Autoren der rabbinischen Literatur war es wichtig, die Doppelspur von schriftlicher und mündlicher Tora bis auf die Offenbarung am Sinai zurückzuführen. Hierzu findet sich ein aufschlussreiches Kapitel mit dem Titel Pirke Avot/„Sprüche der Väter“ in der Mischna.8 Es liest sich wie ein Who is Who der Gründerväter des rabbinischen Judentums. Nacheinander zählt es die wichtigen Protagonisten auf und zitiert sie mit ihnen zugeschriebenen ethischen Aussagen. Gleich im ersten Satz wird deutlich, dass sich die Autoren des rabbinischen Schrifttums in direkter geistiger Nachfolge von Moses verstehen.
Moses empfing die Tora am Sinai und überlieferte sie dem Josua, Josua den Ältesten, die Ältesten den Propheten und die Propheten überlieferten sie den Männern der Großen Versammlung. Diese sagten drei Dinge: Seid überlegt bei euren gerichtlichen Entscheidungen; stellt viele Schüler auf; macht einen Zaun um die Tora.9
Die „drei Dinge“ – als Richter nach den Gesetzen der Tora zu entscheiden, als Lehrer viele Schüler zu unterweisen und als Mitglieder dieser geistigen Elite die Definitionsmacht (= „Zaun“) über die Tora auszuüben – drückt die rabbinische Selbstermächtigung aus. Der Passus lässt die einstige Kontroverse erahnen. Es geht um die Legitimation der Rabbinen, die Tora zu „empfangen“, sie nach ihrem Verständnis zu interpretieren und der nächsten Generation weiterzugeben. Gemeint ist danach jedoch nicht nur die schriftliche, sondern gerade auch die mündliche Tora.
Dass sich die rabbinische Vorstellung, nach der beide Versionen der Tora zusammen am Sinai gegeben wurden, nicht ohne Weiteres durchsetzte, wie die oben angeführte talmudische Anekdote erkennen lässt, liegt auf der Hand. Die Vorstellung von der Gleichzeitigkeit einer schriftlichen und einer mündlichen Tora war unter den Juden in der Antike lange umstritten. Denn die Herausbildung einer zusätzlichen „mündlichen“ Tora verknüpfte sich auch mit einer neuen religiösen Praxis: Text- und Gesetzesstudium in Lehrhäusern (Beit Midrasch), Gottesdiensten in Versammlungshäusern (Beit Knesset, Synagoge) sowie einer Rechtspraxis in rabbinischen Gerichtshäusern (Beit Din), die die Gerichtsbarkeit der Priester und des Tempels verdrängte. Demgegenüber hielten die „konservativen“ Sadduzäer am Privileg der Priester und dem althergebrachten Tempelsystem fest. Sie bekämpften die Pharisäer, die in Pirke Avot als die Vorläufer der Rabbinen aufgeführt werden. Mit dem verlorenen Krieg gegen das Römische Reich und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 setzte sich jedoch das rabbinische Judentum mit seinem besonderen Tora-Verständnis endgültig durch.
Der Paradigmenwechsel: Esra – Schriftgelehrter und Exeget
So wie die schriftliche Tora für Juden noch nicht die ganze Tora darstellt, ist es ebenso unverzeihlich zu meinen, das sogenannte Alte Testament sei schon das Judentum. Die Bibel hat für Juden immer die unsichtbare Gefährtin der rabbinischen Literatur. Erst in der Verbindung mit der rabbinischen Literatur, erst im Lichte ihrer Interpretation, erhält die Bibel ihre Bedeutung für die jüdische Tradition. Streng genommen müsste man jedoch im Plural sprechen. Hinter der Gefährtin der Bibel stehen tausende von Rabbinen, deren Stimmen quer durch die Generationen im rabbinischen Schrifttum vereinigt sind. Wo aber nahm diese Doppelspur von Bibel und rabbinischer Literatur ihren historischen Anfang?
Die rabbinische Darstellung der eigenen Ursprünge zieht, wie oben angeführt, eine Linie zurück bis zu Moses. Demgegenüber würde die historisch-kritische Methode der Bibelwissenschaft den Beginn der Doppelspur in die Zeit von Esra im 5. Jahrhundert v. u. Z. legen, als die exilierten Juden aus der babylonischen bzw. persischen Gefangenschaft zurückkehrten. Einige von ihnen hatten noch die Zerstörung des Ersten Tempels in Jerusalem erlebt. Erstaunlicherweise bedeutete der Verlust des einstigen zentralen Heiligtums, immerhin das Haus Gottes, in dem die regelmäßige kultische Begegnung des Volkes Israel mit seinem Gott praktiziert worden war, nicht das Ende dieser Begegnung. Der Talmud beschreibt die fortgesetzte Beziehung als die „Einwohnung“ Gottes, die Schechina,10 die stets mit den Israeliten ins Exil gezogen sei.11 Im Exil aber verlagerte sich der Ort der Begegnung vom einstigen Zentrum, dem Tempel in Jerusalem, in den heiligen Text. Die Begegnung sollte nunmehr stattfinden als der Umgang mit einer Tora, die Juden überall hin mitnehmen konnten und durch die sie miteinander verbunden blieben. Diese Politik des heiligen Textes, die sie aus dem babylonischen Exil zurückbrachten, sollte in den späteren Jahrhunderten das Überleben des jüdischen Volkes in der Diaspora möglich machen (siehe hierzu auch den Beitrag von Liliana Feierstein, S. 99).
Die beiden biblischen Bücher Esra und Nehemia bezeugen einen Paradigmenwechsel, der in seiner Tragweite kaum zu überschätzen ist. Schon Esras Titulierung verwies in die neue Epoche. Zwar wird er in der Bibel zunächst als kohen harosch/„Hauptpriester“ eingeführt, was ihn als Vertreter des alten Systems, des priesterlichen Tempelkultes zu bestätigen scheint.12 Doch sein persönlicher Titel im Buch Esra ist ein anderer: Nicht kohen, sondern sofer – „Schreiber“ oder „Schriftgelehrter“. „Dieser Esra war heraufgezogen von Babel, er war ein kundiger Schriftgelehrter (sofer) der ‚Tora von Moses‘, die der Ewige, der Gott Israels gegeben.“13 Im Folgenden changieren Esras Titel: „Und das ist die Abschrift des Briefes, den der König Artachschascht gegeben Esra, dem Priester (ha-kohen), dem Schriftgelehrten (ha-sofer), Schreiber (sofer) der Worte der Gebote Gottes und seiner Satzungen für Israel.“14
Die „Tora von Moses“, die Esra dem biblischen Bericht zufolge nach Jerusalem mitgebracht hatte, könnte im Großen und Ganzen dem Text der Tora entsprochen haben, der heute in den Synagogen gelesen wird. Vermutlich war er unter Esras Redaktion oder in seinem Umfeld zusammengestellt worden. Sicherlich spiegelte sich aber in seiner Zusammenstellung Esras Auffassung von dem wider, was er als heiliger Text fortan geistig und politisch für die jüdische Gemeinschaft leisten sollte.15 Mit Hilfe eines gemeinsamen Dokuments sollten die vormals konfligierenden Traditionen auf ewig vereinigt und auf diese Weise die einstigen Gräben zwischen dem Nordreich Israel und dem Südreich Judäa mit ihren verschiedenen Priestergruppen überwunden sein. Der zusammengewirkte Text der Tora enthielt dadurch jedoch zahlreiche unterschiedliche Akzente, wenn nicht Widersprüche, bis hin zu konträren Weltanschauungen. Das machte ihn für alle Zukunft erklärungsbedürftig. Vielleicht war es von Esra so gewollt. In jedem Fall manifestierte sich in der inneren Spannung der Tora ein neues Paradigma: Die religiöse Tradition ließ sich nicht mehr nur als Befolgung der Gebote verwirklichen, sondern verlangte zunächst vor allem eine Auslegung ihres Textes.
Seit dem 18. Jahrhundert hat die historisch-kritische Bibelanalyse mindestens fünf miteinander verwobene Texttraditionen in der Tora unterscheiden können: Die elohistische Tradition (E) und die Tradition des Tetragramms JHWH (J) sowie eine zusätzliche Tradition, die beide Gottesbezeichnungen als JHWH Elohim (JE) kombiniert, ferner die Priesterschrift (P), die die gesamte Schöpfung durch die Strukturzahl Sieben erklärt, sowie eine deuteronomistische Tradition (D), die auf ein zentralisiertes System mit dem Tempel in Jerusalem als Mittelpunkt abzielt.16 Für sich genommen und gegeneinander gelesen offenbaren die fünf Texttraditionen große inhaltliche Unterschiede. Fast unvereinbar erscheinen vor allem die Bücher Levitikus und Deuteronomium.17 Im Buch Deuteronomium spiegelt sich ein „deuteronomistischer“ Kanon innerhalb der Bibel. Dieser reflektiert die Transformation der israelitischen Stämme zu einem Königeich und besteht neben Deuteronomium aus den historischen Büchern Josua, Richter, Samuel (I. u. II) sowie Könige (I. u. II.). Eines der treibenden Anliegen des deuteronomistischen Kanons ist die Frage nach dem Status des Königs unter den Bedingungen einer Weltanschauung, nach der allein Gott König über sein Volk ist.18 Demgegenüber kommt die Institution eines Königs in Levitikus nicht vor, was sich sowohl in einer oppositionellen Spannung zu Deuteronomium lesen lässt, als auch die nachexilische Situation widerspiegeln könnte, in der Juden zwar nach Jerusalem zurückgekehrt waren und ihren Tempelkult ausüben durften, jedoch keine politische Souveränität besaßen. Einen anderen politischen Akzent setzt wiederum das vierte Buch/Numeri als Schauplatz von Konflikten zwischen verschiedenen levitischen Eliten. Sie werden in mythischen Erzählungen verarbeitet, die während der 40-jährigen Wüstenwanderung stattgefunden haben sollen, aber durchaus an das Ringen um die religiöse Vormachtstellung in der Zeit der Königreiche erinnern – etwa der Bericht über den Aufstand der „Rotte Korach“ zusammen mit den Familien von Datan und Abiran,19