum eine gemeinschaftliche Verbundenheit und Nächstenliebe – und auch Gesetze im engeren Sinne (Recht) sowie einen vorgeschriebenen Ritus zur Verinnerlichung individueller moralischer Charakteristiken. Wir können weder einen Bestandteil dieses Ganzen herauslösen und ihn Gesetz, Politik oder Religion nennen, noch kann das Ganze mit einem solchen Oberbegriff benannt werden. Der Begriff nomoi hingegen umfasst all diese Kategorien und Praktiken und noch einiges mehr.

      In einer längeren Passage postuliert Josephus die Totalität des judäischen Gesetzeswerks sowie den Umstand, dass dieses allen Judäern zugänglich ist. Zu den griechischen Philosophen, darunter Platon und die Stoiker, die er alle als Schüler des wahren Gottes erkennt, schreibt er:

      Aber die, die vor Wenigen philosophierten, wagten nicht, der in ihren Meinungen voreingenommenen Masse die Wahrheit der Lehre zu veröffentlichen. Unser Gesetzgeber aber hat, weil er ja Taten vollbrachte, die mit den Worten übereinstimmten, nicht nur seine Zeitgenossen überzeugt, sondern pflanzte auch denen, die in Zukunft aus jenen hervorgehen würden, den unabänderlichen Glauben über Gott ein. Der Grund dafür ist, dass er sich auch in der Art der Gesetzgebung zum bleibenden Nutzen von allen anderen sehr unterschied, war: Er macht nicht die Frömmigkeit zu einem Teil der Tugend, sondern als einen Teil der Frömmigkeit fasste er das andere zusammen und setzte es fest; ich meine aber die Gerechtigkeit, die Besonnenheit, die Selbstbeherrschung, die Einstimmigkeit der Bürger untereinander in allem. Alle Taten und Beschäftigungen und alles Denken führen uns hin auf die Frömmigkeit zu Gott. Denn nichts von diesen ließ er unbeachtet oder undefiniert. [2,169–171]

      Wir stellen also Folgendes fest: Zunächst einmal werden die Vorstellungen Platons und der Stoiker als „Philosophien“ bezeichnet, die er nicht im Gegensatz zu den fünf Büchern Mose sieht, sondern auf derselben Ebene. Die Gesetzgebung der Tora sei im Gegensatz zu jener der großen Griechen so perfekt aufgebaut, dass ihre Empfänger auch den Gottesglauben verinnerlicht hätten, was den anderen aufgrund ihres esoterischen Charakters (nicht ihrer „Säkularität“) nicht habe gelingen können. In dieser Passage beginnt Josephus ‘ umfassender Vergleich der fünf Bücher Mose mit dem Brauchtum anderer Völker im Hinblick auf die Verinnerlichung von Werten ihrer Lehre. Zuvor bezeichnet er die judäische Gemeinschaft [politeuma] mittels eines Neologismus bereits als Theokratie [theokratia], als Prinzipat Gottes [2,165], also Gott, wie er sich in der Tora präsentiere – nicht als die Herrschaft der Priester, wie John Barclay in seinem Kommentar schreibt.38 Wie David Flatto gezeigt hat, handelt es sich praktisch um das Gegenteil von dem, was wir heute unter dem Begriff „Theokratie“ verstehen.39 Josephus erklärt hier den Mechanismus der Theokratie anhand seiner Theorie, dass die Tora die Tugenden durch eine Kombination von „Worten“ und „Riten“ vermittle und damit anderen Kulturen überlegen sei, weil diese versuchten, ihre Werte entweder allein durch Worte (Athen) oder durch Taten (Sparta) zu vermitteln. Für die Judäer sei eusebeia gegenüber Gott nicht nur eine von vielen Tugenden, sondern die wichtigste Tugend, die alle anderen Tugenden mit einschließe und präge. „Worte“ bedeuten hier wohlgemerkt nichts anderes als die geschriebenen „Gesetze“, die es zu studieren gilt, wie Josephus im nächsten Satz erläutert, während für „Taten“ steht, „durch Sitten erzogen [werden], nicht durch vernünftige Belehrungen [Worte]“ [ἔθϵσιν ἐπαίδϵυον, οὐ λόγοις] [2,172]. Josephus bezieht sich somit deutlich auf die Doppelpraxis, die sich später für das rabbinische Judentum als so charakteristisch erweisen wird, nämlich auf die Hingabe sowohl zum Tora-Studium, logois, als auch zur Ausübung