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Handbuch Jüdische Studien


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dass sich die Kinder als Juden betrachten; ist dagegen der Vater jüdisch, so übernehmen nur 15 Prozent der Kinder seine Erbschaft. In Ehen, wo beide Eltern jüdisch sind, liegt der Prozentsatz bei 92 Prozent. Bei den Enkeln weitet sich die Schere noch.133 Hinzu kommen die generell niedrigeren Geburtenraten, vor allem in Europa. Die Kombination von niedrigen Geburtenraten und hoher Rate an „Mischehen“ führt insgesamt zu einem Rückgang der jüdischen Bevölkerung in der Diaspora, die noch erheblich verstärkt würde, sollte sich die von der Orthodoxie geforderte Einschränkung auf das Prinzip der Matrilinearität überall durchsetzen. Sie bewirkt laut Olmer, dass „das jüdische Volk täglich um 150 Personen schrumpft“.134 An sich kann nicht wirklich von einer Abnahme der jüdischen Bevölkerung die Rede sein, nicht einmal, wenn man den großen Verlust an Menschen durch den Holocaust bedenkt. Die jüdische Weltbevölkerung betrug 1900 10,5 Millionen, im Jahr 1939 16,5 Millionen; nach dem Holocaust wurde sie auf 11 Millionen geschätzt. Bis zum Jahr 2014 wuchs sie wieder auf 14,2 Millionen an. Der größte Teil des Wachstums fand unmittelbar nach 1945 statt. In nur 13 Jahren wuchs die jüdische Bevölkerung um eine Million Menschen, „aber es bedurfte weiterer 47 Jahre, um eine weitere Million hinzuzufügen“.135 Seit 1970 stagniert das Wachstum. Allerdings verdreifachte sich die Weltbevölkerung von 1945 bis 2014, und der Rückgang des jüdischen Anteils stellt in der Tat eine Gefahr für den Bestand des Judentums dar.

      So wundert es nicht, dass viele Juden, vor allem in der Diaspora, nun fordern, auch Kinder von jüdischen Vätern als Juden anzuerkennen. Diese Entscheidung, die sich – außer in Israel – durch keine staatliche Gesetzgebung bestimmen lässt, kann nur von den jüdischen Gemeinden selbst getroffen werden. Heinrich C. Olmer, der inzwischen verstorbene Vizepräsident des Landesverbandes der israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, veröffentlichte 2010 ein Plädoyer für die Zulassung der „jüdischen Vaterschaft“. Er konstatiert, dass das Judentum heute vor ähnlichen Fragen steht wie das Rabbinat vor 2000 Jahren – nur in Umkehrung. Olmer fragt: Können die alten Gesetze, die damals das Überleben des Judentums sicherten, heute noch diese Funktion erfüllen? Sind das Matrilinearitätsprinzip, das Verbot der Mischehe, die Verknüpfung von Religion, Ethnizität und Nationalität, der heutigen Situation noch angemessen? Seine Antwort:

      Es ist fraglich, ob mit dieser Position in der globalisierten, säkularen Welt des 21. Jh., eines pluralen Judentums und einer immens ansteigenden Mischehenrate die Menschen, die dem Judentum verbunden sind, aber von der Orthodoxie mit der starren Definition „Wer ist Jude?“ von der jüdischen Gemeinschaft ausgeschlossen werden, die Zukunft des jüdischen Volks gesichert werden kann.136

      In Deutschland plädiert, neben Heinrich Olmer, auch der Pädagoge und Judaist Micha Brumlik dafür, die patrilineare Abstammung als hinreichendes Kriterium der Zugehörigkeit zum Judentum wiedereinzuführen.

      Wenn es historischen Umständen geschuldet war, im 2. Jahrhundert gegen die biblischen Abstammungsregeln der Mischna die Matrilinearität einzuführen, sollte es gemäß dem Geist des rabbinischen Pragmatismus doch heute möglich sein, die Matrilinearität zwar nicht abzuschaffen, sie aber doch um die Patrilinearität zu ergänzen.137

      Die jüdische Gemeinde in Deutschland setzt sich heute zu einem großen Teil aus Juden zusammen, die nicht den halachischen Kriterien entsprechen: Seit 1990 kamen 220.000 sogenannte Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Israel, die USA und Deutschland nahmen 92 Prozent aller russischen ImmigrantInnen auf. Seit 2001 ist Deutschland das wichtigste Zielland, noch vor den USA und Israel.138 Die aus Russland immigrierten Juden machen heute 80 Prozent der deutschen Juden aus – das ist weltweit einmalig. Der Mitgliederbestand der jüdischen Gemeinden hat sich wegen dieser Immigration seit den 1990er Jahren verdreifacht. Die alteingesessenen Juden, die die neuen eigentlich „integrieren“ sollten, bilden heute eine Minderheit. Man vermutet, dass inzwischen 200.000 Juden in Deutschland leben, hat aber keine genauen Zahlen, weil viele (man schätzt ca. 100.000) keiner Gemeinde angeschlossen sind.139 Das liegt vor allem daran, dass die meisten jüdischen Gemeinden in Deutschland an den halachischen Gesetzen festhalten, sich die religiöse Zuordnung in Russland jedoch nach dem Vater richtete.140 Von den deutschen Behörden dagegen werden die immigrierten Juden als Juden anerkannt – eine widersprüchliche Situation, die für die Betroffenen vollkommen unverständlich ist.

      Die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft unterliegt also Kriterien, die sich von einem Land zum anderen unterscheiden können. Aus solchen Überlegungen heraus sind viele reformjüdische Gemeinden in den USA und Großbritannien sowie liberale Gemeinden in Deutschland dazu übergegangen, Kinder, die nur einen jüdischen Vater, aber keine jüdische Mutter haben, zu Bar Mitzwa und Bat Mitzwa zuzulassen, sofern sie jüdisch erzogen wurden. Am 15. März 1983 fasste das Committee for Patrilineal Descent der amerikanischen Reformgemeinden einen Beschluss, in dem es heißt: „Die Central Conference of American Rabbis erklärt, dass das Kind eines jüdischen Elternteils unter der Vermutung einer jüdischen Abstammung steht.“ Diese „Vermutung“ (es ist interessant, dass hier derselbe Begriff wie für die „Vaterschaftsvermutung“ verwendet wird) soll allerdings durch den Akt eines öffentlichen Bekenntnisses zum jüdischen Glauben und eine entsprechende Unterweisung ergänzt werden.141 Nahezu alle Gemeinden, die der World Union for Progressive Judaism angehören, haben die Positionen des amerikanischen Reformjudentums übernommen.142 „Jüdische Identität war nun weniger gegeben als wählbar. Kinder mit einem jüdischen Elternteil optierten für die jüdische Identität. […] Die Betonung verschob sich von der Geburt auf die bewusste Entscheidung.“143 Sogar in konservativen Gemeinden zeigen Umfragen, „dass 68 Prozent aller Befragten die patrilineare Abstammung unterstützen würden“.144 Insgesamt offenbart sich das Aufkommen einer neuen, „mehr individualistisch empfundenen jüdischen Identität außerhalb der etablierten jüdischen Strukturen“.145 Ähnliche Entwicklungen gelten auch für Großbritannien und Frankreich. Je nachdem, wie die jüdische Identität definiert wird – halachisch oder nach den Kriterien des Reformjudentums –, ergeben sich so erhebliche Differenzen in der Bevölkerungsstatistik.

      Für Kinder von jüdischen Vätern und nichtjüdischen Müttern findet immer öfter der Begriff „Halbjude“ Verwendung. Er erinnert natürlich an die nationalsozialistischen Bezeichnungen, doch während diese ausschließlich die „Blutslinie“ meinten, sind mit diesen „Halbjuden“ neue kulturelle Identitäten gemeint, die sich stärker an der Frage der jüdischen Erziehung orientieren. 2006 hat eine Gruppe um Robin Margolis das „halbjüdische Netzwerk“ ins Leben gerufen.146 Es fand bereits Anerkennung beim US-Reformjudentum und bei den „Rekonstruktionisten“ (siehe hierzu auch den Beitrag von Michael A. Meyer, S. 277).147 Eine Studie konnte nachweisen, dass im Großraum Boston 60 Prozent der Kinder aus Mischehen als Juden erzogen werden. Sie galten bisher als „halbjüdisch“, könnten nun aber ihren Einfluss auf eine neue Definition von „jüdisch“ geltend machen.148 Die französische Historikerin Esther Benbassa schreibt dazu: Die exogame Ehe bedeutet „nicht notwendigerweise den Austritt aus dem Judentum, sondern die Erfindung einer neuen jüdischen Identität, die es erlaubt, exogam zu heiraten, gleichzeitig Mitglied einer Gemeinde zu bleiben und diese Identität seinen Nachkommen weiterzugeben“.149 Manche reformjüdischen Gemeinden gehen inzwischen so weit, bei Mischehen die jüdische Mutter als Zugehörigkeitskriterium auszuschließen, wenn die Familie keine Erziehung zum Judentum garantiert. Eine solche Einstellung bedeutet potentiell, dass zwei völlig unterschiedliche, ja sogar konträre Definitionen von Judentum entstehen: eine halachisch-orthodoxe gegenüber einer kulturellen. Zum ersten Mal seit 2000 Jahren wird der gemeinsame Nenner aller jüdischen Gemeinden – das Prinzip der Matrilinearität – in Frage gestellt.

      Damit steht möglicherweise die Idee der Blutslinie überhaupt zur Disposition – eine Entwicklung, die sich schon im 19. Jahrhundert, mit dem Säkularisierungsprozess angebahnt hatte und ihren Ausdruck in neuen, weder religiösen noch ethnischen Definitionen jüdischer Identität fand. Im Zusammenhang mit Freud spricht Yerushalmi vom „psychologischen Juden“. Den klassischen jüdischen Texten entfremdet,

      spricht der psychologische Jude gern von unveräußerlichen jüdischen Zügen. Befragt man ihn weiter, so nennt er