Rabbinen aus Babylon, dass Zion bei ihnen weilte, denn entscheidend war nicht die Geographie, sondern das Wissen – weswegen sich das „Zentrum“ mit den jüdischen Gelehrten immer wieder auf den Weg begab: nach Italien, Sepharad, Vilnius – den Zentren der jüdischen Weisheit folgend.23
Für Simon Dubnow ist nicht die Zerstreuung das Außergewöhnliche der jüdischen Geschichte, sondern das erkennbare Weiterleben der jüdischen Kultur innerhalb so verschiedener Kulturen – trotz jahrhundertelanger Wanderschaft ohne verlässlichen Schutz oder Unterstützung von Seiten eines „Heimatlandes“ oder eines anderweitigen Verbündeten.24 In der Diaspora und insbesondere nach der Verlagerung und Umdeutung des religiösen Zentrums vom Tempel in die Schrift bleibt das Hebräische als heilige Sprache der Texte erhalten, während die jüdischen Gemeinden ihre (Alltags-)Sprachen in Anlehnung an die der jeweiligen Mehrheitsgesellschaften weiterentwickeln (Judeospanisch, Jiddisch, Judeoarabisch). Diese „Mischsprachen“ enthalten viele Elemente aus dem Hebräischen und werden oft in otijot, hebräischen Buchstaben, geschrieben – wodurch sie mit der heiligen Sprache auch materiell verbunden bleiben.
Die Dialektik von Diaspora bzw. galut als Fluch und Segen zugleich ist nicht nur in der Geschichte zu finden. Auch in den Quellen wird sie thematisiert – etwa in der mystischen Interpretation von Jizchak Luria, der in der Diaspora die Aufgabe sieht, die seit der Erschaffung der Welt verstreuten göttlichen Funken (nitzotzot) aufzulesen und wieder einzusammeln. Diese dialektische Kraft wohnt sogar den Worten selbst inne: Aus galut und golah erschallt – zumindest akustisch – hitgalut – die Offenbarung. Dies deckt sich mit der jüdischen Narrative, der zufolge die Offenbarung am Berg Sinai und nicht in Israel stattgefunden hat – außerhalb des Zentrums, am Rande. Wir wissen nicht einmal genau wo.
Diese Ansicht teilt auch Daniel Boyarin, der den Talmud (und sein Studium) als „das portative Vaterland“ darstellt, der wunderbaren Metapher von Heinrich Heine folgend.
Das portative Vaterland
Die Erinnerung an die Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem ist eine noch offene Wunde im kulturellen Gedächtnis des Judentums. Aufgrund des Gebots Zachor! (Erinnere dich!)25 gibt es einen Trauertag im jüdischen Kalender, der an diese Zerstörung und andere Katastrophen, wie die Vertreibung aus Spanien 1492, erinnern soll. Tischa b’Aw, der 9. des Monats Aw, ist so auf verschiedenste Weise mit der schmerzhaften Erfahrung des Exils verbunden.
Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels entsteht ein neues Konzept des Judentums. Rabbi Jochanan ben Zakkai bat den römischen Kaiser der Überlieferung nach um Erlaubnis, in Jabne eine Schule für das Studium der Tora eröffnen zu dürfen, die niemals geschlossen werden sollte – nicht einmal für den Wiederaufbau des Tempels. Sigmund Freud erkannte die Bedeutung dieser Geste: Seitdem – so schrieb er einmal – konnte das unsichtbare Gebäude des Judentums erbaut werden.26 Von diesem Moment an begann das jüdische Volk in der Schrift zu leben.
Heinrich Heine hat wie kein anderer intuitiv die Funktion erfasst, die dieser gemeinsame Ort für ein im Exil verstreutes Volk erfüllt:
Ein Buch ist ihr Vaterland, ihr Besitz, ihr Herrscher, ihr Glück und ihr Unglück. Sie leben in den Marken dieses Buches, hier üben sie ihr Bürgerrecht, hier kann man sie nicht wegjagen, nicht verachten, hier sind sie stark und bewunderungswürdig […].27 Für die wandernden Juden, für das Volk des Buches war das Buch das ‚portative Vaterland‘.28
Selbst Gott lebt seit dieser Zeit in der Schrift, „jener prekären Heimstatt“, wie Emmanuel Lévinas sie nannte, denn im Talmud steht geschrieben: „Seitdem die Heiligkeit zerstört wurde, hat der Heilige in dieser Welt nur noch die vier Ellen der Halacha.“29
So gewann die Schrift eine vielgestaltige und komplexe Bedeutung in der jüdischen Kultur und Geschichte und wurde zu einer Art metaphorischem Territorium, in dem das am ha’sefer,„das Volk des Buches“, zu Hause war. Dieses Territorium, ein eigener, abgesteckter und geschützter Raum, bot einen Ort, dem man sich zugehörig fühlte. So formuliert es auch Heine in einem Brief an Eduard Gans, in dem er über die persönliche Widmung seines letzten Buches schreibt: „Ich habe diesen Namen (sc. Rahel Varnhagen), der mir so lieb ist, an den Eingangspfosten meines Buches angeschlagen, und es ist mir dadurch wöhnlicher und gesicherter geworden. Auch unsere Bücher müssen ihre Mesuse haben.“30
Neben dem metaphorischen Territorium der Schrift existiert ein zusätzlicher geographischer Raum, der für die jüdische Narrative konstitutiv ist: die Wüste. Sie ist der Tradition nach nicht leer, sondern voller Wörter; sie ist der Raum, in dem das Gesetz übergeben wurde. „In dieser Wüste kann nichts wachsen, außer Wörter“, bemerkt Edmond Jabès, zeigt dabei die Verbindung von Sand und Wort auf und beschreibt die Suche nach diesem Exilterritorium: „Ich habe ein Land verlassen, das nicht das meine war, für ein anderes, das auch nicht das meine war. Ich habe mich geflüchtet in eine Vokabel aus Tinte – und hatte das Buch als Raum.“31
Das Buch als fürsorgliches Heimatland, das weder Visum noch Reisepass verlangt, ein sicherer Ort zum Leben. In den Worten von George Steiner:
Wie eine Schnecke, die Fühler zur Bedrohung hin ausgerichtet, hat der Jude das Haus des Textes auf dem Rücken getragen. Welches andere Domizil ist ihm gewährt worden? […]32 Der Text ist das Zuhause, jeder Kommentar eine Heimkehr.33
Schabbat: Die Zeit bewohnen
Extra-territoriales Denken und diasporisches Leben prägen die jüdische Tradition von Anbeginn: der Vertreibung aus dem Garten Eden. Im Grunde ist der gesamte Tanach ein Reisebericht. Dies steht im Gesetz geschrieben und ist sogar im ersten Gebot präsent: „Ich [bin] dein Gott, der dich aus dem Lande Mizrajim [Ägypten] geführt und aus der Sklaverei befreit hat.“ (2. Buch Mose 20,2) Weitere Auswanderungen prägen die jüdische Geschichte, etwa jene nach Babylon oder in das Römische Reich. Ein festes (geographisches) Zentrum existiert nicht mehr, der Hebräer befindet sich stets auf dem Weg, und der Weg ist die Halacha, das jüdische Gesetz (das Wort halacha leitet sich vom Verb lalechet,„gehen“, ab).
Diese Tradition begründet somit einen Gegenentwurf zu der Sakralisierung des Territoriums, die mit dem Bilderverbot einhergeht: Die Bindung soll nicht zu einem Land, sondern zum Gesetz bestehen. Die Sakralisierung des Landes – der Geographien, der Materie – folgt aus jüdischer Perspektive einer ähnlichen Logik wie der Götzendienst. Lévinas schreibt dazu:
Jedes Wort ist entwurzelt. […] Das Heidentum ist die Verwurzelung […]. Das Aufkommen der Schrift ist nicht die Unterordnung des Geistes unter den Buchstaben, sondern der Ersatz des Bodens durch den Buchstaben. Der Geist ist im Buchstaben frei und gefesselt an die Wurzel.34
In den letzten Versen der Tora wird der Tod Moses erzählt. Die Rabbinen haben oft darüber diskutiert, wer diese Zeilen verfasst haben mag, denn gemäß der Tradition hat Moses selbst die Tora geschrieben. Einige deuten es so: Er hat sie geschrieben – mit seinen Tränen.35
Und Gott sprach zu ihm: Das ist das Land, das ich Abraham, Isaak und Jakob zugeschworen habe, indem ich sprach: Deinen Nachkommen werde ich es geben. Ich habe es dich mit deinen Augen sehen lassen, aber du sollst nicht nach dort hinübergehen. Und Mose, der Knecht des Herrn, starb dort im Land Moab nach dem Wort Gottes. Und er begrub ihn im Tal, im Land Moab, Bet-Peor gegenüber; und niemand kennt sein Grab bis auf diesen Tag. (5. Buch Mose 34, 4–6).
Dass der Ort des Grabes nicht genannt wird, ist – ebenso wie das Bilderverbot im Judentum – keinem Zufall geschuldet. Roberto Blatt vermutet, dass das Judentum die Spuren jener bedeutenden Schauplätze, an denen der Bund mit Gott geschlossen wurde, verwischt hat, um die Sakralisierung von bestimmten Räumen zu verhindern – vom konkreten Ort im Sinai, wo die Tora übergeben wurde, bis hin zu Moses Grab. Räumlich greifbare heilige Stätten, an denen die Gefahr der Pilgerschaft bestünde, existieren nicht.36
Mit Derrida gesprochen: „Die ‚Vertriebenen‘, die Exilierten, die Deportierten, die Entwurzelten, die Nomaden haben zwei Seufzer, zwei Nostalgien gemeinsam: ihre Toten und ihre Sprache.“37 Beide Dimensionen sind für die Juden im Buch stets gegenwärtig: Von der heiligen Sprache der Tora bis zu den yizker-bikher (Gedächtnis-Bücher)