Andere sprechen von „kulturellen Juden“, die zwar auch religionsfern sind, deren jüdische Herkunft aber dennoch eine wichtige Rolle spielt. Diesen „kulturellen Juden“, repräsentiert etwa durch Aby Warburg, Ernst Cassirer, Georg Simmel, Walter Benjamin oder Franz Kafka, verdankte das geistige Klima der Jahrhundertwende in Wien, Berlin oder Prag Impulse, die im Kontext einer geistigen Tradition des Judentums zu sehen sind; Impulse, die Ausbildung der Kritik- und Denkfähigkeit bedeuteten.151 Sie hatte viel mit der Tradition der mündlichen Exegese gemein, der Fähigkeit, verschiedene Interpretationen der Tora nebeneinander stehen zu lassen und den Widerspruch zu ertragen.
Im Moment scheint noch die Orthodoxie über die „Norm“ zu bestimmen, aber das gilt schon längst nicht mehr für die USA, und auch in England dürfte bis 2020 die Reformbewegung zur größten jüdischen Strömung geworden sein.152 Auch in den anderen Ländern der Diaspora bilden sich zunehmend nichtorthodoxe jüdische Gemeinden. Die Pluralisierung gilt auch für Deutschland, wo sich mittlerweile mehrere Strömungen herausgebildet haben, die von orthodox über konservativ bis zum liberalen Judentum reichen. Manche von ihnen werden in ein und demselben Rabbinerseminar ausgebildet. Über Jahrhunderte definierte sich das Judentum durch die Orthopraxie, die über Alltag wie religiöses Leben bestimmte. Dieser Aspekt des Judentums scheint nicht mehr den Bedürfnissen zu entsprechen. Jeshajahu Leibowitz (1903–1994) geht sogar so weit zu fragen, „ob das jüdische Volk vom halachischen Standpunkt aus überhaupt noch existiert.“153 Er sieht „ziemlich gute Überlebenschancen für bestimmte orthodoxe jüdische Gruppierungen, aber ich bezweifle doch, dass man darin die Fortexistenz der großen Geschichte des jüdischen Volkes sehen kann“.154 Die moderne Orthodoxie habe keine Antwort auf die aktuellen Probleme des jüdischen Volkes; sie habe „eigentlich kein Verständnis für diese Probleme“.155 Die Conclusio dieses großen Gelehrten, der einerseits moderner Naturwissenschaftler war und andererseits orthodox lebte und in Israel für eine strenge Trennung von Religion und Staat eintrat:
Wenn ich meine Worte zu diesem Thema zusammenfassen soll, dann muss ich sagen, dass die Zukunft des jüdischen Volkes mir wirklich nicht klar ist, nicht in Israel und nicht in der Diaspora. Möglicherweise gibt es für die innere Krise, die im 19. Jh. begonnen hat, wirklich keine Lösung.156
Allerdings, so muss man sagen, hat ein Gutteil jüdischer Denktraditionen auch in nichtjüdischer Umgebung Fuß gefasst – in der Philosophie gilt dies etwa für die Tradition der „Dekonstruktion“, für die vor allem der französische Philosoph Jacques Derrida stand. Und es gilt auch für die kulturtheoretischen Aspekte der Psychoanalyse.157 Auf beiden Gebieten stehen Widerspruch, Uneindeutigkeit, Flexibilität der Auslegung, wie sie für den Talmud bezeichnend sind, im Vordergrund. Auch das vernetzte Wissen des Internets, das sich aus Querverweisen und widersprüchlichen Informationen zusammensetzt, weist eine ähnliche Struktur wie der Talmud auf.
Zu den verschiedenen Strömungen innerhalb des Judentums kommen noch die Unterschiede zwischen dem Judentum in Israel und dem in der Diaspora. In Israel selbst ist keine einheitliche Definition jüdischer Identität zu erkennen: Laut einer Erhebung sind zehn Prozent der israelischen Juden ultraorthodox, elf Prozent „nationalreligiös“, jeder vierte bezeichnet sich als gemäßigt traditionell, vier von zehn als säkular.158 Da jedoch in Israel auch die Säkularen eher dem Reformjudentum zuzuordnen sind, kann hier noch von einer gewissen Zuordnung die Rede sein. Das gilt nicht für die Diaspora. Die Mehrheit der Juden in der Diaspora hat sich überhaupt keiner Denomination angeschlossen. Viele unter ihnen – in manchen US-Städten der überwiegende Teil – gehören keiner Synagogengemeinschaft an. In New York sind es nur 39 Prozent. „Man schätzt, dass ca. 2 Millionen amerikanischer Juden in Haushalten leben, die sich als nichtjüdisch identifizieren.“159 Daneben gibt es aber auch viele, die sich wegen ihrer Herkunft als „jüdisch“ oder aus anderen Gründen mit dem Judentum verbunden fühlen.
Das säkulare Judentum stellt die meist verbreitete Form moderner jüdischer Identität dar. So Adam Chalom, der den Versuch unternommen hat, diese Vielfalt zu definieren.160 Im Vordergrund dieses säkularen Judentums stehen ethische Definitionen wie etwa der Humanismus.161 Auf der Webseite der Society for Humanistic Judaism heißt es, dass viele Juden ihre jüdische Identität nicht in der Religion, sondern in „der historischen Erfahrung des jüdischen Volkes“ finden: „Das humanistische Judentum verschreibt sich einer Mensch-zentrierten Philosophie, die jüdische Kultur ohne übernatürliche Untermauerung feiert. Humanistische Juden schätzen ihre jüdische Identität und jene Aspekte jüdischer Kultur, die einen wahrhaftigen Ausdruck zeitgenössische Lebens bieten.“ So feiere man auch die jüdischen Feiertage und Zeremonien des Lebenszyklus, doch geschehe dies jenseits traditioneller Symbole und Liturgien.162 Das Recht, darüber zu entscheiden, wer Jude ist, gehöre den Juden selbst – eine Formulierung, die über die Paradoxie hinwegsieht, dass man nicht weiß, wer überhaupt ein Anrecht darauf hat, dieses Recht auszuüben. Oder aber die Formulierung will besagen: Jude ist, wer Jude sein will. Genau das war die Antwort, die Ben-Gurion erhielt, als er 1950 einen Fragebogen an Intellektuelle verschickte, in dem er sie nach der jüdischen Identität befragte. „Die Mehrheit der Befragten war der Ansicht, dass jeder, der sich als Jude oder Jüdin betrachtet, Teil des jüdischen Volkes sei.“163 Das Reformjudentum der Diaspora scheint sich weiter in diese Richtung zu bewegen. Symptomatisch dafür ist einerseits die Entstehung des Verbandes Circle of Secular Jews mit seinen Jews of no Religion, andererseits aber auch die Tatsache, dass laut einem Pew Report von Mai 2015 heute jeder sechste erwachsene Jude in den USA ein Konvertit ist.164 Die Konvertiten bezeichnen sich selbst als Jews by Choice – „Wahljuden“. Die Jerusalem Post, die im Mai 2015 über die Ergebnisse des Pew Reports berichtete, illustrierte die Nachricht mit einem Bild von Juden aus Brooklyn, die Purim feiern, sich also „verkleidet“ haben.165 Offenbar sollte mit dieser Illustration unterstellt werden, dass es sich bei der hohen Zahl von Konvertiten um „unechte Juden“ handelt.
Rabbi Walter Jacob, der 1930 in Augsburg als Sohn einer bedeutenden Rabbinerfamilie geboren wurde und 1938 mit seiner Familie in die USA floh, wo er zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten des liberalen Judentums wurde, konstatiert, dass die überwältigende Mehrheit der Juden in Nordamerika, Israel und dem Rest der Welt nur in einem ganz losen Sinne jüdisch ist. Dennoch formen diese Menschen
eine neue, in ethnischer Hinsicht unverwechselbare Jüdischkeit. Sie teilen ein kollektives, kultur-sittliches Gedächtnis und obwohl sie Maimonides, Buber oder dem Gaon von Wilna fernstehen, sind sie doch nicht verloren. Sie entwickeln eine jüdische Kultur, die auf losen Verbindungen zwischen Freunden beruht, auf dem Internet und einer unbestimmten Spiritualität. Diese Spielart der Jüdischkeit hält sich seit Generationen, vielleicht schon ein Jahrhundert lang.166
Er beschreibt damit ein kulturelles und psychologisches Verständnis von jüdischer Identität, das mit einer matrilinearen Blutslinie so gut wie nichts mehr gemein hat, aber Ausdruck eines neuen Verständnisses von Judentum sein könnte.
Für Simon Dubnow deckte sich die moderne Religionsvielfalt mit den unterschiedlichen Einstellungen des frühen 20. Jahrhunderts zu Diaspora und Zionismus: Während die Reformer in der Diaspora einen Vorteil sahen, der zur Verbreitung eines „ethischen Monotheismus“ beigetragen habe, beschwörten Orthodoxe den messianischen Gedanken, laut dem das jüdische Volk ohne eine Heimstatt in Palästina zum Untergang verdammt sei.167 Diese Zuordnung – Reformjudentum der Diaspora, Orthodoxie dem Zionismus – hat sich mit der Entstehung des Staates Israel zunächst nicht bestätigt (der Großteil des Zionisten war nicht religiös, geschweige denn orthodox), nimmt heute aber zunehmend Gestalt an. In den letzten 20 Jahren setzte sich in Israel zunehmend das Gedankengut der Orthodoxie durch, und es übt inzwischen auch Druck auf den majoritären Teil der Bevölkerung aus, der sich als säkular begreift oder einer liberalen Interpretation der Religion nahesteht.168 In der Diaspora ist die Entwicklung genau gegenläufig: In den USA und auch in England wächst die Reformbewegung und dürfte bald zur größten jüdischen Strömung geworden sein.169 Ähnliches gilt auch für die anderen Länder der Diaspora.
Die modernen Gesellschaften haben es mit zwei großen Neuerungen zu tun. Das eine ist die Globalisierung und eine damit einhergehende