Ordnungen folgt. Allerdings ist sie im Umfang größer. Teilweise wiederholt sie die Gesetze der Mischna, führt aber noch viele weitere Bestimmungen an, die mitunter im Widerspruch zur Mischna stehen. Gewöhnlich wird die Tosefta als der größere Horizont der Mischna gesehen, mitunter auch als Vorstufe des Talmuds.
Nach der klassischen Definition bilden die Mischna und ihre Kommentierung, d. h. die Gemara, zusammen den Talmud. Gemara bedeutet „Abschluss“. Die Kombination von Mischna und Gemara als Talmud gibt es in zwei Versionen. Im 4.–5. Jahrhundert erschien sie in Palästina als Jerusalemer Talmud72 – etwa zwei Jahrhunderte später erschien unter der Redaktorenschaft der im persischen Sassaniden-Reich lebenden Rabbinen eine erweiterte Version der Gemara zusammen mit der Mischna: der Babylonische Talmud.73 Er enthält viele Auslegungen aus den Midraschim, zitiert aus der Tosefta und führt ganze Argumentationsstränge aus dem Jerusalemer Talmud an. Zugleich gehen seine Diskussionen weit darüber hinaus. Jacob Neusner vergleicht ihn mit einer Enzyklopädie, die alles rabbinische Wissen umfassen sollte.
Aus der schriftlichen Tora in ihrer Einbettung in den Tanach und der Kombination mit den Midraschim, ebenso wie der mündlichen Tora, der Mischna, in der Kombination mit der Gemara – sowie den Überschneidungen zwischen beiden, Midraschim und Talmud, ist ein gigantischer Diskurs geworden – der Jam ha-Talmud, der „talmudische Ozean“. Er entfaltete sich als Talmud-Tora in den Lehrhäusern und Talmud-Akademien, als eine unendliche Auseinandersetzung mit der Bedeutung der heiligen Schriften und ihrer Anwendung. Zugleich schuf er eine Textgemeinschaft, deren diskursiver Stil über die Jahrhunderte die Leser einlud, sich ihr anzuschließen und mitzudiskutieren.74 Empfohlen wird das Talmudstudium zu zweit (Chevruta), um durch die Diskussion über den Text zu tieferen Erkenntnissen zu gelangen. Anfänger, die erstmals in die rabbinische Literatur eintauchen, haben Mühe, nicht unterzugehen. Und doch sind sie meist fasziniert und erleben, wie sie, indem sie die Diskussion zu verstehen versuchen, unverhofft an den Argumenten teilhaben und den Prozess des Talmud-Tora mit ihren eigenen Erwägungen fortsetzen.
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1bShab 31a.
2Rabbi Eleasar sagte: Die Tora ist größtenteils schriftlich und kleinstenteils mündlich verliehen worden, denn es heißt: „Ich schreibe ihm das meiste meines Gesetzes, wie fremd sind sie geachtet“ (Hos 8,12). Rabbi Jochanan sagte: Größtenteils mündlich und kleinstenteils schriftlich, denn es heißt: „Denn durch den Mund dieser Worte“ (Ex 34,27) – bGit. 60b.
3Lischnot (pa’al-Form) = wiederholen; leschanot (pi’el-Form) = verändern.
4Deutsche Übersetzung der Mischna, 6 Bde, übersetzt mit Erklärungen, Basel 31986.
5mBer 1,1.
6Neusner, Jacob: Introduction to Rabbinic Literature, New York; London 1994, S. 5 ff.
7Empfehlenswerte Einführungen in die rabbinische Literatur: Stemberger, Günther: Einleitung in Talmud und Midrasch, München 92011; sowie die Werke von Jacob Neusner, darunter Four Stages of Rabbinic Judaism, London 1999.
8Ordnung Nesikin. Aufgrund des anderen Stils wird vermutet, dass Pirke Avot erst nachträglich in die Mischna eingefügt wurde.
9mAv 1,1.
10Schechina leitet sich von sch–kh–n = „wohnen“ ab. Der Begriff wird auch als Ausdruck für die „Präsenz Gottes“ verwendet.
11„Es wird gelehrt: Rabbi Simon bar Jochai sagte: Komm und sieh, wie beliebt die Israeliten sind beim Heiligen, er ist gesegnet, denn wohin sie auch verbannt wurden, war die Schechina immer bei ihnen. Wurden sie nach Ägypten verbannt, war die Schechina bei ihnen, denn es heißt: ‚Ich habe mich deinem Vaterhause offenbart, als sie in Ägypten waren. (1. Sam. 2,27)‘ Wurden sie nach Babylonien verbannt, war die Schechina bei ihnen, denn es heißt: ‚Um euretwillen wurde ich nach Babel entsendet. (Jes 43,14)‘ Wurden sie nach Edom [Rom] verbannt, war die Schechina bei ihnen, denn es heißt: ‚Wer kommt da aus Edom, in hochroten Kleidern aus Bozra? Usw.‘ Und auch wenn sie dereinst erlöst werden, wird die Schechina bei ihnen sein, denn es heißt: ‚JHWH, dein Gott wird mit deinen Gefangenen zurückkehren. (Dtn 30,3)‘ Es heißt nicht [er wird die Gefangenen] zurückbringen, sondern [mit ihnen] zurückkehren, und dies lehrt, dass der Heilige, er ist gesegnet, mit ihnen aus dem Exil zurückkehren wird.“ – bMeg 29a, siehe auch Jer. Talmud, Taan. 64a.
12Esr, 7,5.
13Esr 7,6.
14Esr 7,11.
15Siehe Friedman, Richard Elliot: Wer schrieb die Bibel? So entstand das alte Testament, Wien; Darmstadt 1989.
16Ein jüdischer Tora-Kommentar, der die historisch-kritische Methode der Bibelwissenschaft berücksichtigt, ist The Jewish Publication Society (Hg.): JPS Torah Commentary Project, Philadelphia 1989: Genesis, Nahum M. Sarna, 1989; Exodus, Nahum M. Sarna, 1991; Leviticus, Baruch A. Levine, 1989; Numbers, Jacob Milgrom 1990; Deuteronomy, Jeffrey H. Tigay 1996.
17Ein markantes Beispiel sind die unterschiedlichen Bestimmungen zur Freilassung der Sklaven. Nach Exodus (21,2) und Deuteronomium (15,12) sollen die hebräischen Sklaven nach sieben Jahren freigelassen werden. In Levitikus (25,10 ff.) hingegen nur alle 50 Jahre. Ein anderes Beispiel ist die unterschiedliche Einstellung zum Fleischverzehr. Nach den Bestimmungen in Levitikus (Kap. 17) musste alles Fleisch, das gegessen wurde, zuvor Gott dargebracht werden. In Deuteronomium ist das nicht erforderlich (12,15). Nur das repräsentative Opfer musste noch im Tempel dargebracht werden (12,14). Aufschlussreich über die unterschiedlichen Bestimmungen sind auch die folgenden anthropologischen Studien: Douglas, Mary: Leviticus as Literature, New York 2000; dies.: In the Wilderness: The Doctrine of Defilement in the Book of Numbers, New York 2004.
18Siehe Dtn 17,14–20; 20,1–9 sowie Ri 8,22–23; 9, 6 ff; 21,25; 1 Sam Kap. 8.
19Num 16,1–18, 32.
20Num 12.
21Zur modernen kritischen Bibelwissenschaft trugen erheblich auch Juden bei – nicht zuletzt Baruch Spinoza, der von manchen als ihr Begründer angesehen wird, vor allem aber die Vertreter der „Wissenschaft des Judentums“ im 19. Jahrhundert.
22Esr 7,10.
23Neh 8,1–3.
24weha-lewiim mewinim et-ha’am la-tora.
25Neh 8,7.
26Neh 8,8.
27Z. B.: „Und sprachen zu Moses: Rede du mit uns und wir wollen hören, und nicht möge Gott mit uns reden, dass wir nicht sterben.“ (Ex 20,16) „Als nun Moses kam und dem Volke erzählte alle Worte des Ewigen und alle die Rechte, da antwortete das ganze Volk mit einer Stimme und sprachen: Alle Worte, die der Ewige geredet, wollen wir tun!“ (Ex 24,3) „Und nahm das Buch des Bundes (sefer ha-brit), und las es vor den Ohren des Volkes, und sie sprachen: Alles, was der Ewige geredet, wollen wir tun und hören (na’asse wenischma)“ (Ex 24,7).
28Neh 10,1.
29„Was soll mir die Menge eurer Opfer? spricht der Ewige. Ich bin satt der Ganzopfer von Widdern und des Fettes der Masttiere, und das Blut der Farren, und Lämmer und Böcke begehre ich nicht.“ – Jes 1,11.
30Zum Beispiel heißt es gegen das Tora-Gebot, an Jom Kipur zu fasten: „Nennst du das ein Fasten und einen Tag, der dem Ewigen gefällt? Vielmehr ist dies ein Fasten, wie ich es wünsche: Auflösen ruchloser Fesseln, die Seile des Jochholzes freigeben, Unterdrückte frei entlassen, und dass du jedes Jochholz zerbrichst; ferner dass du dem Hungrigen dein Brot brichst und Arme, Obdachlose in dein Haus führst, wenn du eine Nackten siehst, ihn bekleidest und vor deinem Bruder dich nicht verbirgst.“ Jes 58,5–7.
31Ez, Kap. 40 ff.
32Zu den Diskussionen siehe bShab 30b und mYad 3,5.
33Empfehlenswert Herford, Robert Travers: Die Pharisäer, Köln 1961 sowie Baeck, Leo: Die Pharisäer. Ein Kapitel jüdischer Geschichte, Berlin 1934.
34Stemberger, Günter (Hg. und Übers.): Mekhilta de-Rabbi Jischmael. Ein früher Midrasch zum Buch Exodus, Berlin 2010.
35Wünsche, August (Hg. und Übers.): Midrasch