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Handbuch Jüdische Studien


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mich dir nach, lass uns laufen‘ (Hld 1,4).57

      Mindestens zwei Stimmen in der halachischen Diskussion

      Dem rabbinischen Diskurs kam es offensichtlich nicht darauf an, die eine einzig geoffenbarte Wahrheit herauszufinden. Das gilt nicht nur für die aggadische Exegese, sondern auch für die Diskussion über die Halacha, die jüdische Rechts- und Gesetzestradition.

      Warum erwähnt man die Worte Schammais und Hillels auch dann, wenn sie aufgehoben wurden? Um die kommenden Geschlechter zu belehren, dass niemand auf seiner Meinung beharren solle, da doch die größten Lehrer nicht auf ihrer Meinung beharrten. Und warum erwähnt man die Ansicht des Einzelnen gegen die Mehrheit, da doch die Halacha nur nach den Worten der Mehrheit entschieden wird? Damit, wenn einem Gerichte die Ansicht des Einzelnen einleuchtet, es sich darauf stützen könne.58

      Noch einmal zur Struktur des rabbinischen Schrifttums: Die „schriftliche Tora“ ist die Basis des Tanach. Ihm zugeordnet sind die Midraschim, die rabbinischen Auslegungen. Die ursprünglich „mündliche Tora“, d. h. die Mischna mit ihren sechs Ordnungen von Gesetzessammlungen, ist wiederum die Basis des Talmuds, auf den im Folgenden noch eingegangen wird. Beide – Midraschim und Talmud – überschneiden sich bis zu einem gewissen Grad und das sowohl in den Diskussionen mit aggadischen, d. h. erzählerischen Beispielen, als auch den Diskussionen über die Halacha, die jüdische Gesetzespraxis.

      Der Begriff Halacha kam im Tanach noch nicht vor. Dort ist von chukim u-mischpatim/„Gesetzen und Satzungen“ oder von zedek u-mischpat/„Gerechtigkeit und Recht“ die Rede. Erst im rabbinischen Schrifttum tritt der Begriff Halacha auf. Er enthält den Verbstamm h–l–ch von „gehen“ und ist der Oberbegriff für die jüdischen Gesetze und Normen. Anders als die im Pentateuch von Gott vorgeschriebenen „Gesetze und Satzungen“ ist die Halacha das Ergebnis der rabbinischen Rechtsdebatten.

      Es ist die Frage, warum das rabbinische Schrifttum gerade in seiner halachischen Dimension zu einer Form gelangte, in der nicht ein einzelner Autor im Sinne eines durchstrukturierten großen Wurfs das gesamte argumentative Gerüst darstellt, sondern eine generationenübergreifende Autorenschaft von hunderten Rabbinen aus verschiedenen Zeitaltern, Schulen und Argumentationstraditionen mit knappen Statements, argumentativen Verweisen und kurz gehaltenen Zitaten so viel wie möglich Stimmen zu Gehör bringt. Jacob Neusner sieht in der besonderen rabbinischen Dialektik eine ideale Methode, um einen größtmöglichen Radius an Wissen zu erzeugen und es unter den Bedingungen der Diaspora zu erhalten. Es sei auch eine Überlebensstrategie. Das bedeutete jedoch, dass kein Gelehrter allein die Wahrheit ausdrücken könne.

      Schon die bereits erwähnten Pirke Avot/„Sprüche der Väter“ präsentieren die jüdischen Gelehrten von vornherein in einer inhaltlichen Spannbreite. Auf den Einstieg, der bis auf Moses zurückführt, folgt ein erster Name – Simon der Gerechte. Mit diesem Namen wird in eine konkrete Zeit verwiesen; von hier ausgehend entfaltet sich eine Liste von weiteren bekannten Protagonisten, die das Feld des rabbinischen Schrifttums bereiteten. „Simon der Gerechte war von den letzten der großen Versammlung. Er pflegte zu sagen: ‚Auf drei Dingen besteht die Welt: auf der Tora, auf gottesdienstlicher Arbeit und auf Liebeswerken.‘“59

      Simon war der vermutlich älteste, namentlich bekannte Pharisäer. Der Talmud erzählt über seine Begegnung mit Alexander dem Großen. Auch wenn es sich möglicherweise nur um eine Legende handelt, bekundet sie die große gegenseitige Hochachtung des jüdischen Schriftgelehrten und des immerhin von Aristoteles unterwiesenen Kulturträgers Griechenlands.60 Mancher Talmudforscher sieht in dieser Geschichte eine Reflexion auf die geistige Geburt einer „jüdischgriechischen“ Tradition, die später – vermittelt über das Christentum – Europa gestaltete.61 Der rabbinische Anteil darin entwickelte sich in einer Kultur dialektischen Streitens, was grundsätzlich mindestens zwei verschiedene Positionen voraussetzt. Dementsprechend fährt das Kapitel Pirke Avot fort: Simon überlieferte die Tora an Antigonos, den Gelehrten aus Socho. Auf Antigonos folgen nun die Sugot/die sogenannten Paare – jeweils zwei Protagonisten, zwei Stimmen in einer Generation, mit jeweils zwei unterschiedlichen Einstellungen.62 Jossi, Sohn des Jo’eser, Gelehrter aus Zereda, und Jossi, Sohn des Jochanan, Gelehrter aus Jerusalem, empfingen die Tora von Antigonos:

      Jossi, Sohn des Jo’eser, sagt: Dein Haus sei eine Versammlungsstätte für die Weisen, lasse dich vom Staub ihrer Füße bedecken und trinke durstig ihre Worte. Jossi, Sohn des Jochanan, Gelehrter aus Jerusalem, sagt: Dein Haus sei weit offen; Arme sollen deine Hausgenossen sein; mehre kein Geschwätz mit der Frau.63

      Als nächstes Paar empfingen Jehoschua, Sohn des Perachja, und Nitai aus Arbel die Tora von ihren Vorgängern:

      Jehoschua, Sohn des Perachja, sagt: Bestimme dir einen Lehrer, verschaffe dir einen Freund und beurteile jeden Menschen zum Guten. Nitai aus Arbel sagt: Halte dich fern von einem bösen Nachbarn; verbinde dich nicht mit einem Bösen; meine nicht, dass Böses ungestraft bleibt.64

      Hierauf folgen Jehuda, Sohn des Tabai, und Simon, Sohn des Schatach.65 Sodann Schmaja und Awtaljon.66 Die Aufzählung führt auch zu Hillel und Schammai.67 Hillel wird u. a. zitiert mit seinem berühmten Diktum: „Sorge ich nicht für mich, wer wird für mich sorgen? Sorge ich nur für mich allein, was bin ich dann? Wenn nicht jetzt, wann denn?“

      Und Schammai: „Mache dir das Torastudium zur Hauptsache; versprich wenig, doch tue viel; empfange jeden Menschen mit freundlichem Gesicht.“

      Spätestens mit den Namen von Hillel und Schammai ist die Liste bei den halachischen Disputen angelangt. Wie kein anderes Paar personifizierten sie das rabbinische Ideal der produktiven Streitkultur. Hillel galt als der Nachsichtigere, Schammai als der Rigorosere. Regelmäßig führt der Talmud die beiden Schulen an und verweist damit in die einstigen halachischen Kontroversen. Die Auffassungen der Schule Hillels in Bezug auf die Halacha erhielten autoritative Gültigkeit, trotzdem nennt der Talmud auch die Auffassungen der Schule Schammais:

      Drei Jahre stritten die Schule Schammais und die Schule Hillels: eine sagte; die Halacha sei nach ihr zu entscheiden, und eine sagte, die Halacha sei nach ihr zu entscheiden. Da ertönte eine Hallstimme und sprach: Diese und auch diese sind Worte des lebendigen Gottes (elu we-elu diwrei elohim chajim); jedoch ist die Halacha nach der Schule Hillels zu entscheiden. – Wenn aber [die Worte] der einen und der anderen Worte des lebendigen Gottes sind, weshalb war es der Schule Hillels beschieden, dass die Halacha nach ihr entschieden wurde? – Weil sie verträglich und bescheiden war, und sowohl ihre eigene Ansicht als auch die der Schule Schammais studierte; noch mehr, sie setzte sogar die Worte der Schule Schammais vor ihre eigenen.68

      Elu we-elu diwrei elohim chajim – „Diese und auch diese sind Worte des lebendigen Gottes“. Auch wenn die Entscheidungen der Schule Hillels Gesetzesgültigkeit erhielten, scheute sich der Talmud nicht, die Entscheidungen Schammais mit aufzuführen.

      Auf die Sugot in den Pirke Avot folgte eine immer verzweigtere Mehrstimmigkeit im Talmud. Zugleich setzte sich das Schema der zwei großen Stimmen in jeder Generation bis zuletzt fort.69 Im Babylonischen Talmud sind es die Gelehrten Rav und Samuel, die die großen halachischen Diskussionen im 2. und 3. Jahrhundert bestimmen. Rav, als dem spirituelleren der beiden, folgte die Halacha in kultischen Fragen. Demgegenüber hatte Samuel in gesellschaftspolitischen Fragen die halachische Autorität. Von ihm stammt das berühmte Diktum dina de-malchuta dina – „Das Gesetz des Staates ist das Gesetz [auch für die Juden]“.70 In der nächsten Generation setzten Raba und Abaje zwei verschiedene Akzente. Von Raba als dem Rationaleren, der die Halacha auch auf die neuen ökonomischen Bedingungen abstimmte, stammt ein weiteres berühmtes Diktum. Es stellt logisches Denken, ethisches Verhalten in Wirtschaftsfragen, Optimismus, Liebemachen und Tora-Studium gleichwertig in eine Reihe:

      Raba sagte: Wenn man den Menschen zu Gericht bringt, fragt man ihn: Hast du deinen Handel in Redlichkeit betrieben? Hast du Zeiten für die Tora festgesetzt? Hast Du die Fortpflanzung ausgeübt? Hast du auf das Heil gehofft? Hast du über Weisheiten diskutiert? Hast du verstanden, [logisch] Sache aus Sache zu folgern? Aber: ‚der Respekt vor Gott ist sein Schatz‘.71

      Talmud-Tora

      Nicht