Lebens als Jude. Wenn also mit Ioudaismos die Gesamtheit des judäischen Brauchtums und des judäischen Glaubens oder die jüdische Religion gemeint wäre, würde sich Paulus in diesem Vers selbst davon ausschließen. Wenn aber Paulus davon ausgeschlossen wäre, könnte Ioudaismos schlicht nicht als die vermeintliche jüdische Religion oder selbst als Bezeichnung für die Gesamtheit der Verrichtungen der Juden interpretiert werden. In seinen Schriften muss damit also die (von ihm abgelehnte) Befolgung der Gebote der Bibel gemeint sein. Ioudaismos, das „Judäisieren“ scheint also bei all diesen Erwähnungen zu bedeuten: sich (mit Eifer) der Praxis (der Traditionen der Vorväter) der Judäer hingeben. Jede andere Interpretation (wovon einige nur im jeweiligen Kontext möglich sind) würde heißen, die spätere Bedeutung von -ismus-Begriffen, wie etwa die Bezeichnung von Institutionen, zu adoptieren und sie anachronistisch auf Ioudaismos anzuwenden.
Kein Wort – kein Konzept
Mason schlussfolgert damit richtig:
Die Tatsache, dass die fünf Erwähnungen von Iουδαϊσμός in den jüdisch-judäischen Schriften weitgehend auf einen einzigen kreativen Autor zurückgehen, entweder Jason von Kyrene oder der Verfasser seiner Epitome, die das Wort als ironisches Gegenstück zu Eλληνισμός prägten, sollte uns davor warnen, das Wort so zu verwenden, als ob es sich um eine generelle Bezeichnung der gesamten Kultur, des gesamten Rechtssystems und der „Religion“ der Judäer handelte. Abgesehen vom Kontext der Bedrängnis durch die Hellenisierer und späterer christlicher Kreise, sahen antike Autoren keinen Anlass für dessen Verwendung, teilweise offenbar wegen des abschätzigen Nachklanges der Medismos-Familie, der Iουδαϊσμός auch angehaftet hätte, wenn es nicht im Kontrast zum klar negativ belegten Eλληνισμός benutzt worden wäre.30
Das überzeugendste von Masons Argumenten scheint das Argument der Seltenheit zu sein. Gäbe es eine verbreitete Bezeichnung für die Gesamtheit der judäischen „Verhaltensweisen, die der Tatsache geschuldet sind, dass jemand jüdisch ist und dass diese Verhaltensweisen einen Wert darstellen, für den es sich zu kämpfen und sogar zu sterben lohnt“, dann ist nicht einzusehen, weshalb es nur in so wenigen und so speziellen Kontexten wie im 2. Buch der Makkabäer und in sehr wenigen und sehr spezifischen anderen Kontexten zu finden ist.
Dieses gewichtige Argument der Nichterwähnung kann gewissermaßen noch positiv verstärkt werden. Der Historiker Duncan MacRea, der sich mit römischer Geschichte befasst, untersucht ein ähnliches (oder zumindest analoges) Problem der römischen Historiographie, nämlich die angebliche Tradition des Antiquarianismus, die einigen römisch-republikanischen Schriftstellern – besonders Varro – im Widerspruch zur antiken Historiographie zugeschrieben wird. Nachdem er gezeigt hat, dass es im antiken Latein keinen Terminus für Antiquarianismus gibt und dass ein solcher Begriff erst im 15. Jahrhundert bei frühen modernen Gelehrten auftaucht, bemerkt MacRea: „[…] doch die These, dass es keinen römischen Antiquarianismus gab, ist nicht nur nominalistischer Art, nämlich dass die Römer kein Wort dafür hatten. Hier soll vielmehr dargelegt werden, dass sie auch kein Konzept dieser Art hatten.“31 Eine nähere Betrachtung von MacReas deutlicher Behauptung wird uns helfen, die These dieses Abschnitts zu verdeutlichen.
Zunächst sei darauf hingewiesen, dass MacRea den Begriff „nominalistisch“ hier sehr weit fasst, wenn nicht gar metaphorisch verwendet. Man muss kein Nominalist sein und behaupten, dass sämtliche Kategorien nur dann existieren, wenn sie auch entsprechend benannt sind (z. B. „Hunde“, „Bäume“), um darzulegen, dass es für die Welt des Menschen, die Welt der menschlichen Klassifikationen menschlicher Dinge schwer vorstellbar ist, wie ein Konzept ohne Bezeichnung existieren kann. Genau das möchte ich im nächsten und letzten Abschnitt darlegen. Im vorliegenden Abschnitt soll aber, gestützt auf MacReas zweites Argument, erläutert werden, dass das Konzept „Religion“, und damit des „Judentums“, auch bei den griechischjüdischen Autoren nicht existierte.
Bevor ich weiterfahre, möchte ich mich kurz mit einem Irrtum und einer falschen Fährte in diesem Zusammenhang beschäftigen. Der Philosoph Malcolm Lowe behauptet, dass, trotz des Fehlens des Begriffs „Religion“ im Judäisch-Griechischen, das Konzept dennoch existiert:
Hier liegt das größte Problem von Masons Ansatz. Der zweite Abschnitt seines Aufsatzes von 2007 trägt den Titel „Auf der Suche nach Religion in der Antike [Searching for Ancient Religion] und ist der These gewidmet, dass ‚das Konzept der Religion, das unserer Perspektive und unserer Geschichtsforschung zugrunde liegt, keine taxonomische Entsprechung in der Antike aufweist‘. Ja, es gibt kein Wort dafür in der Antike. Doch Mason übersieht eine ebensolche taxonomische Entsprechung in seinem Zitat aus Josephus’ Gegen Apion auf derselben Seite. Die Formulierung, die Josephus benutzt ist: tois oikeiois nomois peri eusebeian. Eine ähnliche Terminologie ist bei antiken Autoren sehr verbreitet; anstelle von oikeios mag ein anderes Adjektiv stehen (und manchmal steht nomina statt nomoi). Solche Sätze können als ‚die althergebrachten Frömmigkeitsregeln‘ übersetzt werden, wobei ‚Frömmigkeit‘ das ‚Verhältnis der Menschen zu den Göttern‘ bedeutet, ‚Regeln‘ kann durch ‚Bräuche‘ und ‚althergebracht‘ durch eines von mehreren anderen Adjektiven ersetzt werden, das eine Volkszugehörigkeit bezeichnet. Die Apologie des Sokrates in den ersten Kapiteln von Xenophons Memorabilia basiert auf demselben Religionskonzept.32
Das klingt fast überzeugend. Es trifft selbstverständlich zu, dass eine Sprache ein Konzept nicht unbedingt mit einem einzigen Wort benennen muss, eine Wortgruppe oder ein Satz genügen auch. Nur stützt das Josephus-Beispiel von Lowes Interpretation in keiner Weise. Josephus schreibt in einer hinlänglich bekannten Passage:
[…] dass er [Moses] sich auch in der Art der Gesetzgebung zum bleibenden Nutzen von allen anderen sehr unterschied, war: Er machte nicht die Frömmigkeit zu einem Teil der Tugend, sondern als einen Teil der Frömmigkeit fasste er das andere zusammen und setzte es fest; ich meine aber die Gerechtigkeit, die Besonnenheit, die Selbstbeherrschung, die Einstimmigkeit der Bürger untereinander in allem [Gegen Apion, 2,170].
Mit anderen Worten, gerade diese angestammten Frömmigkeitsregeln klauben nicht irgendeinen speziellen Teil des judäischen Brauchtums heraus und nennen ihn Religion, sondern sie fassen alles zusammen: die Gerechtigkeit, die Besonnenheit, die Selbstbeherrschung und die Übereinstimmung der Bürger miteinander. Da für Josephus Frömmigkeit und mit dieser einhergehende Regeln zahlreiche Elemente umfassen, die wir als Gegenteil von „Religion“ auffassen würden, wäre es auch nicht sinnvoll, seinen Satz als Bezeichnung des Konzepts ‚Religion‘ in seiner Sprache zu verstehen.
Judentum ohne Namen? – Josephus
Es scheint kaum möglich, dass ein verbreiteter lexikalischer Begriff, der einen für Judäer/Juden obligatorischen Verhaltenskomplex bezeichnet, nicht in der umfangreichen Literatur judäogriechischer Autoren auftaucht, die ebendiesen Komplex darlegen und rechtfertigen. Die beiden bekanntesten griechisch-jüdischen Schriftsteller, in deren Schriften wir Ioudaismos erwartet hätten, sind zweifellos Philon und Flavius Josephus. Beide schildern ausführlich das Wesen des jüdischen Volkes sowie dessen Bräuche, und hätte es einen Oberbegriff für dieses Wesen gegeben, hätten sie diesen bestimmt angewandt. Dabei kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass Josephus das 2. Buch der Makkabäer kannte.33 Wenn er Ioudaismos als „Judentum“ verstanden hätte, also die angebliche jüdische Religion, oder auch als einen Begriff für jüdische Kultur und Brauchtum im Allgemeinen verwendet hätte – warum hat er dann den Begriff nicht in seinem Werk benutzt? Dieses Argument bestärkt Masons These beträchtlich. Und es geht hier um mehr als nur die Nichterwähnung. Nachfolgend soll am Beispiel des Josephus gezeigt werden, dass die Worte, die er benutzt, um den gesamten Komplex des judäischen Brauchtums zu beschreiben, diesen Komplex auf die Ebene anderer Völker stellen. Er begreift somit die Judäer nicht als singuläre Gemeinschaft, ganz im Gegensatz zu Amir, der behauptet: „Im gesamten hellenistisch-römischen Kulturraum gibt es, soweit uns bekannt ist, keine andere Nation, Gemeinschaft oder Gruppe, die sich veranlasst sah, eine übergeordnete Bezeichnung für das gesamte praktische und kognitive Brauchtum, zu dem sich die Mitglieder der Gruppe bekennen müssen, zu prägen, außer das Volk Israel.“34
Politeia; Nomos; Ta Patria Ethē bei Josephus
Josephus