Kaplan verstand das Judentum nicht als Religion, sondern als eine sich weiterentwickelnde „religiöse Zivilisation“, die nicht nur rituelle, sondern auch kulturelle Aspekte wie Geschichte, Literatur und Künste umfasst. Für den Rekonstruktionismus gilt die Halacha nicht als festgelegt, sondern befindet sich in einem permanenten Prozess der Fortentwicklung. 1955 wurde die Jewish Reconstructionist Federation gegründet, die etwa 100 Gemeinden und Gruppen umfasst und drei Prozent des amerikanischen Judentums ausmacht. Vgl. Kaplan, Mordecai: Judaism as a Civilization: Toward a Reconstruction of American Jewish Life, New York 1934; siehe auch Dashefsky, Arnold; Sheskin, Ira: American Jewish Year Book 2013.
148Olmer: Wer ist Jude, S. 185.
149Benbassa, Esther; Attis, Jean-Christophe: Haben die Juden eine Zukunft? Ein Gespräch über jüdische Identitäten, Zürich 2002.
150Yerushalmi, Yosef Hayim: Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum, Berlin 1992, S. 28.
151Vgl. Deuber-Mankowsky, Astrid: Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen. Jüdische Werte, Kritische Philosophie, vergängliche Erfahrung, Berlin 2000.
152Olmer: Wer ist Jude, S. 193.
153Leibowitz, Jeshajahu: Gespräche über Gott und die Welt mit Michael Shashar in Jerusalem 1987, Frankfurt/Main 1990, S. 83.
154Ebd., S. 85.
155Ebd., S. 86.
156Ebd.
157Vgl. etwa: Blumenberg, Yigal: Psychoanalyse – eine jüdische Wissenschaft? Von den jüdischen Wurzeln der Psychoanalyse und der Abwehr von Tradition und Fremdsein, in: Forum der Psychoanalyse 12 (1996), S. 156–178, hier: S. 171.
158Olmer: Wer ist Jude, S. 159.
159Ebd., S. 187.
160Chalom, Adam: A Judaism for Secular Jews, in: Gitelman, Zvi (Hg.): Religion or Ethnicity? Jewish Identities in Evolution, New Brunswick; London 2009, S. 286–302.
161Der Begriff wird in Europa eher mit einer bestimmten Epoche der frühen Neuzeit verbunden, in den USA dagegen mit allgemein-weltlichen Aspekten der Kultur – so etwa beim Fächerbündel der „Humanities“, der den in Europa unter dem Namen Geisteswissenschaften firmierenden Fächern weitgehend entspricht.
162www.shj.org/, letzter Zugriff: 27. 05. 2016.
163Olmer: Wer ist Jude, S. 202.
164Von diesen ordnen sich 44 % dem Reformjudentum, 22 % dem konservativen, 14 % dem orthodoxen, 5 % anderen Bewegungen und 16 % gar keiner bestimmten Strömung zu.
1651 in 6 adult US Jews are converts, Pew study finds, in: Jerusalem Post, 13. 5. 2015.
166Zitiert nach Olmer: Wer ist Jude, S. 203.
167Dubnow: Diaspora, S. 130.
168Vgl. Tirosh, Yori: Adjudicating Women’s Exclusion in Israel: The Demise of Constitutional Law and the Rise of Private Law, in: ICON, International Journal of Constitutional Law 2017 (im Druck); siehe auch dies., Modesty on Parade, in: Haaretz, 2.6. 2017, S. 8.
169Olmer: Wer ist Jude, S. 193.
170DellaPergola: Israel and the Diaspora, S. 1084.
171Peck, Jeffrey M.: Being Jewish in the New Germany, New Brunswick; London 2006, S. 165.
172Ebd., S. 166.
173Poster, Mark: What’s the Matter with the Internet? Minneapolis; London 2001, S. 148 ff.
174Peck: Being Jewish, S. 167.
175Zitiert nach Olmer: Wer ist Jude, S. 203.
176DellaPergola: Israel and the Diaspora, S. 1087 f.
177Ebd., S. 2091 f.
Gab es in der griechisch-römischen Epoche ein „Judentum“?
Daniel Boyarin
Heute stellt sich oft die Frage, ob der Begriff „jüdisch“ eher einer Religion oder eher einer kulturellen Gemeinschaft (mit eigenen Gesetzen und Zugehörigkeitsmerkmalen) zuzuordnen ist. In den modernen Gesellschaften lässt sich der Begriff „jüdisch“ auf vielfache Weise auffächern: So gibt es „religiöse Juden“ (unterschiedlicher Ausrichtungen), „kulturelle Juden“ (die nicht in die Synagoge gehen, sich jedoch der Gemeinschaft der Juden zugehörig fühlen) oder auch „psychologische Juden“, wie der Historiker Yosef Hayim Yerushalmi am Beispiel von Sigmund Freud dargestellt hat (siehe hierzu auch den Beitrag von Christina von Braun, S. 15). Für die Antike ist eine solche Auffächerung schon aus dem Grund nicht möglich, weil für diesen Zeitraum kaum zwischen Religion und Kultur unterschieden werden kann. Seit etwa einem Jahrzehnt stellt sich die Forschung auf den Standpunkt, dass es nicht möglich ist, moderne euro-amerikanische Kulturinstitutionen auf antike oder nichtwestliche Gesellschaften zu projizieren. Als Paradebeispiel dafür gilt die „Religion“. Es wird immer deutlicher, dass das Konzept „Religion“ als eine von der „Politik“ getrennte, eigenständige Institution zu vollkommen irreführenden Interpretationen der genannten Kulturen führt. Der folgende Beitrag soll deutlich machen, dass es genauso falsch ist, den Juden der Antike eine „Religion“ zuzuschreiben wie den Römern, den antiken Griechen oder den Indianern. Diesem Gedanken folgend soll weiterhin gezeigt werden, dass es in der Antike kein „Judentum“ in unserem heutigen Sinne gegeben hat, da die Juden selbst zu jener Zeit kein Konzept dieser Art hatten.1 Die Verwendung des Terminus „Judentum“ für jene oder jede andere vormoderne Epoche ist ausgesprochen irreführend, da er unweigerlich suggeriert, es hätte eine separate „religiöse“ Sphäre gegeben, abgetrennt von dem, was wir heute „Politik, Wirtschaft und Gesetz“ nennen.
Das antike Judentum und seine Widersprüche
Ich beginne mit einer kurzen Analyse von Philip Davies’ Standardwerk On the Origins of Judaism,2 schicke aber voraus, dass durch die Annahme dessen, was nachfolgend verworfen werden soll, nämlich die Existenz eines wie auch immer gearteten „antiken Judentums“, übersehen wird, was die bedeutendsten Erkenntnisse dieses Werks sein könnten. Doch beginnen wir mit Davies’ Eröffnungsthese:
Das antike Judentum ist die religiöse Matrix der drei monotheistischen (oder monarchistisch-theistischen) Weltreligionen und neben der klassischen griechisch-römischen Kultur einer der beiden Ursprünge der westlichen Zivilisation.3
Das Problem liegt meines Erachtens bereits bei der Matrix dieses Satzes an sich, nämlich am Konzept „antikes Judentum“. Meint Davies hier den Kult des Alten Israel, wie er im Zweiten Tempel praktiziert wurde, also den Kult des Tempelstaates, den Jahud? Wenn das wirklich das „Judentum“ war, wie ist es dann möglich, dass dieses „Judentum“ sowohl die Matrix des „Judentums“ als auch einiger anderer Gemeinschaften ist, die nicht „Judentum“ genannt werden? Haben wir es hier mit einem ehelichen und zwei unehelichen Kindern zu tun? Diese Position vertritt Davies eindeutig nicht, denn schon im nächsten Satz merkt er an: „Nur weil das Judentum den Namen der Mutter annahm, ist es seinen Vorgängern deshalb nicht typologisch näher.“ (Das Samaritertum seiner Meinung nach hingegen schon.) In diesem Fall stellt sich die Frage, weshalb die „Mutter“ überhaupt als „Judentum“ bezeichnet werden soll, erscheint doch dieser Begriff in keiner der Quellen, die das Alte Israel erwähnen. Der Versuch, dessen angebliche „Religion“ als Judentum zu bezeichnen und somit zu suggerieren, dass die rabbinischen, mittelalterlichen sowie die modernen Arten des Judentums (selbst moderne Konstrukte) die direkten, echten (also typologisch nächsten) Nachkommen dieses Vorläufers sind, ist zweifellos ein legitimes apologetisches Unterfangen, doch hält es auch einer wissenschaftlichen Untersuchung stand? Schließlich scheint mir auch problematisch, das Samaritertum auf das „antike Judentum“ zurückzuführen, bezeichnen sich die Samariter doch nicht einmal selbst als Ioudaioi, sondern als Israeliten.
Natürlich ist Davies’ Darstellung viel zu komplex, als dass nach seiner Vorstellung das antike Judentum nur eine einzige Entität gewesen wäre (so spricht er mit Verweis auf das