(Geburtsland) zu verstehen, sondern als ein Versprechen. Das Gelobte Land ist nicht gleich Vaterland.
Das vermutete „Zentrum“, das als Pendant zu „Diaspora“ fungiert, ist indes kein politisches, denn seit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 existierte kein an ein Land bzw. eine Stadt gebundenes religiöses oder politisches Zentrum mehr. Mit der Niederschlagung des Aufstands unter der Führung von Simon bar Kochba im Jahr 135 wurde das Versprechen bzw. die Hoffnung, in das „Land der Verheißung“ zurückzukehren, auf das messianische Zeitalter verschoben und somit von der politischen auf die religiöse Ebene verlagert.2 Parallel entwickelte sich eine Reihe von Praktiken und Ritualen, die die Opfergabe im Tempel ersetzen sollten, im Wesentlichen das Studium und das Ausführen der mitzwot. Auch die Gebete wurden in Anlehnung an die einstigen Opferzeiten von nun an dreimal am Tag verrichtet (schacharit, mincha und maariv). Die Schrift (der Tanach, etwas später der Talmud) wurde als neues „geographisches Zentrum“ gedeutet – eine Besonderheit, die das Judentum durch die Weisheit der Gelehrten in eine Buchstabengeographie gründen lässt.
In diesem Sinne hat Daniel Boyarin sein letztes Buch A Travelling Homeland: The Babylonian Talmud as Diaspora genannt (siehe auch den Beitrag von Daniel Boyarin, S. 59).3 Darin zeigt er, wie beide Talmudausgaben (Jerusalemer Talmud und Babylonischer Talmud) eine Diaspora für die jeweils andere bildet. Die Dynamik zwischen dem Zentrum und den Rändern variiert stetig: Während die Gelehrten in Babylon behaupteten, Zion sei aufgrund der dort versammelten Weisheit in Babylon zu finden, bekräftigten andere Stimmen weiterhin die Zentralität Jerusalems.
„Diaspora“ wird häufig als galut, golah oder tfutzot israel (die Zerstreuung des Volkes Israels) ins Hebräische zurückübersetzt. Die Komplexität der Sprachen und Narrative erfordert ein umfassendes Verständnis und eine Berücksichtigung verschiedener Konnotationen, historischer Sichtweisen und Gegendarstellungen, die aufgrund der Dialektik der Diaspora untrennbar miteinander verbunden sind.
Die „Entleerung“ eines Begriffes
Seit den 1970er Jahren wird in den Sozial- und Kulturwissenschaften ein zunehmend inflationärer Gebrauch des Diaspora-Begriffs festgestellt.4 Typologisierende Definitionen5 führen zu einer Missachtung der „diasporischen Bedingtheit“6 und gehen mit einem mangelnden Verständnis des theoretischen, historischen und kulturellen Hintergrunds des Diaspora-Begriffs einher. Dies bewirkt nicht nur seine Banalisierung, sondern nimmt ihm das Potential, dominante Ordnungen – wie das gegenwärtig in erster Linie territoriale Konzept des Nationalstaats – in Frage zu stellen. Durch die Ausdehnung auf alle möglichen Gemeinschaften, die sich außerhalb eines als ursprünglich vorgestellten Territoriums (oder „Zentrums“) befinden, wird die Originalität der Idee (die in der Möglichkeit einer extra-territorialen Kultur besteht, basierend auf der „Heimat in der Schrift“ bzw. der Sprache) neutralisiert. Stattdessen bedeutet sie die Rückkehr zu einem geographischen Denken, das die Idee einer kulturellen Gemeinschaft an die Logik eines fest umrissenen physischen Raums bindet. Entgegen der kulturwissenschaftlichen Intention verstärkt die Anwendung des Konzepts die territoriale Dimension eher, als sie kritisch zu hinterfragen, und trägt so zur Festigung eines dichotomen Denkens bei, indem sie als Rahmen den Gegensatz Zentrum/Peripherie setzt.
Die jüdische Geschichte des Konzepts Diaspora erlaubt hingegen, sie von einem anderen Ausgangspunkt zu denken. Schon bevor der Begriff zu einer „Mode“ wurde, hatten sich einige wenige Gruppen seiner bedient, um ihre Situation zu beschreiben – darunter Afro-Amerikaner, Armenier (nach dem Genozid) sowie Sinti und Roma. Ihnen ist die Erfahrung einer nichtterritorial gebundenen Kultur sowie das Überleben nach einer traumatischen Geschichte gemeinsam. Doch vielleicht liegt der Schlüssel zu einem besseren Verständnis des Diaspora-Begriffs nicht nur in der Geographie, sondern auch und insbesondere in der Sprache: Am Anfang stand eine Übersetzung.
Die Septuaginta
Das Wort Diaspora taucht erstmals in der Septuaginta auf, der ältesten, in Alexandrien verfassten griechischen Übersetzung der Tora. Der Legende nach, die im Aristeas-Brief bzw. im Meg 9a, Sof 1,8 festgehalten ist, wurde diese von 72 aus Jerusalem berufenen Rabbinen (je sechs aus den zwölf Stämmen Israels) in 72 Tagen angefertigt (einige Versionen erwähnen 70 Rabbinen, daher Septuaginta, andere wiederum nur fünf – für die fünf Bücher Mose). Es wird erzählt, dass die Gelehrten unabhängig voneinander zu einem identischen Übersetzungsergebnis gelangten, was wiederum als rhetorische Stilfigur zur Legitimation der Übertragung des heiligen Textes gedeutet werden kann.
Obwohl die Entstehung der Septuaginta historisch bis dato nicht exakt zu rekonstruieren ist (siehe auch den Beitrag von Stefan Schreiner, S. 147), handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich um eine kollektive Übersetzung: Die stilistischen Eigenheiten innerhalb des Textes sowie die in den einzelnen Passagen erkennbar unterschiedlichen Hebräisch- und Griechischkenntnisse lassen vermuten, dass der Text von mehreren Autoren verfasst wurde – vielleicht sogar zu verschiedenen Zeiten.
Die Septuaginta zählt zu den größten kulturellen Leistungen des hellenistischen Judentums. Im Rahmen dieser bemerkenswerten Übersetzung übertrugen jüdische Gelehrte den gesamten Tanach in die damalige Weltsprache. Sie ist zugleich als eine Transgression, eine Überschreitung des damaligen jüdischen Horizonts zu verstehen, als ein Umdenken und Umformulieren in eine andere Vorstellungswelt. Mit ihr fand das hellenistische Judentum seine Heimat in der hellenistischen Diaspora. Die Septuaginta leistete einen enormen Beitrag zur Verbreitung des Monotheismus, des Judentums und der Bibel (biblia – nochmals ein griechischer Begriff), als diese zusammen mit Jerusalem unterzugehen drohte. Dass im Griechischen das Nomen biblia gewählt wurde, womit eher „das Buch“ als „die Lehre“ (wie in der Tora) gemeint ist, erinnert an den Aristeas-Brief, der die Entstehung der Septuaginta auf die Anregung des königlichen Bibliothekars Demetrios von Phaleron zurückführt.
Das monumentale Werk ist selbst ein Diaspora-Phänomen – von Diaspora-Juden in Ägypten vollbracht. Der heilige Text wird nicht nur in eine andere Sprache, sondern auch in eine andere Zeit und Kultur übertragen: Er bleibt gleich und gleichzeitig verschieden. So wird z. B. aus Tora nomos (das Gesetz) – die hebräische (Be-)Deutung von Lehre oder Weisung ging dabei verloren, was u. a. Konsequenzen für die christliche Theologie und deren Verständnis vom Judentum als starrer Gesetzesreligion nach sich zog. Aus dem Versuch, tohu-wa-bohu (Chaos, Durcheinander) auf Griechisch zu denken, wurde etwa ahótatos kai akataskeuástos, was so viel wie „unbearbeitet“ (also noch nicht in den Erschaffungsprozess der Welt eingegangen) oder „unstrukturiert“ bedeutet – und somit nicht sichtbar bzw. visuell wahrnehmbar ist, da nur das Strukturierte, das Konturen aufweist, visuell zugänglich ist.
Die jüdischen Gelehrten, welche die Septuaginta erarbeiteten, gingen kreativ und souverän mit der griechischen Sprache um und entwarfen zahlreiche Neologismen – (Wort-) Neubildungen und -prägungen, die es in der Gräzität zuvor noch nicht gegeben hatte. Sie universalisierten die jüdische Bibel. Die griechischen Intellektuellen faszinierte vor allem der strenge Monotheismus ohne ein anthropomorphes Kultbild, da sich hierbei Berührungspunkte mit Ansätzen und Ideen der griechischen Philosophie ergaben – etwa bei Xenophanes, der die Geistigkeit und Unanschaulichkeit des Göttlichen hervorhob.
Erst als die Christen im griechisch-römischen Kulturkreis die Septuaginta zu ihrer Bibel erklärten, verlor sie an Bedeutung in der jüdischen Welt. Ohne die Übernahme durch das Christentum wäre sie vielleicht zu der maßgebenden jüdischen Bibel avanciert, samt ihrer hellenistisch-liberalen Interpretation des Judentums.
Galut, gerusch, tfutzot (Exil, Vertreibung, Zerstreuung)
Wie bereits erwähnt, existierte das Wort Diaspora vor der Septuaginta nicht im Altgriechischen und stellte eine (vielleicht die interessanteste) Neuprägung der Übersetzer dar: die Substantivierung des Verbes diaspeíro (zerstreuen bzw. säen). Gegenwärtig werden Diskussionen darüber geführt, ob dieser Neologismus damals positiv oder negativ konnotiert war und die Zerstreuung auch neues Leben mit sich bringen sollte, denn einige Philologen erkennen darin eine Verbindung zu dem Wort Samen.7
Aktuellere Abhandlungen trennen Diaspora