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Handbuch Jüdische Studien


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im Original galut steht. Mit dem Neologismus Diaspora übersetzten die Gelehrten verschiedene hebräische Begriffe – jedoch nicht galut bzw. Worte aus der hebräischen Wurzel glh.8 Einige Autoren bevorzugen Diaspora als Übersetzung von tfutzot (im Sinne von Zerstreuung, sowohl als Prozess, als conditio, als auch in Bezug auf die verstreuten jüdischen Gemeinden) und behaupten, es handele sich dabei um eine positive, freiwillige Entscheidung und einen Gegenbegriff zu galut als negativ konnotiertes Exil (und biblische Strafe) – wobei tfuzot in der Tora ebenfalls als Strafe für die Nichtbefolgung von Gottes Gebot genannt wird.9

      Eine derartige Unterscheidung von galut und tfutzot wird indes weder der Vielfalt und Polysemie der Begriffe noch ihrer Genealogie gerecht. In dem monumentalen etymologischen Werk von Eben Shoshan sind interessanterweise u. a. folgende Bedeutungen unter golah aufgeführt:

      1. Ausreise/Migration aus dem Geburtsland (eretz ha’moledet), Auszug in ein fremdes Land.

       2. Tfutzot Israel in verschiedenen Ländern sowie die Länder, in die das Volk (ha’am) vertrieben wurde.

       3. Die Kinder der golah (bnei ha’golah).10

      Unter dem Eintrag tfutzot ist wiederum zu lesen: „Im übertragenen Sinn: golah, galut, makom (Ort) oder eretz (Land), wohin die Menschen vertrieben worden sind: tfutzat tejman (Jemen), tfutzat polin (Polen).“11 Hieran wird deutlich, dass die beiden Begriffe nicht klar voneinander abzugrenzen sind und sogar im Konzept des jeweils anderen erwähnt werden.

      Verwirrend sind nicht nur die Vermischung von galut und tfutzot, sondern auch die Beschreibungen und Definitionen von Geburtsland (eretz moledet). Wie bereits erwähnt, lautet Gottes Befehl an Abram12: lech lecha me’arzecha ve’moladetecha umi’beit avicha, el ha’arez ascher arecha („Ziehe hinweg aus deinem Lande, deinem Geburtsorte und deines Vaters Haus in das Land, das ich dir zeigen werde.“13). Hier steht unmissverständlich „ziehe hinweg aus moladetecha, deinem Geburtsorte“, doch das Gelobte Land wird nicht zu arzecha (deinem Land), denn Generationen später, bei der Ankunft in Israel, eröffnet Gott seinem Volk, dass es hier lediglich zu Gast sei, denn „das Land ist mein. Ihr seid nur Fremdlinge und Geduldete auf meinem Boden“.14 Es ist diese Paradoxie aus (De-)Territorialisierung und dem komplexen Wechselspiel aus Vergangenheit (Land der Vorväter und Götzendiener, Geburtsland) und Zukunft (das Gelobte Land, Monotheismus), die den Reichtum dieser Begriffe ausmacht. Die Paradoxie ist zudem mit dem messianischen Zeitbegriff verbunden, der sich im Althebräischen grammatikalisch u. a. in einem Buchstaben – dem sogenannten Waw conversivum (dem „umkehrenden Waw“, waw ha-hipukh) – ausdrückt, der die Zukunft in die Vergangenheit „umkehren“ kann.

      In Anbetracht dieser komplexen jüdischen Raum- und Zeitvorstellungen hat Yosef Hayim Yerushalmi eine spannende Deutung von galut vorgeschlagen: die Dialektik von Exil und Domizil.15 Obwohl die wiederholten kollektiven Exile der jüdischen Geschichte mit zahlreichen Katastrophen verbunden waren, so haben sich dennoch viele der Exilgemeinden mit den Jahren (wie z. B. im emblematischsten aller Exile, dem babylonischen) in Horte geistiger Blüte und materieller Prosperität verwandelt und die Spuren der Gewalt mit positiven Erfahrungen vermischt. Die Vertreibung und die damit einhergehenden Gefühle der Niederlage und Trauer sind seitdem im kulturellen Gedächtnis verankert – innerhalb einer Realität, die jedoch gänzlich andere Konturen aufweist. Denn „Exil und Domizil“ stehen, wie Yerushalmi betont, „nur oberflächlich betrachtet miteinander im Widerspruch. Tatsächlich haben sie oft in einem dialektischen Spannungsverhältnis koexistiert“.16 Man fühlte sich religiös im Exil, existenziell aber zu Hause.

      Schon der große jüdische Historiker Simon Dubnow hatte die jüdische Diaspora als „kulturelles Ferment und Fortschrittskraft“ einer Gesellschaft geschildert (diese Metapher für eine kulturelle Minderheit, die innerhalb der Mehrheitsgesellschaft eine erstaunliche Kraft und Wirkungsmacht entfaltet, wird sich wie ein roter Faden durch die jüdische Literatur und Publizistik ziehen). Dubnow erinnert daran, dass die jüdische Diaspora, obwohl sie in den Quellen oft als Strafe und Unglück beschrieben wird, von mittelalterlichen Kommentatoren wie Raschi als eine Chance gesehen wurde, nicht nur die Samen des Monotheismus in der ganzen Welt zu zerstreuen, sondern auch als Möglichkeit zu überleben: Ein verstreutes Volk kann nicht mit einem Schlag ausgelöscht werden.17

      Diese Überlegungen Simon Dubnows wurden in Form eines Eintrags in der Encyclopaedia of the Social Sciences 1931 veröffentlicht. Es ist kein Zufall, dass gerade Simon Dubnow als Erfinder des „Diaspora-Nationalismus“, der auf autonome jüdische Gemeinden innerhalb anderer politischer Ordnungen zielte, gebeten wurde, diesen Eintrag zu verfassen. Auf den ersten Blick wirkt der Inhalt etwas verwirrend, denn Dubnow führt zunächst die griechische und anschließend die armenische Diaspora an, bevor er auf die jüdische Geschichte eingeht: „Diaspora has its equivalents in the Hebrew word galut (exile) and golah (the exiled).“18 Die theoretischen Diskussionen der letzten Jahre vertreten indes genau das Gegenteil – dass Diaspora und galut (Exil) nicht äquivalent seien, da Diaspora eine nicht erzwungene Zerstreuung bezeichne.19

      Der zweite in die Encyclopaedia aufgenommene Beitrag zu diesem Thema erscheint unter dem Lemma „Exil“ und wurde von dem italienischen Geschichtsphilosophen Guido De Ruggiero verfasst. De Ruggiero bezieht sich darin auf die griechisch-römische Tradition des exilium, der Verbannung in die Fremde – zunächst als Möglichkeit, um einer Todesstrafe zu entgehen. Bei einem Vergleich der beiden Aufsätze treten die Unterschiede deutlich zutage, denn De Ruggiero stellt die individuelle Perspektive in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen: Exil als individuelle (mildere) Strafe aufgrund eines Verbrechens (oder aus politischen Gründen). Interessanterweise stammt der älteste der zitierten Präzedenzfälle aus der Tora – wobei der Exil-Begriff in diesem Kontext nichts mit galut gemein hat, sondern auf „Flucht-Städte“ (arej miklat) verweist, in denen einzelne Personen, die ungewollt jemanden getötet haben, Asyl finden konnten, um der Rache der Angehörigen zu entgehen. Lediglich am Ende des Artikels behandelt De Ruggiero den Fall des kollektiven Exils aus politischen Gründen – in der damaligen Zeit ein aktuelles Thema, angesichts des bereits bestehenden faschistischen Regimes unter Benito Mussolini in Italien.

      Galut ist, anders als Exil, immer kollektiv zu verstehen. Nicht eine Handlung (oder politisches Denken) wird bestraft, sondern ein Teil eines Volkes (unabhängig davon, wie die einzelnen Individuen handeln oder denken): Dieses Volk wird nicht von einer zentralen Macht (einer Regierung, einem Königreich o. Ä.) in die Verbannung geschickt, sondern von einer externen (fremden) politischen Macht etwa in die Sklaverei verschleppt. Aufgrund dieser Erfahrung werden die Juden nach der bekannten jiddischen Redensart selbst den goles schlepn. So lernten sie Textzeilen frühzeitig als Zufluchtsorte kennen, wie in dem beliebten Kinderlied Oyfn Pripetshik von Mark Warshawsky, in dem ein Rabbi kleinen Kindern das hebräische Alphabet (alef-beys) lehrt, zu hören ist:

      Zet-sche kinderlech /Ir wet, kinder, elter wern /Wet ir alein farschtejn /wifln in di ojses lign trern, un wifl gewejn! //Zet-sche kinderlech /As ir wet, kinder, dem goles schlepn /ojsgemutschet zajn /Zolt ir fun die ojses kojech schepn, kukt in zej arajn!

       (Kinder ihr werdet älter werden /und von selbst verstehen, /wie viel Tränen in den Buchstaben sind /und wie viel Weinen! //Kinder, wenn ihr dann die Bürde des Exils tragt /und euch damit quält, /sollt ihr Kraft aus den Buchstaben schöpfen, /schaut in sie hinein!).

      Wie Yosef Hayim Yerushalmi treffend beschreibt, ist das Gefühl der galut (ursprünglich) vor allem auf das Jahr 70 zurückzuführen und weniger dem Verlust des Landes als dem des Tempels geschuldet.20 Doch diese Dialektik ist nicht nur in der Geschichte zu finden, sondern auch in den Worten selbst.

      Die Schriften wurden in die Diaspora mitgenommen bzw. in ihr fortgeschrieben. Es gibt noch immer eine laschon hakodesch, eine heilige Sprache – deren Heiligkeit viel stärker ist, als die des Heiligen Landes. Das Gelobte Land wurde zu einer Metapher in der Diaspora – in Boyarins Worten „palimpsestiert“, wodurch verschiedene „Jerusalem(e)“ wie Toledo, Thessaloniki, Frankfurt oder Prag entstanden.21 In Los gauchos judios, dem Klassiker der jüdisch-lateinamerikanischen Literatur, wird diese Umdeutung des Gelobten Landes mit den konkreten Lebensumständen in Verbindung gebracht: „Eben darum vergaß ich, als Rabbi Zadock Kahn mir unsere Auswanderung